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Der Mitmacher - Ein Komplex

Friedrich Dürrenmatt

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257608489 , 352 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Nachwort


Vorwort zum Nachwort


Irgend jemand bemerkte einmal, meine Nachworte würden immer länger. Ich habe vor, das längste zu schreiben, das ich je schrieb, nicht etwa, um irgend jemandem recht zu geben, sondern aus der Einsicht heraus, es sei eigentlich unmöglich, eine halbwegs brauchbare Theaterpartitur herzustellen. Das Wesentliche, was ein Theaterstück ausmacht, kann doch nicht aufgezeichnet werden: der Text ist ein Resultat innerer Vorgänge, nicht mehr, der erbärmliche Klavierauszug einer Partitur. Werktreue ist eine Utopie. Die Meinung, auf der Bühne müsse nur gespielt werden, was geschrieben worden sei, so einfach sei die Sache, geht schnell verloren, versucht man, sich nach ihr zu richten. Als ob man überhaupt schreiben könne, was man gespielt sehen möchte; ist es doch schon unsinnig, mehr als einige Hinweise für das Bühnenbild geben zu wollen. Ein Bühnenbild verändert sich je nach Bühne, Bühnenbildner und Regisseur, ebenso wie sich die Gänge und die Stellungen der Schauspieler je nach Bühne, Bühnenbildner und Regisseur verändern; mehr noch: sogar der Text selbst nimmt einen anderen Sinn an für das Publikum, je nach der politischen Situation nämlich, in die sich das Publikum verstrickt sieht. Was aber für das Spiel gilt, trifft auch für das Schreiben zu. Im Moment des Schreibens ist sich der Autor bewußt, was er schreibt. Er vergißt nur, daß er der Unbekannte ist, der da schreibt, daß er von Voraussetzungen ausgeht, die bloß er kennt: von seinem eigenen Denken. Und das tut er nicht aus Fahrlässigkeit: Der Autor muß die Voraussetzungen seines Schreibens vergessen, um überhaupt schreiben zu können – und einmal geschrieben, macht sich das Geschriebene selbständig, verbindet sich mit den Vorstellungen des Publikums, noch schlimmer, mit jenen der Kritiker, die wiederum das Publikum beeinflussen. Das Folgende ist daher nicht als Verteidigung eines durchgefallenen Stücks konzipiert – als solche wäre es lächerlich, der beste Kommentar macht ein Stück nicht besser –, es stellt den gedanklichen Hintergrund dar, der zu diesem Stück führte, an Hand des Stücks. Jedes Stück ist ein Resultat verschiedener Gedankenprozesse, ästhetischer, philosophischer, religiöser vielleicht, persönlicher sicher, unbewußter – zugegeben, von Wunden stammend, die nicht vernarbt sind – durchaus möglich, aber auch politischer usw., schließlich sprachlicher: Von dieser Überlegung her wurde ein Nachwort zum Mitmacher fällig; als Dokumentation einer Theaterarbeit, die ich – wenn auch unvollständig – in Mannheim zu leisten versuchte; nicht für Kritiker, nicht für Zuschauer, sondern für Schauspieler geschrieben: für imaginäre Schauspieler. Ich pflege mit offenen Karten zu inszenieren, aber nicht nach einem vorbereiteten Plan, sondern nach einer vorerst nur vagen Idee; die Einfälle, wie denn diese Idee zu verwirklichen sei, liefert die Bühne: die Schauspieler verhelfen mir dazu. Nach diesem Prinzip inszenierte ich auch in Mannheim. Anderswo wären die Bedingungen andere gewesen. Daher sind die im Textbuch enthaltenen Regieanweisungen mehr als Hinweise denn als Unumgänglichkeiten zu lesen: als Rohregie; auch das Schreiben eines Stücks ist ja ohne diese Rohregie nicht möglich. Das Nachwort dagegen hat vorerst einen bühnenpraktischen Sinn, es ist als Ergänzung der Textpartitur zu begreifen, als Hilfe, hinter den Sinn des Ganzen zu kommen, hinter den Sinn eines Stücks, von dem viele behaupten, es stecke keiner dahinter. Ich bin mir bewußt, daß ich mich damit auf ein Abenteuer einlasse, das noch bedenklicher werden könnte als das Stück selbst. Denn man kann sich fragen, ob es überhaupt einen Sinn habe, nach dem Sinn eines Theaterstücks zu suchen, insofern nämlich, als angenommen werden darf, daß ein Theaterstück, bei dem man erst nachträglich einen Sinn findet, an sich schon mißraten sei, geht doch die Dramaturgie davon aus, das Dramatische beruhe auf Spannung. Dies einmal angenommen, genügt auch die Spannung; ist die Spannung nicht vorhanden, nützt auch der hinter dem Drama versteckte Sinn nichts. Er ist nur insofern vorhanden, als er unmittelbar im Spannungsfeld des Dramas aufleuchtet; alles Versteckte, Verdunkelte, Nachträgliche, alles Mittelbare also, fällt nicht ins Gewicht, und so ist auch jedes Fragen nach dem Sinn, insofern er nicht offen zutage liegt, zweitrangig: Literatur über Theater und, insoweit Theater etwas Literarisches ist, Literatur über Literatur. Das zugegeben, hat es keinen Sinn, in Klagen darüber auszubrechen, unsere Zeit sei schon längst keine produktive mehr, sie sei eine der Literatur über Literatur, eine, die einen Sinn hinter der Literatur braucht, statt sich einfach an ihr zu vergnügen, und die, scheint ihr dieser Sinn nicht mehr zeitgemäß, sich einen zeitgemäßen konstruiert. Unsere Zeit hat etwas Alexandrinisches, Historisierendes, sie neigt zu formalen Spielen, zu Formentwicklungen, die sie aus hypothetischen historischen Stilen kalkuliert. Produktivität dagegen setzt Naivität voraus; diese Naivität so spät nach dem Sündenfall zu verlangen, scheint vorerst bloß auf eine unerlaubte Einfalt hinzuweisen oder auf den Glauben, es gebe noch ein Allgemeines, auf das sich jeder Sinn projizieren lasse wie auf eine Leinwand: auf einen allgemeinen Glauben oder auf eine allgemeine Ideologie usw. Für den aber, dem das Allgemeine nicht mehr einleuchtet oder nicht mehr allgemein ausdrückbar ist (als subjektiver Glaube), wird die Naivität, ohne die auch er nicht produktiv sein kann, eine Fiktion, mit deren Hilfe er produziert: seine Naivität wird nur im Spiel hergestellt, stellt nur Spiele her. Oder Gleichnisse. Sein Denken ist darum etwas Bescheidenes im Vergleich zum Anspruch, den ein Denker anmeldet, der im Bewußtsein, das Allgemeine zu verkünden, die Wahrheit, aus vollen Backen bläst. Wer diesen Tönen mißtraut, versucht, sich über sich selbst klarzuwerden, mehr nicht: sein Denken stellt bloß noch ein Abenteuer im Subjektiven dar. Damit ist aber auch seine künstlerische Produktion in Frage gestellt, ja, je mehr er sich als Einzelgänger herausstellt, um so mehr wird seine Kunst unmöglich, ein Paradox, weil sie trotzdem geschieht: gerade deshalb muß sie geschehen. Da aber heute der Einzelgänger immer mehr den Avantgardisten ablöst, wird die Kunst, die der Einzelgänger noch treibt, nur für ihn, nicht für die Allgemeinheit exemplarisch, sie wird zur Selbstdarstellung und gewinnt nur dann an Interesse, wenn diese Kunst, diese Komödie, diese Malerei, diese Partitur usw. von etwas zeugt, das nur noch in einem Kunstwerk zu manifestieren ist. Das Individuelle kann sich nur im Individuellen dokumentieren; es vermag nicht mehr als ein Hinweis darauf zu sein, daß es hinter dem Dokumentierten noch einen Sinn gibt. Das Allgemeine ist nur zu ahnen. Dadurch wird das Denken über die Kunst zur Spektralanalyse immer fernerer Sterne.

