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Rote Kreuze

Sasha Filipenko

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257610109 , 288 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Als die Unterschrift gesetzt ist, sagt die Frau (die so sonderbar ist wie alle Immobilienmakler):

»Gratulation! Ich freue mich sehr für Sie. Schauen Sie doch nicht so finster, Sie haben von mir das bestmögliche Preis-Leistungs-Verhältnis gekriegt!«

Die Maklerin zieht einen Lippenstift aus ihrer Handtasche und spricht mit ihrer tiefen Stimme weiter, ohne auf die nunmehr ehemalige Besitzerin zu achten:

»Für uns beide ist das eine echte Win-win-Situation! Mit wem werden Sie eigentlich hier wohnen?«

»Mit meiner Tochter«, antworte ich und blicke hinaus auf den Kindergarten im Hof.

»Wie alt?«

»Drei Monate.«

»Wie süß! Eine junge Familie! Glauben Sie mir, Sie werden mir noch dankbar sein.«

»Wofür?«

»Was heißt, wofür? Ich hab’s Ihnen doch erzählt! Sind Sie aber vergesslich. Auf Ihrem Stockwerk gibt es nur eine einzige Nachbarin. Und die ist neunzig Jahre alt, alleinstehend und leidet an Alzheimer. Das ist doch der absolute Jackpot! Freunden Sie sich mit ihr an, dann gehört die Wohnung Ihnen.«

»Danke!«, sage ich, ohne sie anzusehen.

 

Die Wohnung ist leer. Kein Stuhl, kein Bett, kein Tisch. Ich packe meine Tasche aus. Die ehemalige Besitzerin kann sich nicht losreißen. Sie steht am Fenster, hängt Erinnerungen nach und glättet, als würde sie Wäsche bügeln, die Fältchen im Lack des Fensterbretts. Sinnlos, ich mache hier sowieso alles neu.

»Bleiben Sie heute allein hier?«

»Ja.«

»Und wo werden Sie schlafen?«

»Ich habe einen Schlafsack und einen Wasserkocher …«

»Wenn Sie möchten, kommen Sie mit zu mir.«

»Nein.«

 

Die Maklerin kapituliert. Ich bin zu jung für sie. Sie hakt die frühere Besitzerin unter und verlässt mit ihr die Wohnung. Ich bleibe allein zurück und setze mich auf den Boden.

Das war’s, denke ich, Vorhang. Ein Leben ist zu Ende – und ein anderes Leben beginnt. Eine transzendente Null. Mit meinen dreißig Jahren bin ich nun ein Mensch mit entzweigerissenem Schicksal. Ich darf es noch einmal versuchen. Was ist dagegen schon einzuwenden. Selbstmord ist nicht mein Ding; außerdem habe ich jetzt eine Tochter.

Ich weiß kaum noch, woran ich an jenem Abend gedacht habe. Nebel im Kopf, und Staub, der in einem Lichtstrahl tanzt. Mehr ist hier nicht. Eine Stunde Pause, Atemholen vor dem nächsten Versuch zu leben. Die erste Geschichte vorbei, die zweite in den Startlöchern. Ein Abgrund, und eine Hängebrücke in Form eines Menschen. Wenn du ans andere Ufer willst, wirf dich selbst hinüber. Das Glück hat immer eine Vergangenheit, sagt meine Mutter gern, und jeder Kummer hat eine Zukunft.

Wie ein schiffbrüchiger Seefahrer beschließe ich, die unbekannte Insel, auf der ich gestrandet bin, zu erkunden. Minsk. Warum bin ich überhaupt hierhergezogen? In ein Bruderland zwar, aber doch ist alles fremd. Die Rote Kirche und der breite Boulevard, das Denkmal für einen kahlen Dichter und dieser Sarkophag, der Palast der Republik. Lauter Gebäude und keine einzige Erinnerung. Fremde Fenster, unbekannte Gesichter. Was ist das überhaupt für ein Land? Was weiß ich über die Stadt? Nichts. Meine Mutter hat hier nochmals geheiratet.

