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Hunkeler in der Wildnis - Der zehnte Fall

Hansjörg Schneider

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257610062 , 224 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Peter Hunkeler, ehemaliger Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, nun im Ruhestand lebend, saß vor dem Kiosk von Erkan Kaya beim Eingang zum Kannenfeldpark und blätterte in einer Zeitung. Es war ein Sonntag im Juni, ein schöner Sommermorgen, die Sonne schien ihm angenehm ins Gesicht. Vor sich hatte er eine Tasse Kaffee, die ihm Frau Koller gebracht hatte.

Eigentlich war es schon lange kein bloßer Kiosk mehr, sondern ein richtiges Straßencafé. Ein Dutzend Tischchen, einige unter einem Vordach. Ein kleiner Anbau mit weiteren sechs Tischchen, für kalte, regnerische Tage. Man konnte essen hier, belegte Brote und heiße Würstchen. Dies alles hatte sich Erkan geduldig und schlau erkämpft in den letzten Jahren, den Behörden und den umliegenden Wirtschaften zum Trotz, die Einspruch gegen die drohende Konkurrenz erhoben. Aber Erkan hatte sich durchgesetzt. Und an schönen Tagen wie heute war hier reger Betrieb.

Hunkeler nahm einen Schluck aus der Tasse, zufrieden mit sich und der Welt. Er hatte in seiner Wohnung in der Mittleren Straße übernachtet, da es ihm in seinem Haus im Elsass öde geworden war. Ab und an brauchte er die Stadt, die Häuser ringsum, die Menschen, auch wenn sie noch in ihren Betten lagen und schliefen, wie jetzt. Dann schien die Welt aufgeräumt zu sein und zu glänzen.

Er sah zwei junge Typen vorbeirennen, in beachtlichem Tempo. Sie rannten wie fast alle Jogger im Gegenuhrzeigersinn. Eigentlich seltsam, dachte Hunkeler, dass alle in die gleiche Richtung rannten. Vorschrift war es ja nicht. Auch er war stets im Gegenuhrzeigersinn gerannt, fiel ihm ein, als er noch gerannt war. Aber das war vorbei. Heute ging er nur noch. Der Rücken, das Knie, der Fuß.

Er sah aus den Augenwinkeln, wie ein älterer Mann durch den pompösen Parkeingang kam. Dieser Eingang erinnerte als Einziges noch daran, dass hier ein städtischer Friedhof gewesen war. Ein Gottesacker, wie man in Basel sagte. In diesem Acker Gottes lagen wohl noch immer ein paar tausend Totengerippe drei Meter tief in der Erde. Ein tröstlicher Gedanke, fand Hunkeler. Unten ruhen die Toten, oben über den Kiesweg rennen die Lebenden. Und schon mittags würde es hier wimmeln von Eltern und ihren Kindern, die zwischen den immergrünen Trauergewächsen wie Buchs, Thuja und Eibe Fangen spielten.

Der ältere Mann trug Schirmmütze und Sonnenbrille. Er hieß Otto. Ein Rentner, der in einem der Wohnblocks nebenan wohnte, allein. Er kam jeden Morgen, um ein bisschen zu plaudern. Hunkeler hasste das, am Morgen mochte er nicht reden. Er blätterte in seiner Zeitung und hörte, wie Otto ein Ginger-Ale mit Zitronenschnitz bestellte. Er tat das jeden Morgen. Er setzte sich nie, sondern blieb immer an der Theke und schwatzte über irgendwas.

Aber an diesem Morgen mochte auch Frau Koller nicht. Sie half Erkan im Kiosk, die Brötchen mit Butter zu bestreichen und mit Ei und Büchsenspargeln zu belegen.

Hunkeler las einen Artikel über eine spanische Stadt, in der ein junger Mann mit einem Auto mehrere Menschen totgefahren hatte. Eigentlich wollte er nichts wissen davon, der Morgen war zu schön. Aber dieser Angriff auf unschuldige Menschen war von einer Zielstrebigkeit und Brutalität, die ihn wütend machten.

