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Die Meerfrau - Roman

Sue Monk Kidd

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641024727 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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KAPITEL 1
Es war der 17. Februar 1988, ich schlug die Augen auf. Eine ganze Reihe von Geräuschen hatte mich geweckt: Erst hatte das Telefon auf der anderen Seite des Bettes angefangen zu klingeln, es hatte uns um 5.04 Uhr aus dem Schlaf gerissen, und das konnte eigentlich nur Unheil bedeuten. Dann hatte ich gehört, wie der Regen auf das Dach unseres alten, viktorianischen Hauses trommelte, wie das Wasser rauschend seinen Weg durch Rinnen und Rohre in den Grund fand, und schließlich war es das Pusten gewesen, das Hugh mit der Unterlippe macht, wenn er ausatmet, ein vollkommen gleichmäßiger Rhythmus, wie ein Metronom.
Zwanzig Jahre regelmäßiges Pusten. Ich hörte es ja selbst dann schon, wenn er nicht schlief, wenn er nach dem Essen in seinem Ledersessel saß und sich durch den Stapel der Fachzeitschrift für Psychiatrie las, der vom Boden emporwuchs. Sein Pusten war der Takt, der mein Leben bestimmte.
Das Telefon klingelte erneut, und ich lag da und wartete darauf, dass Hugh abnahm. Sicher war das einer seiner Patienten, vermutlich der paranoide Schizophrene, der schon gestern Abend angerufen hatte, weil er davon überzeugt war, die CIA würde ihn in ein Regierungsgebäude in Atlanta verschleppen.
Beim dritten Klingeln griff Hugh nach dem Hörer. »Ja, hallo«, sagte er, seine Stimme klang heiser, kam aus den Tiefen des Schlafs.
Ich drehte mich weg und sah auf das fahle, wässrige Licht, das durch das Fenster drang. Mir fiel ein, dass Aschermittwoch war, und mich überfiel das unausweichliche Schuldgefühl.
Mein Vater war an einem Aschermittwoch gestorben, ich war damals neun Jahre alt gewesen, und sein Tod die Folge einer unseligen Verkettung von Umständen, die, was niemand je wirklich begriffen hatte, ich in Gang gesetzt hatte: Ich war an allem schuld.
Auf seinem Boot war ein Feuer ausgebrochen, der Treibstofftank war explodiert – so hatte es jedenfalls damals geheißen. Wrackteile waren erst Wochen später an den Strand gespült worden, und darunter war auch der Teil des Hecks gewesen, auf dem Jes-Sea geschrieben stand. Er hatte das Boot nach mir benannt, nicht nach meinem Bruder, noch nicht einmal nach meiner Mutter, die er abgöttisch geliebt hatte, sondern nach mir, Jessie.
Ich schloss die Augen und sah ölige Flammen und grelles, orangefarbenes Licht. In einem Artikel in der Tageszeitung von Charleston hatte gestanden, die Umstände der Explosion wären fragwürdig, und es hatte sogar eine Untersuchung gegeben, die jedoch zu keinem Ergebnis geführt hatte – all das wusste Mike und ich aber nur, weil wir den Zeitungsausschnitt in einer Schublade des Frisiertisches meiner Mutter entdeckt hatten, ein merkwürdiger, geheimnisvoller Hort, der zerrissene Rosenkränze, alte Heiligenmedaillons, Heiligenbildchen und eine kleine Jesusstatue, die nur einen Arm hatte, beherbergte. Mutter wäre wohl niemals auf die Idee gekommen, dass wir eines Tages in ihren kleinen Friedhof der Heiligtümer eindringen würden.
Ich war fast jeden Tag an diesen furchtbringenden Schrein gegangen, ein ganzes Jahr lang. Ich war wie besessen gewesen, hatte den Zeitungsartikel immer und immer wieder gelesen, vor allem den einen, entscheidenden Satz: »Die Polizei nimmt an, dass ein Funken aus der Pfeife ein Leck in der Treibstoffleitung entzündet hat.«
Ich war es gewesen. Ich hatte ihm die Pfeife zum Vatertag geschenkt. Davor hatte er niemals geraucht.
Ich konnte bis heute nicht an meinen Vater denken, ohne dass mir dabei das Wort »fragwürdig« in den Sinn gekommen wäre. Ich musste immerzu daran denken, dass er an jenem Tag zu Asche geworden war, an dem sich andere Menschen – ich, Mike und meine Mutter – in der Kirche ein Kreuz aus Asche auf die Stirn zeichnen lassen. Eine weitere Ironie des Schicksals in dieser langen Verquickung merkwürdiger, dunkler Ereignisse.
»Aber sicher erinnere ich mich«, hörte ich Hugh am Telefon sagen, und seine Stimme holte mich schlagartig in die Wirklichkeit zurück – der Anruf, der trübe Morgen. »Uns hier geht es gut. Wie geht es denn bei euch so?«
Das klang nicht nach einem Patienten. Und es war auch ganz sicher nicht Dee, unsere Tochter. Dafür war er viel zu förmlich. Ich fragte mich, ob es womöglich einer von Hughs Kollegen war. Oder ein Arzt aus dem Krankenhaus. Gelegentlich rief einer an, um sich über einen Fall zu beraten, aber gewöhnlich nicht um fünf Uhr morgens.
Ich schlüpfte unter der Decke hervor und ging barfuß hinüber zum Fenster, um zu sehen, wie groß die Gefahr war, dass der Regen wieder einmal den Keller überfluten und unseren Heißwasserkessel außer Gefecht setzen würde. Ich starrte hinaus auf die kalte, körnige Sintflut, den bläulichen Nebel, auf die Straße, in der das Wasser anschwoll. Ich schauderte und wünschte mir, das Haus wäre einfacher zu beheizen.
