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Marlon Brando - Der versilberte Rebell. Eine Biographie

Marlon Brando - Der versilberte Rebell. Eine Biographie

Jörg Fauser

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257610413 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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20,99 EUR


 

Von Bangkok nach Libertyville


Ach, du Mann im Spiegel!

Lügner, Narr, Träumer, Schauspieler,

Soldat, armer staubiger Schlucker …

Carl Sandburg

Kein Film ohne Reklame, keine Reklame ohne Legende, ohne Legende kein Star. Wenn schon die heilige Johanna auf Agenten und Ghostwriter nicht verzichten konnte, wie sollten da die Idole des 20. Jahrhunderts allein zurechtkommen, die kein Reich und keine Vision und keine irdisch/himmlischen Heerscharen zu vertreten haben, sondern Massenträume, Massenmythen, Massenbilder. Oder, wie Marlon Brando zu sagen pflegte: »Zuckerberge«.

Den phantasielosen Dummis, aber auch den allzu Irrationalen, die ihrer Biographie sprachlos ausgeliefert waren, stellte Hollywood in den goldenen Jahren, als die Stars geboren wurden, ganze Schreibbüros zur Seite, deren Aufgabe darin bestand, ihren Schutzbefohlenen eine publikumswirksame Legende zu erdichten – sozusagen das himmlische Drehbuch aufzumöbeln. Marlon Brando unterschied sich von den in Hollywood gezüchteten (und zertretenen) Stars auch darin, dass er diese Art von Publicitydichtung schon als Anfänger selbst beherrschte. Seine Vita auf einem Theaterzettel aus dem Jahr 1946 liest sich wie eine perfekte Parodie auf die Materialsammlung eines Presseagenten: Als Sohn eines heute am Field Museum in Chicago wirkenden Linguisten in Bangkok, Siam, geboren, verbrachte Mr. Brando seine Kindheit in Kalkutta, Indochina, der Wüste Gobi und Ceylon. Seine formale Erziehung begann in der Schweiz und endete in Minnesota, wo die strenge Disziplin einer Militärschule seiner persönlichen Entfaltung im Wege stand. Nach einer Periode, in der er sich vorübergehend als genialischer Schlagzeuger sah, kam Mr. Brando nach New York, um die Schauspielkunst zu erlernen.1

In Wirklichkeit wurde Marlon Brando am 3. April 1924 in Omaha im Bundesstaat Nebraska/USA geboren. Nebraska ist tiefer Mittelwesten, Herzland jener Region, die als Middle America für Konservatismus, Patriotismus und Kleinstadtmentalitat steht, sich aber vor allem dadurch ausgezeichnet hat, dass sie die Geburtsorte so eminent individualistischer Talente wie Ernest Hemingway (Schriftsteller), Abraham Lincoln (Politiker), Carl Sandburg (Dichter), Spencer Tracy (Schauspieler), James Thurber (Schriftsteller), F. Scott Fitzgerald (Schriftsteller), Clark Gable (Schauspieler), William S. Burroughs (Schriftsteller), Montgomery Clift (Schauspieler), John Dillinger (Gangster), Adlai Stevenson (Politiker), James Dean (Schauspieler) und Robert Zimmermann alias Bob Dylan (Vortragskünstler und Lyriker) abgegeben hat. Konservativ gewiss, diese Gegend, aber eben auch Heimstatt jenes unverwechselbar amerikanischen Individualismus, der die populäre Volkskultur dieses Landes hervorgebracht und ihr nicht nur im Schriftsteller oder im Schauspieler, sondern z.B. auch in der Figur des Gangsters Ausdruck verliehen hat.

Brandos Eltern: ein fast schon klassisches Paar. Marlon senior (der einzige Sohn erhält selbstverständlich den Namen des Vaters), irisch-französisch-schottischer Herkunft, ein Hüne mit den zeremoniösen, gelegentlich auffrisierten Umgangsformen des stockprotestantischen Handlungsreisenden, er reiste in Kalkprodukten und Viehfutter, ein Trumm von Mann, ein Popanz. Die Mutter, Dorothy Pennebaker, genannt Dodie, genaues Gegenteil, aber nicht unbedingt die ideale Ergänzung dazu: Sie war eine hübsche, poetische Frau mit blondem Haar und einer Reputation für ihre »liberalen Auffassungen und fortschrittlichen Ideen«. Sie war von Natur aus den Künsten ergeben: Sie schrieb, malte, bildhauerte und spielte Theater, wobei Letzterem ihre besondere Leidenschaft galt. Sie war eine der Säulen des außerordentlich respektierten Omaha Community Playhouse, einer halbprofessionellen Theatergruppe, die für viele wichtige Schauspieler, darunter Henry Fonda, Ausgangspunkt einer glanzvollen Karriere war. 1927 spielte Mrs. Brando mit Fonda, einem ihrer Protegés, in einer Playhouse-Aufführung von Eugene O’Neills Beyond the Horizon.2