»Was regst du dich auf?«, fragte Otto.

»Ich rege mich nicht auf«, behauptete Hunkeler.

»Doch, du hast etwas gemurmelt, etwas Böses.«

»Es ist wegen des Attentats. Was stellen sich diese Typen vor? Glauben sie, sie können die Welt durch Mord verbessern?«

»Das sind Verrückte«, sagte Otto und zündete sich eine Zigarette an. »Die muss man totschießen.«

Hunkeler legte die Zeitung weg.

»Ich frage mich«, sagte er, »wie sie so weit kommen. Junge Kerle, die etwas lernen sollten. Wie man arbeitet, wie man lebt. Stattdessen lernen sie, wie man möglichst viele Menschen umbringt.«

»Das ist der Islam«, sagte Otto, »das ist eine Religion der Gewalt.«

»Red keinen Unsinn«, sagte Erkan, der nach vorn gekommen war. »Ich bin Muslim. Bin ich Gewalt?«

»Ach so«, sagte Otto. »Nein, du natürlich nicht.«

»Auch meine Mutter nicht. Und mein Vater nicht. Und meine Schwestern nicht und meine Brüder nicht. Also rede keinen solchen Unsinn, bitte.«

»Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt, es tut mir ja leid. Ich meine nicht dich.«

»Wen denn? Bin ich Muslim oder nicht? Bin ich dein Freund und Nachbar oder nicht?«

»Natürlich bist du mein Freund und Nachbar. Ich bin halt ein alter Schwätzer.«

»Stimmt«, sagte Erkan.

 

Draußen auf der offenen Wiese segelte ein großer Vogel heran, schwarzweiß gezeichnet, mit langem, rötlichem Schnabel. Er streckte die Beine vor, die riesigen Schwingen wie ein bremsendes Segel ausgespannt, und setzte auf. Es war Willy, der Storch, der im Basler Zoo daheim war und jeden Morgen einen Ausflug hierher unternahm, um von Frau Koller gefüttert zu werden. Gewöhnliche Wurst und Schinken verschmähte er. Er fraß nur Salami, und zwar fein geschnitten.

»Willy ist da«, meldete Otto.

»Der kann warten«, sagte Frau Koller, »ich habe bloß zwei Hände.«

Der Storch stakste zögernd heran. Er war recht zutraulich zu Menschen. Bloß Kinder mochte er nicht. Und er war hartnäckig. Er blieb so lange, bis er ein paar Scheiben Salami bekam.

Vom Turm der nahen Johanneskirche war eine Glocke zu hören. Weitere, tiefere setzten ein, ein sonntäglich friedliches Klingen und Dröhnen. Auch das Geläut der Antoniuskirche schwang mit, vom mächtigen Betonturm herunter, den man im Viertel Seelensilo nannte. Basel schien nur noch aus Glocken zu bestehen. Hunkeler liebte das. Er war zwar schon lange aus der Kirche ausgetreten. Aber er mochte es, wenn das tönende Erz die Luft über der Stadt erzittern ließ. Zu Ehren Gottes des Allmächtigen vielleicht? Zu Ehren der Muttergottes? Oder schlicht zur Feier des Sonntags?

Das Haus, in dem er aufgewachsen war, kam ihm in den Sinn. Der Kiesweg um das Haus herum, den er immer am Samstagabend rechen musste, um die Kiesel zu lockern und schön über den Weg zu verteilen. Er begriff den Sinn dieser Arbeit nie, er hatte schon damals viel für organische Unordnung übrig. Aber wenn er den Rechen durch die Kiesel zog und Druck aufsetzte, damit die Steinchen aus dem festen Boden gerissen wurden, überkam ihn jeweils die Genugtuung, dass mit dieser Arbeit alles in Ordnung gebracht wurde. Dann setzten im nahen Städtchen die Glocken ein. Erst die hohe, noch kaum wahrnehmbar. Dann die tiefen, die weiter trugen. Zuletzt der Bass, der das ganze Tal ausfüllte bis zu den bewaldeten Hügeln hinauf.