Bühne


Bedingungen und Vorschläge Sie kann realistisch oder nur andeutend gestaltet werden, nur einige Elemente verwendend, konkret oder abstrakt. Aber auch dem ›abstrakten Bühnenbild‹ sollte das ›reale Bühnenbild‹ zugrunde liegen, die Überlegung, wie denn der Ort der Handlung in Wirklichkeit aussehen müßte. Im Mitmacher liegt der fingierte Handlungsort unter der Erde. Ein unterirdischer Raum muß abgestützt werden: Die Betonpfeiler sind die erste Gegebenheit. Der Handlungsort kann nur durch einen Lift betreten werden: Der Liftschacht mit der Lifttüre ist die zweite Gegebenheit. Ferner: In diesen unterirdischen Raum wurde ein kleinerer Raum hineingebaut, der Kühlraum, die Arbeitsstätte, wo etwas aufbewahrt und wo etwas verarbeitet wird. Der Kühlraum mit der Kühlraumtür ist die dritte Bedingung. Die vierte: In diesem unterirdischen Raum wird nicht nur gearbeitet, jemand wohnt und schläft auch darin: die Wohnnische mit der Couch. Die fünfte Notwendigkeit: Die Ware, die verarbeitet wird, ist zwangsläufig in länglichen Kisten, Särgen nicht unähnlich, verstaut – wir brauchen bei diesem Metier mit Worten nicht allzu wählerisch umzugehen – und kommt in den Kühlraum; ist die Ware dann verarbeitet, hat sie sich aufgelöst, werden die leeren Kisten von Doc in den Hintergrund des Handlungsorts getragen; einige dieser Kisten können auch als Sitzgelegenheit verwendet werden, warum nicht, die Kisten sind in diesem Stück nun einmal wesentliche Spielrequisiten. Innerhalb dieses Rahmens ist zu arbeiten. Was jedoch die Erfindung Docs, den Nekrodialysator, betrifft, so ist er sicher jene Fiktion, die das Stück erst möglich, mir aber als Requisit auf der Bühne auch am meisten zu schaffen machte; Requisiten sind oft bösartig. Dramaturgisch stellt sich nämlich die Frage, ob diese Erfindung auf der Bühne zu zeigen sei, als eine Art technische Vulva wie in Zürich etwa, die sich schloß, wenn eine der Waren in sie hineinfuhr usw., oder ob sie nicht zu zeigen sei; eine Entscheidung, die, je nachdem wie sie fällt, auch den Text verändert. Ich meine jedoch, daß es besser sei, den Nekrodialysator nicht zu zeigen, sondern ihn im Innern des Kühlraums anzunehmen. Woraus denn eigentlich der Nekrodialysator besteht und wie er funktioniert, bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen, hörbar ist nur das ›Rauschen‹, das ernüchternd wirkt, an ein Klo denken läßt, absichtlich, es ist nicht zu leugnen, das Makabre ist dem Lächerlichen benachbart. Wahrscheinlich, kann ich mir vorstellen, ist der Nekrodialysator etwas höchst Primitives, eine Badewanne zum Beispiel, in die Doc eine rasch wirkende Säure gießt. Da jedoch nur ein kleiner...