Für die Kinder – Marlon, der »Bud« genannt wurde, weil ja Papa seinen Vornamen besetzt hatte, und seine zwei älteren Schwestern Jocelyn und Francis – war diese Ehekonstellation kein Zuckerschlecken. Der Erziehungsbeitrag des Produkte-Vertreters, der, wie Brando sich später zu erinnern glaubte, »ziemlich oft mit Lippenstift auf dem Hemdkragen heimkam«, scheint sich auf Disziplinarmaßnahmen beschränkt zu haben, die wie meist in solchen Fällen nur die sauren Früchte der Entfremdung trugen. Natürlich hielt die Mutter auf »progressive« und »freie« Erziehung, natürlich witterte der Vater dahinter die Blumen des Bösen. Maurice Zolotov, ein früher Brando-Biograph, schreibt: »Mrs. Brando machte es Marlon fast unmöglich, in seiner Rolle als Mann Sicherheit zu erlangen. Sein ganzes Leben schwankte er zwischen den Polen seiner Eltern und hatte es schwer, zu seiner eigenen Persönlichkeit zu finden.« Dazu kam, dass die Familie oft auf Achse war: 1930 Umzug nach Evanston/Illinois (wo Marlon sich mit dem späteren Komödianten Wally Cox anfreundete), dann nach Santa Ana in Kalifornien und schließlich 1936 nach Libertyville, nomen est omen, 60 Kilometer nordwestlich von Chicago am Michigan-See gelegen.

Libertyville, 2000 Einwohner, ist nun wirklich tiefe Provinz, Hicksville in Reinkultur. Farmland, Apfelbäume, Krämers Welt, Spießers Traum. Die Familie galt als wohlhabend und bezog ein weiträumiges Haus mit reichlich Land drum herum, das Marlon senior, der als »Gentleman Farmer« Respekt genoss, mit allerlei Viehzeug belebte, 28 Katzen und auch einer Kuh, die, wie könnte es anders sein, von niemand sich melken lässt als von »Bud«. Also reinste Idylle am See, und das noch mitten in den schweren sozialen Erschütterungen der ausklingenden Wirtschaftskrise.

Erschütterungen aber auch im Hause Brando. Denn für beide Eltern ist das Idyll der Rückzug: Aufstecken weiterreichender Ambitionen, Abschotten der Träume, die leider nicht weit trugen, Dichtmachen des Horizontes, der die Sterne nie nähergebracht, mittels Verhüllung der Butzenscheiben: Buds Vater war abweisender geworden. Er hatte zwar gut verdient, aber doch nicht den Erfolg gehabt, den man dem gutaussehenden jungen Vertreter vorhergesagt hatte. Er war immer länger von zu Hause fort und, wenn er zurückkam, wegen Buds schlechten Noten und Schülerstreichen immer gereizter. Bud schien auch die Nähe seiner Mutter zu verlieren. Sie wurde ihm fremd. Wie ihr Mann kam sie in ihre mittleren Lebensjahre, ohne dass die Verheißungen der Freunde in Omaha in Erfüllung gingen … Sie trat noch in einigen Aufführungen der Theater-Gruppe von Libertyville auf, zog sich aber mehr und mehr zurück … Die meiste Zeit war sie allein zu Hause und trank.3

Also der Handlungsreisende in der Provinz, auch mal flott und hübsch gewesen und den Traum vom großen Geld und dem gerechten Gott und Vaterland im Herzen und auf der Stirn getragen, und jetzt an die Landstraßen und die Kleinkrämer und die kleinen dummen Freundinnen in den namenlosen Budiken gefesselt, und zu Hause die verblühte Schöne, die Henry Fonda protegierte und den Kranz der Thespis trug auf den Bühnen, deren Bretter auch in Omaha die Welt bedeuteten, aber jetzt verwelkt im Schoß, aus dem die Kinder in die Welt getreten, und alles nur ein holder Wahn für mittlere Talente, mangels Nachfrage zu ertränken im Gin … die Provinz des Menschen, mit den Füßen in der Scheiße und die Hände zu den Sternen gereckt, und immer weiter und immer fort. Natürlich wachsen in dieser Provinz die Rebellen heran, aber es sind innerlich schon frühzeitig müde Rebellen, mit dem zynischen Zug um die Lippen und dem Blick, der sagt: »Was soll der Schmus, Baby?«

Der junge Brando: Nicht viel dran, wie’s scheint. Die Boxerstatur des Alten und das hübsche Gesicht der Mutter, bisschen Talent zum Schauspielen (seine beste Pantomime soll eine Darstellung vom Tod Dillingers gewesen sein) und zum Sport, kein Intellektueller, auch kein Rabauke, kein Rocker, kein Softie, eher Durchschnitt, aber in diesem Durchschnitt eine Indolenz, die die Lehrer zur Weißglut getrieben haben muss: Rausschmiss aus den meisten Schulen, und zwar nicht wegen großer pathetischer Gesten, sondern einfach dieses coole »Leck mich«, wenn der Lehrer auf das Gesittete und das Frommende und das Nützliche des Lernens hinweist … und das gipfelt dann in der unvermeidlichen Anrufung des Kategorischen Imperativs (Originalton Brando senior: »Um diesen Jungen hinzukriegen, gibt es...