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Place de la Bastille

Place de la Bastille

Leon de Winter

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257610284 , 160 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

1


Zu der Zeit guckte ich alles. Während die Abende mit dem Korrigieren von Klassenarbeiten verstrichen, zeichnete der Videorecorder die Sendungen auf, die ich mir nachts ansah. Ich hockte vor dem Fernseher, bis sich das Unwetter hinter meinen Augen ausgetobt hatte, worauf ich, auf dem Sofa liegend, ein paar Stunden durch lautlose Träume lief.

Obwohl das Gegenteil näherliegend erscheint, verminderte sich dank des Videorecorders die Anspannung in der Schule. Die Bilder und Geräusche, die ich nachts im Fernsehen gesehen und gehört hatte und morgens, wenn ich mit dem Fahrrad zu dem verfallenen neoklassizistischen Gebäude im Stadtzentrum fuhr, in meiner Stirn vorfand (seltsamerweise schienen sie sich dort aufzuhalten – nicht im Hinterkopf, nicht irgendwo im Innern, sondern in der Region über meinen Augenbrauen, die schwer und massig auf meine Augäpfel drückte), verblaßten im Laufe des Tages und lösten sich in einem Nebel von Müdigkeit auf. Der Rausch, in den ich geriet, machte mich zur Unterrichtsmaschine, die sich Stunde um Stunde automatisch von der einen in die andere Klasse begab und reibungslos die verlangten Informationen ausstieß, auch wenn es in meinen Ohren sauste und mir in dem unerträglichen Tageslicht die Augen brannten. Ich brachte mich vorsätzlich an den Rand eines physischen Zusammenbruchs: Ich wollte mich in einem erschöpften Körper verirren, in Schmerz verlieren.

Diese Phase, die zeitlich nicht sehr weit hinter mir liegt und doch längst vergangen scheint, dauerte ungefähr sechs Monate, das zweite Schulhalbjahr lang. Unaufhörlich drohte mir damals blinde Panik (ein jeden Gegenstand anfressendes Beben, ein fundamentaler Zweifel, der Wände aufreißt und Fußböden spaltet), die meinen Kopf immer tiefer höhlte, ohne daß ich imstande gewesen wäre, sie auszuräuchern: Zischelnd fraß sie sich weiter, nagend, quälend.

Den letzten Schultag feierte ich mit einer ununterbrochenen Fernsehsession bis weit in den Vormittag des nächsten Tages hinein. Meine beiden Töchter krabbelten morgens zu mir auf den Schoß und guckten mit, bis Mieke, meine Frau, sie wütend wegschickte. Sie habe mich nachts wieder mit dem Video gehört, sagte sie, und das müsse ich selber wissen, aber sie wolle nicht, daß ich die Kinder ansteckte. Ich müsse mit der Vergangenheit abschließen, sagte sie, die Probleme durchstechen, die ich selbst aufgeblasen hätte. Ich stand auf, stammelte, daß ich die Zeit aus den Augen verloren hätte, taumelte benommen ins Schlafzimmer und ließ mich aufs Bett fallen.

Ich erwachte am späten Nachmittag. Der tiefe, traumlose Schlaf hatte meinen Kopf gereinigt, und ich schaute gedankenlos zu den Balkontüren, die Mieke geöffnet hatte (denn ich konnte mich nicht entsinnen, daß ich selbst dorthin gegangen war, bevor ich mich ins Bett gelegt hatte). Sie gewährten einen harmonischen Ausblick, der mir so noch nie aufgefallen war. Der zufällige Stand der Türen und der Sonne, dazu die große Ulme in einem der hinteren Gärten und meine eigene Position – ich lag seltsamerweise mit dem Kopf zum Fußende – bewirkten eine Bildkomposition, die ich als harmonisch empfand: Der Abstand zwischen den Falten der reglos herabhängenden Gardinen schien genauso groß zu sein wie der zwischen den weißen Eisenstäben des Balkongeländers, so daß ein bestimmter Rhythmus von der Gardine links auf das Geländer übersprang, sich dort fortsetzte und dann in der Gardine rechts seinen Abschluß fand.

Wenn ich mich bewegte, mich zehn Zentimeter zum Kopfkissen hinaufschob, würde sich meine Perspektive verändern, wie ich wußte; meine Sicht und meine Interpretation waren von meinem Standpunkt abhängig. Ich litt an der krankhaften Angewohnheit, dem Anschein nach alltägliche Begebenheiten von allem zu befreien, was an Zwangsläufigkeit, Vorsatz, Absicht grenzte. Warum hatte ich mich verkehrt herum aufs Bett gelegt? Was hatte mich dazu bewogen, mich nicht auf die linke Seite sinken zu lassen, wie ich das jeden Abend tat, sondern nach rechts, so daß ich beim Aufwachen ein Bild wahrnahm, das von kompositorischer Natur war (das ich als kompositorisch empfand?). Ich kroch zum Kopfende und sah, wie sich die Zusammenhänge in dem Bild auflösten. Dadurch daß sich der Winkel zwischen den Türen und meiner Position verändert hatte, fehlte der strenge Rhythmus von Gardinenfalten und Balkongitterstäben. In dem Bild, das ich jetzt sah, gab es keine besonderen Zusammenhänge; jetzt nahm ich die Rückseite einer Häuserreihe wahr, zwischen zwei offenstehenden Balkontüren hindurch gesehen, unauffällig still, im Licht eines sonnigen Samstagnachmittags.

Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Der große, helle Raum mit seinen selbstverständlichen Stühlen, Tischen, Farben tat mir gut. Ich blätterte in der dicken Samstagsausgabe der Volkskrant, las einen bestimmten Artikel an, verlor aber den Zusammenhang. Mehrmals las ich die einleitenden Absätze und versuchte die Wörter in ihrem Kontext zu erfassen, obwohl mich das Thema eigentlich nicht interessierte. Ich legte die Zeitung weg und sah mich lustlos, nach der friedlichen Leere von kurz nach dem Erwachen verlangend, um. Am Fenster zur Straße stand der Fernseher, unter dem Tischchen blinkte mit seiner strengen Form der Videorecorder, daneben, in einem schlichten Gestell, schlummerten siebenundvierzig Kassetten. Mit einer willkürlichen Kassette voll verläßlicher abendlicher Unterhaltung konnte ich die Unruhe übertäuben, mit einem Western, einer Show, einem Film über das Amazonasgebiet. Es war absurd, daß ich die Suchtsymptome aufwies, die auch ein Alkoholiker kennt: Bei der geringsten Unebenheit sprang der Deckel auf, der Mechanismus setzte sich in Gang, und die Verführung tanzte um mich herum. Können Bilder verführen? Szenen? Filme? Fotos?

Ich flüchtete in mein Arbeitszimmer, denn ich wollte nicht, daß Mieke mich erneut vor dem Fernseher antreffen würde. Auf den leeren Schreibtisch (der unentwirrbare Papierwust befand sich in den Schubladen und im Schrank rechts im Zimmer; Rechnungen, Mahnungen, Korrespondenz, Aufzeichnungen, alles hatte ich, auf einen windstillen Tag wartend, dem Blick entzogen und weggesteckt) hatte sie mir einen Zettel gelegt.

»Bin mit Hanna und Mirjam zu meiner Mutter. Werden wohl zum Essen bei ihr bleiben. Sind gegen halb neun wieder zu Hause. Überleg dir, was du tust. Schreib bitte dein Buch fertig, auch wenn es nicht das ist, was dich eigentlich beschäftigt. Ich weiß, daß es um deine Eltern geht. Vielleicht nicht nur um sie als Personen, sondern auch um ihre Abstraktion, aber das Buch leitet sich davon ab. Wenn du das Buch fertig hast, wenn du diese Aufgabe vollbracht hast, wird sich hoffentlich auch dein Hang legen, dich langsam, aber sicher zu verflüchtigen. Fehlen dir noch Informationen? Vielleicht mußt du noch einmal nach Paris. Nimm dir alle Zeit. Notfalls fahre ich allein mit den Mädchen nach Zeeland, und du bleibst zu Hause, um zu arbeiten. Bitte denk darüber nach. Mieke.«

Abends, nach ihrer Rückkehr und der Gutenachtgeschichte im Kinderzimmer, sagte ich Mieke, daß ich gern noch mal nach Paris wolle. Sie nickte schweigend und wartete auf weitere Erklärungen, die ich jedoch unterließ. Die Lüge mit dem Buch und die Leichtigkeit, mit der sie mir über die Lippen gekommen war, erfüllten mich mit einer Scham, die bei jedem weiteren Wort als Zittern und Unsicherheit mitschwingen würde.

Komischerweise begann ich selbst an die Geschichte zu glauben, daß ich des Buches wegen nach Paris fuhr. Am nächsten Tag, Sonntag, zog ich aus den verborgensten Tiefen meines Schreibtischs das Manuskript hervor; ich las mir den letzten Teil noch einmal durch, machte Anmerkungen und versuchte zu sondieren, welche Originale ich einsehen mußte, um meine Probleme zu lösen. Ich schien frischen Mut aus dem Gedanken zu schöpfen, daß ich mich binnen kurzem erneut über das historische Material beugen und die aus dem vergilbten Papier aufsteigende Zeit schnuppern konnte. Das war jedoch reinste Heuchelei, denn es lag auf der Hand, daß ich in Paris lediglich die Auspuffgase vom lebhaften Urlaubsverkehr einatmen, aber keine Bibliothek von innen sehen würde. Meiner Gemütsruhe zuliebe spielte ich den eifrigen Quellenforscher, der aufgeregt vom einen Archiv zum nächsten rannte und beim Anblick verstaubter Bücher und Handschriften, die bei ihrer Berührung auseinanderfallen konnten, in Verzückung geriet.

Doch über dieses Stadium war ich längst hinaus.

Mein erster Besuch der Bibliothèque Nationale 1966 war ein verwirrendes und zugleich bewegendes Ereignis gewesen. Ich studierte damals noch und schrieb an einer Hausarbeit. Ich erinnere mich, daß ich mich mit Tränen in den Augen – viel zu große Emotionen für einen unbedeutenden kleinen Archivbesuch – in dem Gebäude zurechtzufinden suchte, in dem Zehntausende von Manuskripten und Millionen von Büchern eine Macht zur Schau trugen, die dem Ausgangsmaterial von Natur aus fremd war (denn das bestand aus nicht mehr als Papier, Druckerschwärze, Leinen, Pergament). Die Vergangenheit, die geordnete, rubrizierte verflossene Zeit, warf ihren unerträglich schweren, pechschwarzen Schatten über mich. Sie stand hinter mir, die GESCHICHTE, und sah auf mich herab. Und sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht durch die unzähligen Bücherregale hindurchsehen, hinter denen sie sich versteckte, wenn ich mich umdrehte, um sie ins Visier zu nehmen.

Alter Krempel, verstaubter Mist, muffiges dummes Zeug bist du, schrie ich durch den Gang (in Gedanken), mich kriegst du nicht, sieh doch, wie ich hier gehe und wandele und mich nicht um deine Wendigkeit schere, sieh, wie ich...