dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Nach Mattias

Peter Zantingh

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257610161 , 240 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Amber


Eine Woche nach Mattias wurde sein Fahrrad geliefert. Der Bote war ein ganz Aufgeweckter, der schon losredete, als ich noch gar nicht alle Türschlösser geöffnet hatte. Vor dem Eingang schlitzte er den Pappkarton an den Rändern auf und bimmelte zweimal mit der Klingel.

Ich stellte das Fahrrad in den Flur und ließ die Türschlösser wieder zuschnappen.

In den Tagen darauf musste ich mich an dem Fahrrad vorbeizwängen, wenn ich nach draußen wollte. Auf die Frage von Besuchern, Leuten, die meine Sachen gewaschen hatten oder wieder mal eine Topfpflanze mitnahmen, antwortete ich, das sei Mattias’ neues Fahrrad. Da fragte dann keiner weiter.

Konnte ich sie bitten, gar nichts mehr zu fragen?

 

Trauer ist wie ein Schatten. Der richtet sich nach dem Stand der Sonne, fällt morgens anders als abends. Der lehnt dunkel und geduldig an der Wand, streckt sich in voller Länge über den Asphalt aus oder zeichnet hinter deinem Rücken die Silhouette einer graziös drohenden Schlange auf den zu lange nicht gemähten Rasen. In diesen ersten Wochen wusste ich manchmal nicht, ob ich meinen eigenen Schatten sah oder den von jemandem, der sich mit den besten Absichten dicht neben mich gestellt hatte.

 

Ich brachte das Fahrrad ins Wohnzimmer.

 

Was ich all die Jahre gemeint hatte, wenn ich sagte, dass ich gut allein sein könne, war, dass ich gut allein sein konnte, solange das mit einer annehmbaren Endlichkeit verknüpft war. Solange das Alleinsein durch sein Kommen wieder aufgehoben werden konnte, er mit seiner ewig hastigen Fröhlichkeit »Hi« rufen würde. Aber das begriff ich erst, als ich das Ticken eines sich drehenden Rads in einer ansonsten totenstillen Wohnung vernahm. Da wurde mir klar, dass nicht nur er selbst ein für alle Mal nicht mehr da sein würde, sondern auch die Geräuschkulisse, mit der er mich jahrelang umgeben hatte: sein Sein in einem anderen Zimmer, seine fieberhafte Suche nach einem Kleidungsstück, das unauf‌findbar war und doch irgendwo sein musste, und vor allem die Songs, von denen er ganz erfüllt sein konnte und die er in allen Räumen hörte, als lockte er sie mit; auch, dass er mitsang und ich nicht bat, ob es vielleicht etwas leiser ginge, und ich nicht sagte, wenn sie mir nicht gefielen, weil ich wusste, dass ich ihm damit alles vermiesen konnte, und da war ich sehr vorsichtig.

 

Beim Saubermachen stieß ich ein Buch, in dem er gelesen hatte, von der Fensterbank. Auf dem Fußboden fiel das Lesezeichen heraus. Darüber habe ich eine Stunde lang geheult. Weil ich nun nicht mehr wusste, auf welcher Seite er gewesen war.

Im Bett horchte ich auf den leckenden Heizkörper, wie das Wasser in den Behälter tropf‌te, den ich daruntergestellt hatte.

Sara kam vorbei, wir ließen uns was zu essen bringen und guckten uns mit hochgezogenen Knien Filme an, die sie vorab sorgfältig gescreent hatte.

Regelmäßig ließ ich seine Mutter herein, wenn sie im Regen vor der Tür stand. Wir redeten über Mattias. Sie erzählte von der Freiwilligenarbeit, mit der sie angefangen hatte, und gebrauchte Wörter wie Trost und Befriedigung, Wörter aus Selbsthilfebüchern, Wörter, die, wenn sie ganz aufrichtig gemeint sein müssten, selten bedeuten, was sie bedeuten sollten.

 

Und dann war es heute Morgen plötzlich komisch: ein Fahrrad im Wohnzimmer. Reglose Pedale, warme Speichen, Reifen auf Laminat.

Das Fahrrad musste vor die Tür, und ich auch. Ich ließ es in einem Ständer zurück und löste mich aus dem Knäuel von Häuserblocks in Richtung Park.

Vielleicht zog mich die Erinnerung an einen Abend vor ein paar Jahren dorthin, als wir sahen, wie auf dem freien Feld in der Mitte vom Park ein Fesselballon aufstieg. Eltern mit Kind auf dem Arm standen darum herum. Die Sonne ging unter, der Ballon dagegen stieg mit drei Leuten an Bord auf: Sie zogen sich an den letzten Bahnen Sonnenlicht hoch, während sich unten auf der Erde die kleinen Kinder schier die Arme auswinkten, und kurz darauf war es schon fast unmöglich, in den Silhouetten im Korb noch normale Menschen zu erkennen, die auch in Sandalen auf der Wiese gestanden hatten.

Doch jetzt war alles anders. Der Himmel war grau, und Regenschleier hingen zwischen den Bäumen. Die Laute erreichten mich eher als die Bilder: ein schriller Schrei, der aufbrandete, erstarb und sich wiederholte.

*

Ich sehe zuerst den Pitbull. Wie er Anlauf nimmt und an einer älteren Frau hochspringt, die ein kleines weißes Hündchen im Arm hält.

