dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Selige Witwen

Selige Witwen

Ingrid Noll

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257606898 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

2


Cora begann damit, probeweise kleine Skulpturen aus Ton zu modellieren, später wollte sie sich an Marmor heranwagen. Aber sie war unruhig und gereizt, so daß alles mißlang. Obwohl wir mindestens einmal in der Woche eine Tour ans Meer machten oder in der Nachbarschaft eine Ausstellung besuchten, lief sie mit Leichenbittermiene herum. – Bis eines Tages die Rede auf die alte Heimat kam.

Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl. Angeblich ging es Coras Großmutter schlecht; sie habe eine beginnende Lungenentzündung, die für eine über Achtzigjährige den Tod bedeuten könnte. Und Cora verstieg sich zu der Behauptung: »Außer dir ist sie der einzige Mensch, den ich …«, längere Pause, »… liebe.« Wir müßten sofort losfahren, verlangte sie, vielleicht sei dieser Besuch der letzte.

Wieso wir? fragte ich, es gehe einzig und allein um ihre Großmutter, denn ich hatte Gott sei Dank keine eigenen Verwandten mehr.

»Ich möchte ihr den letzten Wunsch erfüllen«, sagte Cora.

Halb neugierig, halb mißtrauisch hörte ich mir ihre Überlegungen an.

»Meine Oma hat drei Kinder und sechs Enkel. Also denk mal nach, Maja, was man sich auf seine alten Tage sehnlich wünscht? Urenkel natürlich.«

Ich war empört. Wollte Cora einer Greisin zuliebe sämtliche Prinzipien über Bord werfen und sich mal eben schwängern lassen? Sollte sie Dino einzig für diesen Zweck benutzt haben?

Doch Cora erriet meine Gedanken und schüttelte mißbilligend den Kopf: »Da liegst du voll daneben.«

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Béla sollte als Urenkel herhalten, mein kleiner Sohn einer Sterbenden untergejubelt werden wie weiland Jakob dem Isaak!

»Wie willst du ihr weismachen, daß du einen vierjährigen Jungen hast?« fragte ich ungehalten. »Sie ist doch noch bei Trost – oder?«

Cora war der Meinung, unterwegs werde uns schon noch eine plausible Begründung einfallen. Mir graute vor der langen Autofahrt. Béla hatte zwar noch nie von dieser Urgroßmutter gehört, aber die Welt war in seinem Alter voller Überraschungen; er hörte sich den Grund für unsere Reise ohne trotzige Einwände an. »Die Uroma wohnt bei Papa«, meinte er hoffnungsvoll, und mir fiel reichlich spät ein, daß er ja tatsächlich eine Urgroßmutter im Schwarzwald hatte.

So kam es zu jener Reise, die unser Leben verändern sollte.

 

Wie sich herausstellte, ließ sich Charlotte Schwab jedoch noch nicht so schnell beerben. In Darmstadt wurde uns die Tür von einem jungen Mann geöffnet, der strahlend wie ein Engel verkündete, die Oma sei fast wieder gesund. Es war Coras Vetter, den man mir bereits als Musterknaben geschildert hatte, weil er die Versorgung der alten Dame im Bedarfsfall gegen gute Bezahlung übernahm.

»Hör, Felix«, sagte Cora streng, »ich präsentiere ihr jetzt dieses Kind als Urenkel. Und wehe …«

Gemessenen Schritts traten wir ein, vorsichtshalber schon mal schwarz gekleidet, was gut aussah zu unserer gepflegten Sonnenbräune. Coras Großmutter trug einen grünen Jogginganzug, saß am Fenster, las mit Hilfe einer Lupe einen Brief und stieß dabei mit dem Fuß einen Schaukelstuhl an, in dem eine Schaufensterpuppe saß. Der Fernseher lief ohne Ton.

Die alte Frau begrüßte ihre Enkelin herzlich, reichte mir die Hand und stellte fest: »Das muß Maja sein! Wie reizend, daß Sie Ihren Kleinen mitbringen!«

»Nein, Oma, das ist mein Kind«, sagte Cora feierlich. »Ich dachte, es ist Zeit, endlich mit der Wahrheit herauszurücken.«

Trotz der vorausgegangenen Warnung wieherte Felix los, die Großmutter fiel ein, ich lachte schließlich mit. Béla wurde nach dem langen Stillsitzen wieder munter, fegte wie ein Irrwisch im Zimmer herum, warf einen Meißner Teller zu Boden und schwatzte in italienisch-deutschem Kauderwelsch auf die Puppe im Schaukelstuhl ein. Ich wußte genau, daß er noch eine Weile den Clown spielen würde, um dann todmüde in Tränen auszubrechen. Cora ärgerte sich.

 

An diesem denkwürdigen Tag lernte ich Felix näher kennen. Was Wunder, daß er mit seinem charmanten Diensteifer das Herz seiner Oma gestohlen hatte. Er himmelte auch Cora an, bettete den müden Béla aufs Sofa, kochte Tee, entkorkte eine Weinflasche und warf mir gelegentlich so treuherzige Blicke zu, daß ich nicht recht wußte, ob ich ihn nett oder zu brav finden sollte.

»Wollt ihr bei den Eltern oder bei Regine übernachten?« fragte die Großmutter. »Ich habe höchstens Platz für eine Person.«

Cora mochte weder bei Vater und Mutter in Heidelberg noch bei ihrer Tante schlafen, sie verzog das Gesicht.

»In unserer WG ist in den Semesterferien viel Platz«, sagte Felix. »Zwei Mitbewohner sind ausgeflogen, ihre Betten stehen leer, und für den Kleinen bauen wir ein Nest.«

Cora war einverstanden, ich wurde nicht gefragt.

