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Tochter der Insel - Historischer Roman

Jutta Oltmanns

 

Verlag Heyne, 2011

ISBN 9783641064341 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

5. Wangerooge (S. 242-243)

Spätsommer 1855


1


Lea stand an der Reling und blickte auf das Meer hinaus. Ihr Großvater hatte recht gehabt. Sie liebte Italien und würde immer wieder dorthin zurückkehren. Doch die Monate in dem fremden Land hatten ihr auch deutlich gemacht, dass weder die Schönheit der Landschaft noch das angenehme Leben auf dem Familiensitz Wangerooge aus ihren Gedanken verdrängen konnte. Amerika dagegen schien, obwohl sie dort mehr zurückgelassen hatte, als irgendjemand ihr hätte nachschicken könnte, in weiter Ferne zu liegen. Manchmal dachte sie an Hardy, von dem der Abschied ihr so schwergefallen war, und an Bell.

»Ach Lea, ich werde dich fürchterlich vermissen«, hatte diese geklagt und sie mit einem wunderbar weichen Handmuff als Lebewohlgeschenk überrascht. »Wie schön! Ich habe leider kein Abschiedspräsent für dich, Bell.« »Wenn du erst ein großes Haus auf der Insel führst, dann komme ich dich besuchen. Ich werde unter falschem Namen anreisen und mich wie eine Gräfin aufführen.« Sie hatte Nikolas leicht angeschubst. »Vielleicht kann ich dich überreden, mich zu begleiten. Wir könnten uns als ein gediegenes altes Ehepaar ausgeben.« »Mit dir würde ich fast alles wagen!« Lea lächelte bei dem Gedanken an die Briefe, die sie seitdem ausgetauscht hatten. Irgendwann würden sie sich wiedersehen. Breitbeinig stemmte Lea sich gegen das Wogen und Schaukeln des Schiffes.

Der Wind fuhr mit warmen Fingern durch ihr Haar. Es war drückend heiß. Lea genoss die salzige Gischt auf ihrer Haut und den Anblick der Nordsee. Sie reisten mit wenigen Passagieren vom Festland nach Wangerooge. »Ich bin so gespannt, Großvater!« »Hast du dieser Insulanerin – wie hieß sie noch gleich – unser Kommen mitgeteilt?«

»Du meinst Hiske. Ja, sie erwartet uns.« Lea hatte ihr alles geschrieben und Hiske, die treue Seele, berichtete ihrerseits von der gänzlich veränderten Lage auf der Nordseeinsel. Unser kleines Wangerooge hat am Tag des Jahreswechsels einen wahrlich ungleichen Kampf mit dem Meer geführt. Wir Insulaner sind verschont geblieben, doch die Insel hat schwere Verwundungen davongetragen. Nach der glänzenden Badesaison im Sommer war Wangerooge an Silvester von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht worden. Viele Inselbewohner hatten ihre Häuser verloren und auf Anraten der Regierung Wangerooge verlassen, um am Festland neu zu siedeln. Ein harter Kern dagegen, zu dem auch Hiske gehörte, war auf der Insel geblieben. Mein liebes Kind.

Du wirst alles völlig verändert vorfinden. Die Insel ist in zwei Teile zerrissen. Mein Haus ist kaum beschädigt, doch von der Heimstatt deiner Großmutter steht nur noch die Fassade. Auch die Badeanstalt, der Stolz der Geheimen Hofrätin, ist ein Raub der Fluten geworden. Viele Wohnhäuser sind gänzlich vernichtet, die übrigen beschädigt oder nur noch Ruinen. Stell dir nur vor, rund um den Turm liegt jetzt freier Strand. Der Friedhof, die herrschaftlichen Anlagen, wo die Gäste lustwandelten, und auch die meisten unserer eigenen Gärten – alles dahin. In den Trümmern des alten Dorfes ist auf Dauer kein Bleiben möglich. Fortgesetzt nagt das Meer im Westen weiter und entführt Sand und Strand gen Osten. Das alte Wangerooge gibt es nicht mehr. Was soll nur aus unserer Insel werden?