Der Pitbull kommt am Boden auf und springt noch einmal. Senkrecht in die Höhe. Er schlägt die Zähne in das Handgelenk der Frau, direkt unterhalb vom Ärmel ihrer grünen Windjacke, und bleibt einen Augenblick daran hängen. Mit Erfolg: Die Frau lässt das Hündchen fallen. Es stürzt und wird, kaum unten aufgeschlagen, sofort von dem Viech geschnappt. Das wirft den Kopf hin und her. Und sein Schwanz peitscht wie ein Gummiknüppel.

Die Frau tritt nach dem straff gespannten Rücken des Pitbulls, tritt und kreischt, aber ihre nassen Wanderschuhe richten nichts aus. Ihre Brille fällt zu Boden.

Ich renne jetzt. Bin fast da.

Sie schreit und schreit. Wortlose Laute in einem weitgehend leeren Park. Es drückt mir auf die Schläfen. Sie sieht nun erschöpft und hilf‌los zu, beißt sich auf die Unterlippe und weint.

Ihr Hündchen rührt sich nicht mehr.

Und dann ist Schluss. Kurz bevor ich nahe genug bin, um etwas tun zu können, greift eine große Hand nach dem Halsband des Pitbulls. Der hängt mit den Vorderpfoten in der Luft, den Kopf zwar immer noch nach unten gerichtet, aber nicht mehr mit dem Hündchen im Maul, das erst noch ein paar Sekunden lang totenstill liegen bleibt und dann auf zerschrammten Pfoten außer Reichweite seines Angreifers kriecht.

Es dauert lange, bis ich sehe, wessen Hand das ist. Quentin trägt eine schwarze Laufhose und einen blauen Sweater, mit einer Halterung fürs Handy am rechten Oberarm, dessen Display aufleuchtet, als er mit der freien Hand auf die Fernbedienung auf halber Höhe der weißen Strippe drückt. Er zieht die Ohrstöpsel raus. Sie hängen aus seinem Kragen und hüpfen bei jedem wütenden Versuch des Hundes, sich loszureißen, unter seinem Kinn hin und her.

Quentin beugt sich über das Viech, fasst das Halsband noch fester und schaut auf. Sieht mich an.

»He«, sage ich.

Er scheint auch eine Weile zu brauchen. Dann sagt er kühl und gelassen: »He, Amber.«

 

Ein paar Monate vor seinem Tod kam Mattias einmal erst spätabends nach Hause. Ich lag schon im Bett. Er kam ins Schlafzimmer, zog sich ungelenk den rotweiß gestreif‌ten Pullover über den Kopf und erzählte laut. Er habe eine Idee: Er werde ein Café aufmachen, mit Quentin zusammen. Im Zentrum oder irgendwo in Strandnähe. Sie hätten den ganzen Nachmittag und Abend darüber geredet. Das würde was werden. Das sei genau das, was er wirklich echt wolle.

Ich hörte mir an, wie ein Wort das andere zu überholen versuchte, und fragte mich, was denn an all den Sachen, die er schon machte, auszusetzen war. Er konnte sich immer noch für die gerade gehörten Newcomerbands begeistern, die er auf eine Popbühne bringen würde, und genauso sehr auch für die Schüler, denen er während des Rests der Woche Nachhilfeunterricht gab, weil sie zu ihm aufschauten und seinen Erzählungen lauschten und weil er auf die Weise wenigstens noch etwas damit anfing, dass er vier Jahre Geschichte studiert hatte. Das lief alles gut. Natürlich lief das alles gut, denn es war Mattias.

»Muss das denn auch noch sein?«, fragte ich.

»Wieso auch noch?« Er zog seine Socken aus, machte ein Knäuel daraus und beförderte sie mit Überkopfwurf zum weiter entfernten Wäschekorb. Auf der Schwelle zwischen Flur und Schlafzimmer blieb er an den Türrahmen gelehnt stehen.

»Neben allem, was du jetzt schon machst«, sagte ich.

»Jetzt tust du wieder so, als sei es schlecht, dass ich was Neues ausprobiere.«

»Aber vielleicht solltest du dich für eine Sache entscheiden.«

»Ich entscheide mich hierfür«, sagte er. »Quent und ich ziehen einen Laden auf.« Er machte einen Sprung rückwärts, trabte ins Wohnzimmer und holte seinen Laptop. Ich richtete mich auf und sah, dass er sich im Flur auf die Waschmaschine gesetzt hatte. Er hatte die Trommeltür geöffnet, um die Füße darauf abzustützen. Die Augen aufs Display gerichtet, sagte er: »Das wird voll cool.«

Was sollte ich davon halten? Im Gaststättengewerbe überlebte die Hälfte der Betriebe keine drei Jahre, hatte ich irgendwo gelesen, und die Wahrscheinlichkeit pleitezugehen war bei unerfahrenen Abenteurern, die nach zehn, zwölf Bierchen beschlossen hatten, dass es »voll cool« werden würde, mit Sicherheit noch viel größer.

Andererseits: Es war Mattias.

Da spielte noch was anderes mit. In letzter Zeit verstummte er manchmal plötzlich, wenn wir zusammen waren. Wenn ich nachhakte, kam nichts, als verlasse ihn schon beim Gedanken daran, etwas formulieren zu müssen, der Mut. Mir war manchmal bange vor diesem Winkel seiner Gedanken, aus dem er zwar immer zurückkehrte, jedoch in einer anderen Stimmung, mit anderen Worten für dieselben Dinge. Und was ich auch tat: Es half nichts.

Ich stieg aus dem Bett und zog ein T-Shirt über. Der Fußboden war kalt.

»Mattias?«

»Ja.« Er schaute nicht von seinem Bildschirm auf.

»Ist zwischen uns noch alles in Ordnung?«

Jetzt schaute er doch auf. »Wie meinst du das?«

Ich schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus. Ein...