 

Vor dem Hauseingang liegt ein schlampiger Stapel aussortierter Bücher. Ich sehe mir eines an. Jakub Kolas. Neues Land.

Wieder im dritten Stock angelangt, bemerke ich an meiner Wohnungstür ein rotes Kreuz. Nicht groß, aber knallrot. Wahrscheinlich ein Scherz der Maklerin, denke ich. Ich lasse meine Einkaufstaschen beim Lift stehen und beginne, das Kreuz abzurubbeln, da sagt hinter mir eine Stimme:

»Was machen Sie da?«

»Ich mache die Tür sauber«, sage ich, ohne mich umzudrehen.

»Warum?«

»Irgendein Vollidiot hat hier ein Kreuz aufgemalt.«

»Schön, Sie kennenzulernen! Der Vollidiot bin ich. Bei mir ist kürzlich Alzheimer diagnostiziert worden. Bisher leidet nur mein Kurzzeitgedächtnis – manchmal weiß ich nicht mehr, was vor ein paar Minuten passiert ist, aber der Doktor sagt, sehr bald wird auch das Sprechen beeinträchtigt sein. Ich beginne, Wörter zu vergessen, und irgendwann kann ich dann nicht mehr gehen. Schöne Aussichten, nicht wahr? Die Kreuze habe ich hier aufgemalt, damit ich nach Hause finde. Obwohl, wie’s aussieht, werde ich bald auch nicht mehr wissen, was sie bedeuten.«

»Das tut mir leid.« Ich bemühe mich, höf‌lich zu sein.

»Schon gut. In meinem Fall hätte es nicht anders enden können!«

»Wieso?«

»Weil Gott Angst hat vor mir. Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu.«

 

Die Nachbarin stützt sich auf ihren Gehstock und atmet schwer. Ich schweige. Das Letzte, worauf ich jetzt Lust habe, ist über Gott zu reden. Ich wünsche der Alten eine geruhsame Nacht, schnappe meine Einkaufstaschen und will in meine Wohnung hinein.

»Wollen Sie sich denn nicht mal vorstellen?«

»Alexander, ich heiße Alexander.«

»Kehren Sie Damen eigentlich immer den Rücken zu, wenn Sie mit ihnen reden?«

»Verzeihung. Ich heiße Sascha, und das hier ist mein Gesicht. Auf Wiedersehen!«, antworte ich mit einem aufgesetzten Lächeln.

»Wie ich heiße, interessiert Sie also nicht?«

 

Nein. Interessiert mich nicht. Mann, was für eine aufdringliche Hexe! Was will die überhaupt von mir? Ich muss nach Hause. Die Augen schließen und endlich aufwachen. Die letzten dreißig Jahre hat dieser Trick gut funktioniert. Alles Schlimme, die furchtbarsten Dinge sind mir immer nur im Traum passiert und nie in Wirklichkeit. Ich war glücklich und kannte keinen Kummer, froh war ich und kannte kein Leid. Die letzten Monate sind einfach zu schwer gewesen. Verdammt, ich will einfach nur meine Ruhe!

»Ich heiße Tatjana … Tatjana … Tatjana … och, jetzt fällt mir der Vatersname nicht mehr ein … Kleiner Scherz! Ich bin Tatjana Alexejewna. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, junger Mann mit schlechten Manieren!«

»Mich nicht.«

»Ach nein?«

»Na ja – es ist mir einfach egal. Tut mir leid, ich habe einen schweren Tag hinter …«

»Das verstehe ich! Alle haben schwere Tage. Schwere Monate, schwere Leben …«

»War sehr nett, Sie kennenzulernen, Tatjana Alexejewna. Alles, alles Gute Ihnen! Glück, Erfolg und Wohlergehen«, sage ich sarkastisch.