Ich hatte Hugh damals fast um den Verstand gebracht, als ich ihn gedrängt hatte, dieses riesige, unpraktische Haus zu kaufen, und obwohl wir jetzt schon seit sieben Jahren darin wohnten, weigerte ich mich immer noch, irgendetwas daran zu bemängeln. Ich fand die fünf Meter hohen Decken und die farbigen Glasfenster wundervoll. Und den kleinen Turm – Gott, was liebte ich diesen Turm! Wie viele Häuser konnten schon mit so etwas aufwarten? Man musste eine Wendeltreppe erklimmen, um in mein Atelier zu gelangen, es war im ausgebauten Dachboden auf der dritten Etage, mit Dachschrägen und einem Oberlicht – so fern ab von der Welt und so verwunschen, dass Dee es den »Rapunzelturm« getauft hatte. Sie zog mich immer damit auf. »He, Mom, wann lässt du endlich dein Haar herunter?«
Dee sagte das zwar nur zum Spaß, aber wir wussten beide, was sie eigentlich damit meinte – nämlich, dass ich allmählich verstaubte. Dass ich mich hinter einer schützenden Wand aus Bequemlichkeit und Gewohnheit verbarg. Als sie zu Weihnachten bei uns gewesen war, hatte ich für sie einen Comic von Gary Larson an den Kühlschrank gepinnt: DIE BESTE MUTTER DER WELT. Auf dem Bild standen zwei Kühe auf einer idyllischen Weide, und eine von ihnen sagte: »Mir ist egal, was all die anderen sagen, ich jedenfalls bin nicht glücklich.« Es war als kleiner Scherz gedacht, für Dee.
Ich erinnere mich, dass Hugh darüber gelacht hatte. Hugh, der sonst in anderen las, als wären sie menschliche Rorschachtests, ausgerechnet Hugh hatte nichts darin gesehen. Dee dagegen hatte außergewöhnlich lange vor dem Bild gestanden und mich dann mit einem vielsagenden Blick angesehen. Sie hatte es gar nicht zum Lachen gefunden.
Und ganz ehrlich gesagt, ich war auch nicht glücklich, ich war irgendwie rastlos geworden. Es hatte im Herbst angefangen – dieses unbestimmte Gefühl, dass die Zeit vergeht, dass mein Leben immer weiter aufgeschoben wird, dass ich eingesperrt bin. Ich wollte nicht einmal mehr hoch in mein Atelier. Das unfassbare Unbehagen vermeintlich glücklicher Kühe auf der saftigen, grünen Weide. Die das ständige Wiederkäuen so satt haben.
Im Winter hatte sich das Gefühl dann noch verstärkt. Ich brauchte nur einen der Nachbarn joggen zu sehen, und schon stellte ich mir vor, er würde für eine Klettertour am Kilimandscharo trainieren. Dann hatte ich mir von einer Freundin aus meinem Bücherclub auch noch die detailgetreue Beschreibung ihres ersten Bungeesprungs anhören müssen, sie war in Australien todesmutig von einer Brücke gesprungen. Und dann – das war das Schlimmste gewesen – war im Fernsehen ein Bericht über eine unerschrockene Frau gekommen, die ganz alleine durch das tiefe Blau Griechenlands reiste. Ich war von dem Feuerwerk an Lebensfreude, das aus diesen Abenteuern sprühte, überwältigt worden, von diesem Strom kraftvoller Lebendigkeit, von diesem unruhigen Blut, oder was es auch war, das diese Menschen mitriss. Ich hatte ganz deutlich gespürt, dass mir das Gefühl der Grenzenlosigkeit fehlte, mir gingen all die außergewöhnlichen Dinge ab, die andere Menschen in ihrem Leben machten – obwohl ich, wenn ich ehrlich zu mir selber war, eigentlich nichts von alledem tun wollte. Ich hätte damals nicht sagen können, was ich eigentlich wollte, aber in mir war ein unbestimmtes schmerzhaftes Verlangen.
Ich spürte es auch an jenem Morgen. Als ich am Fenster stand, kündigte es sich wieder grummelnd und verstohlen an. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Hugh schien zu glauben, dass mein kleines Stimmungstief – oder was ich sonst hatte – damit zusammenhing, dass Dee jetzt auf dem College war. Er war tatsächlich mit dem Klischee von Kindern angekommen, die flügge werden und das Nest verlassen.
Letztes Jahr im Herbst waren Hugh und ich, nachdem wir Dee im Vanderbilt College gut untergebracht hatten, nach Hause gerast, damit er pünktlich beim »Waverly Harris Herrenturnier« zugunsten der Krebshilfe antreten konnte, dessentwegen er schon den ganzen Sommer über nervös gewesen war. Drei Monate lang war er zweimal in der Woche unerschrocken in die Hitze des Sommers von Georgia hinausgetreten und hatte mit seinem teuren Prince Graphit-Schläger trainiert. Und dann hatte ich den ganzen Nachhauseweg über geweint. Ich hatte immer noch Dee vor mir gesehen, wie sie vor ihrem Schlaftrakt gestanden und uns nachgewunken hatte, als wir losgefahren waren. Sie hatte ihr Auge und ihre Brust berührt und dann auf uns gezeigt – das hatte sie als kleines Mädchen immer gemacht. Auge, Herz, du. Es hatte mich umgehauen. Als wir zu Hause angekommen waren, hatte Hugh trotz meiner Widerrede Scott angerufen, seinen Partner beim Doppel, und ihn gebeten, seinen Platz beim Turnier einzunehmen. Hugh war dann bei mir zu Hause geblieben und hatte sich mit mir einen Film angesehen. Ein Offizier und Gentleman....