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Schattennacht - Roman

Dean Koontz

 

Verlag Heyne, 2011

ISBN 9783641078508 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

20 (S. 134-135)

Das Zimmer, das direkt gegenüber vom Nordflur abging, trug die Nummer 14. An der Tür war ein einzelnes Schild befestigt, das nur einen Namen trug: JACOB. Eine Stehlampe neben einem Sessel, eine kleine Nachttischlampe und eine Neonleuchte an der Decke ersetzten das Tageslicht, das so trübe war, dass es kaum weiter reichte als bis zum Fensterbrett. Weil es hier nur ein einziges Bett gab, blieb genug Platz für einen kleinen, quadratischen Eichentisch, an dem Jacob saß.

Ich hatte ihn einige Male gesehen, aber nicht richtig kennengelernt. »Darf ich reinkommen?«, fragte ich. Er sagte nicht Ja, aber Nein sagte er auch nicht. Ich beschloss, sein Schweigen als Einladung zu interpretieren, und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch. Jacob war einer der wenigen Erwachsenen, die im Internat wohnten. Er war Mitte zwanzig. Die Bezeichnung der Krankheit, mit der er geboren worden war, kannte ich nicht, aber offenbar handelte es sich um eine Chromosomenabweichung.

Etwa einen Meter fünfzig groß, hatte er einen für den Körper etwas überdimensionierten Kopf, eine fliehende Stirn, tief sitzende Ohren und schwere, weiche Gesichtszüge. Einige dieser Eigenschaften wären eigentlich charakteristisch für das Down-Syndrom gewesen. Allerdings war sein Nasenrücken nicht flach, was ebenfalls ein Kennzeichen für dieses Syndrom gewesen wäre, und seine Augen waren nicht mandelförmig. Was ihm jedoch vor allem fehlte, war das vergnügte, freundliche Wesen, das praktisch alle Menschen mit Down-Syndrom auszeichnet. Statt mich anzulächeln, sah er mich überhaupt nicht an, und seine Miene blieb finster.

Uncharakteristisch war auch die starke Fehlbildung des Schädels, an dessen linker Seite wesentlich mehr Knochenmasse gewachsen war. Daher waren die Gesichtszüge nicht symmetrisch, sondern leicht aus dem Gleichgewicht geraten. Ein Auge war minimal tiefer als das andere, der linke Kiefer stärker als der rechte, die linke Schläfe konvex und die rechte mehr als üblich konkav. Stämmig, mit schweren Schultern und einem dicken Hals, saß Jacob gebeugt am Tisch und konzentrierte sich auf die Aufgabe, mit der er beschäftigt war. Seine Zunge, die zu dick aussah, ragte momentan ein Stück weit zwischen den Lippen hervor.

Er biss leicht darauf. Auf dem Tisch befanden sich zwei große Blöcke Zeichenpapier. Der eine lag zugeklappt rechts von ihm, der andere auf einem schräg gestellten Zeichenbrett. Diesen Block gebrauchte Jacob zum Zeichnen. In einem offenen Kästchen lag eine sauber geordnete Auswahl Bleistifte in verschiedenen Stärken und Härtegraden. Das aktuelle, fast vollendete Projekt war das Porträt einer umwerfend schönen Frau. Im Dreiviertelprofil dargestellt, blickte sie an der linken Schulter des Künstlers vorbei. Unweigerlich dachte ich an Quasimodo, den Glöckner von Notre-Dame, an seine tragische Hoffnung und seine unerwiderte Liebe.

»Du bist sehr begabt«, sagte ich, was stimmte. Jacob antwortete nicht. Obwohl seine Hände kurz und breit waren, führten die dicken Finger den Bleistift mit Geschick und höchster Präzision. »Mein Name ist Odd Thomas. Er zog die Zunge in den Mund zurück, bohrte sie sich in die Wange und presste die Lippen zusammen. »Ich wohne gerade im Gästehaus der Abtei.« Als ich mich im Zimmer umblickte, sah ich, dass die gut ein Dutzend gerahmten Bleistiftporträts, die an den Wänden hingen, alle dieselbe Frau darstellten. Manchmal lächelte oder lachte sie; meist sah sie nachdenklich, aber heiter aus.