»Wissen Sie, bei mir hat das alles erst begonnen …«

 

Ach komm, das nervt jetzt aber wirklich! Zuerst die Maklerin, jetzt diese Alte. Mir ist nicht nach reden, und die Nachbarin merkt das, eindeutig. Mehr noch, sie spürt, dass ich jede noch so kurze Pause zur Flucht nutzen würde, und redet, ohne Luft zu holen.

 

»Ja, das wird alles recht schnell zu Ende gehen … In einem Monat oder zwei … Sehr bald wird von mir, von meinem Schicksal, nichts übrig sein. Denn Gott verwischt seine Spuren.«

»Tut mir sehr leid …«, sage ich unwillig.

»Ja, das haben Sie schon gesagt. Ich vergesse schnell, aber nicht so schnell! Zeigen Sie mir, wie Sie sich hier eingerichtet haben?«

»Ehrlich gesagt, habe ich noch keine Möbel außer Klo und Kühlschrank – da gibt’s nichts zu sehen. Vielleicht in einer Woche oder zwei?«

»Möchten Sie sehen, wie ich wohne?«

»Na ja, es ist schon etwas spät …«

»Ach, nur keine Scheu, Sascha, kommen Sie herein!«

 

Begeistert bin ich nicht gerade, aber ich füge mich ihrem Wunsch. Schließlich hat es wenig Sinn, mit einer Verrückten zu diskutieren. Die Nachbarin stößt die Tür auf, und ich stehe in ihrer Wohnung.

Es sieht aus wie in einem Atelier. Überall Leinwände. Nichts Besonderes. Diese Art von Malerei hab ich noch nie gemocht. Konturlose, blasse Töne. In jedem Viereck Ausweglosigkeit. Gesichtslose Menschen, farblose Städte. Allerdings verstehe ich wenig von Kunst.

Mitten im Wohnzimmer hängt ein dunkelgraues Quadrat. »Fangen Sie ein neues Bild an?«, frage ich, um das Schweigen zu durchbrechen.

»Was meinen Sie?«

»Diese Leinwand hier.«

»Nein, die ist fertig.«

»Ach ja? Und was stellt das dar?«

»Mein Leben.«

Pffff. Da haben wir’s. Trauerfanfaren und Tragödienpathos. Alte Leute neigen dazu, ihr eigenes Unglück überzubewerten. Mein Leben … Reicht mir ein Taschentuch, nein, gleich zwei! Die Alten glauben immer, nur sie haben es schwer gehabt. Fast rutscht mir heraus, dass ich in puncto Unglück so manchem etwas voraushabe, aber ich beherrsche mich gerade noch rechtzeitig.

»Man hat mir natürlich erzählt, dass Minsk eine graue Stadt ist, aber doch nicht so grau!«

»In diesem Bild kommt Minsk fast nicht vor.«

»Ich würde sagen, in diesem Bild kommt überhaupt fast nichts vor.«

»Denken Sie, es stimmt nicht, wenn ich sage, das ist mein Leben?«

»Gar nichts denke ich …«

»Sie denken, da gehe ich nach Hause, tue niemandem etwas zuleide und dann das: Auf einmal steht da diese wahnsinnige Alte und will mir ihr Schicksal klagen?«

»Wollen Sie das denn?«

»Interessiert Sie das denn gar nicht?«

»Wenn ich ganz ehrlich bin, nein.«

»Schade. Ich würde Ihnen gern eine unglaubliche Geschichte erzählen. Eigentlich keine Geschichte, sondern eine Biographie der Angst. Ich möchte Ihnen erzählen, wie das Grauen einen Menschen unvermittelt packt und sein ganzes Leben verändert.«

»Sehr beeindruckend, aber vielleicht ein andermal?«

»Sie glauben mir nicht? Na gut … Wissen Sie, vor gut einem Jahr stand ich genau hier, wo Sie jetzt stehen. Am...