 

Er spürte, wie ihn jemand an der Schulter anfasste und schüttelte. Er hörte eine Stimme, es war die von Otto.

»Nicht schlafen, Hunkeler. Da ruft jemand um Hilfe.«

Er war also eingenickt, und dies schon am Morgen. Es war die Erinnerung, die ihn eingelullt hatte.

Otto deutete nach links zum Weg hinüber, wo eine alte schwarzgekleidete Frau heranhastete.

»Polizei, Polizei!«, rief sie.

»Nichts da«, murmelte Hunkeler, »ich bin nicht mehr bei der Polizei.«

»Einmal Polizei, immer Polizei«, sagte Otto. »Schluss mit dem Nickerchen. Es gibt Arbeit.«

Hunkeler trank seine Tasse leer, sehr langsam. Er sah, wie Willy seine Schwingen ausbreitete, abhob und fortflog, ein Bild, schien ihm, von dem er geträumt hatte. Er überlegte, ob er aufstehen und weggehen sollte. Aber er blieb sitzen. Gemeinsam schauten sie zu, wie die Frau herankam und vor ihnen stehen blieb. Sie hatte ein Bündel Sauerampfer in der rechten Hand. Mit der linken fasste sie sich an die Brust. Sie war so außer Atem, dass sie erst kein Wort herausbekam. Dann redete sie in einer Sprache, die Hunkeler nicht verstand.

»Sie sagt«, übersetzte Erkan aus dem Türkischen, »da unten liege ein toter Mann, dem der Schädel eingeschlagen wurde. An die Mauer gelehnt. Dort, wo das Gras wächst. Sie hat dort Sauerampfer gesammelt für den Salat. Sie ist sehr erschrocken. Sie sagt, das seien gottlose Menschen, die so etwas machen. Sie heißt Frau Dogan. Ihr Sohn arbeitet im Tankstellen-Shop beim unteren Ausgang des Parks.«

Die Frau ergriff Hunkelers Rechte und schüttelte sie mit aller Kraft. »Danke, danke«, sagte sie, »danke, danke.« Dann ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

»Du kümmerst dich um sie«, sagte Hunkeler. »Und ruf die Polizei an.«

»Natürlich«, sagte Erkan.

»Warum nicht du?«, fragte Otto. »Du bist doch Polizist.«

»So ein Schwachsinn«, sagte Hunkeler, »an einem so schönen Sonntagmorgen.«

Vom Turm der Antoniuskirche klang die letzte Glocke aus. Dann war Stille, bis aus dem Kiosk Erkans Stimme zu hören war, der die Polizei anrief.

 

Hunkeler ging über den Kiesweg, der den Park kreisförmig umrundete. Dorther war die Frau gekommen. An der alten Friedhofsmauer stand der Schuppen, in dem die Stadtgärtner ihr Gerät verstauten. Daneben war ein Kiesplatz, wo manchmal Boule gespielt wurde. Er kannte die Spieler, er hatte ein paarmal mitgespielt. Da er keine eigenen Kugeln besaß, wurde er nicht ernst genommen. Aber als Gast war er akzeptiert.

Obschon er wusste, dass ihm wenig Zeit blieb, ging er langsam. Er war ja in Rente, die Sache betraf ihn nicht. Aber einfach wegrennen konnte er auch nicht.

Er kam auf den Kiesplatz und sah an der alten Friedhofsmauer, die aus hellem Kalkstein gebaut war, eine Gestalt liegen. Es war Heinrich Schmidinger, ein Österreicher aus Wien, der in jungen Jahren nach Basel gekommen war, um erst bei der National-Zeitung und später bei der Basler Zeitung Literatur- und Theaterkritiker zu werden. Vor einigen Jahren war er...