Die Großmutter zog die Brauen hoch, musterte Enkelin und Enkel – und schließlich mich –, sagte aber nichts.

Bevor wir uns verabschiedeten, bot sie uns muffige Kekse und ein Balladenstündchen bei Kerzenlicht an. Als sie mit »Wild zuckt der Blitz. Im fahlen Lichte steht ein Turm …« begann, türmten wir.

 

Während wir hinter ihrem Vetter herfuhren und er uns nicht hören konnte, sagte Cora: »Meine Oma phantasiert, daß ich etwas mit diesem grünen Jungen anfangen will. Aber das hat nichts mit mir, sondern bloß mit ihren eigenen Ansprüchen zu tun, denn sie liebt Felix über alles.«

Ich nahm die Alte in Schutz, aber Cora lachte mich aus. Von wegen abgeklärt – ihre Großmutter besuche alle paar Tage einen Methusalem im Altersheim, und der sei ihr Lover. »Da kann man nur sagen je oller, um so doller

 

In der WG machte Felix sich abermals nützlich und durchforstete die Speisekammer der Gemeinschaftsküche, um uns in aller Eile ein warmes Essen zu kochen. Wir waren zwar bessere Pasta gewohnt, langten aber trotzdem zu. Nach einer Weile tauchte ein ebenso müder wie magerer Student namens Andy auf, aß zwei Portionen, ohne viel zu reden, und verzog sich wieder. Béla schlief schon längst auf dem schmuddeligen Lammfell eines Hundes, als Cora gegen Mitternacht nach einem Bett verlangte. Felix zeigte uns zwei leerstehende Zimmer; im einen stand ein Ehebett, im anderen lag eine Matratze. Unverzüglich trug ich mein Kind ins Doppelbett und legte mich daneben; es war mir völlig gleichgültig, wann, wo und wie Cora und Felix schliefen.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich erst spät und suchte verschlafen meinen Sohn. Béla saß mit Felix am Küchentisch und panschte in einer Schale mit Milch und Cornflakes herum, während ein struppiger Köter unterm Tisch die willkommene Beute aufleckte. Felix streckte mir bereitwillig eine Kakaotüte entgegen, aus der er selbst gerade getrunken hatte. Ich lehnte ab und ließ mich neben meinem Sohn nieder.

»Dein Hund?« fragte ich und erfuhr, daß er einem Mitbewohner gehöre.

»Max wollte den Hund nicht nach Irland mitnehmen, obwohl die Quarantäne-Vorschriften gelockert wurden. Zilli ist auch gerade verreist, sonst ginge es in unserer Küche turbulenter zu.«

In Italien hatte ich mir das Frühstücken zwar weitgehend abgewöhnt, aber Emilia kochte uns stets einen Espresso, wenn wir aus den Federn krochen. Suchend sah ich mich um, doch Felix sprang bereits auf und kramte in einem Regal, wo er auch tatsächlich ein Glas mit Instantkaffee fand.

Als Cora erschien, nahm sie mir wortlos meine Tasse aus der Hand und trank sie aus, dann griff sie zur Sprudelflasche. Nachdem sie ihren Flüssigkeitshaushalt einigermaßen reguliert hatte, sagte sie mit verdächtiger Wärme: »Felix und ich haben gestern abend festgestellt, daß er die Toskana gar nicht kennt. Jetzt, wo er Ferien hat …«

Fragte man mich um Erlaubnis? Ich nickte kurz, was sollte ich auch dagegen vorbringen?

»Da ist nur die Sache mit Oma«, sagte Cora. »Meine Tante hat dummerweise gerade ihren Jahresurlaub genommen und ist nach Bali geflogen.«

Ich schaltete immer noch nicht. Was gingen mich Coras Tante und Oma an?

»Außerdem muß der Hund ausgeführt werden«, fuhr Cora fort.

Langsam schwante mir etwas, aber ich schwieg.

»Maja ist sicherlich so lieb«, sagte sie zu Felix, »und bleibt ein paar Tage als Vertretung hier. Für Béla ist es bestimmt ein tolles Abenteuer.«

Felix protestierte. Das könne man mir nicht zumuten.

»Aber doch nur für ein paar lächerliche Tage«, wiederholte Cora und lächelte Felix an. »Dann bringe ich dich wieder zurück nach Darmstadt und hole Maja und Béla ab.«

Im Nu hatten sich die beiden darauf geeinigt, daß man es mir doch zumuten könne. Das Auto von Max stehe mir zur Verfügung, und ich könne täglich einen schönen Ausflug mit Hund und Kind unternehmen, am Nachmittag mal bei der Großmutter reinschauen und ihr gelegentlich eine Kleinigkeit zum Essen …

»Hat sie eine Putzfrau?« fragte ich.

Aber nein, eine alte Frau spiele schließlich nicht im Sand wie Béla, da gebe es nicht viel zu putzen. Außerdem ertrage sie keine Fremden in ihrem Haus.

Das konnte ja gut werden.

 

Zwei Stunden später hatte Felix hektisch eine Reisetasche gefüllt, sich bei seiner Großmutter telefonisch verabschiedet, mir gezeigt, wo der Klopapiervorrat und das Hundefutter lagerten, und sich dann zu Cora ins Auto geschwungen.

Wer mag es schon, wenn Entscheidungen gegen den eigenen Willen getroffen werden? Ich fühlte mich wie eine Strafgefangene, die man auf der Pfefferinsel ausgesetzt...