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Berliner Lust - Kriminalroman

Henning Boëtius

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641025014 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

9


Als ich nach langer Fahrt die Straßen meiner Heimatstadt betrat, fühlte ich mich wie neugestorben. Ich hatte die Villa meiner Mutter vor längerer Zeit verkauft und lebte von dem Erlös in irgendwelchen Zimmern, die ich mietete und wieder aufgab. Jetzt empfand ich diese Unsesshaftigkeit als Mangel. Auch war mein Guthaben bei der Bank arg geschrumpft. Ich hätte vielleicht für eine Weile bei Freunden unterkommen können, aber hatte ich überhaupt noch welche?
Mir fiel nichts Besseres ein, als in das Hotel in der Innenstadt zu gehen, in dem ich vor Jahren bereits einige Male übernachtet hatte. Zum Beispiel nach einer wilden, mit irischen und schottischen Gastarbeitern verbrachten Party. Das Tiffani war renoviert worden. Es gab keine Duschköpfe mehr, die schlaff herabhingen und erst durch den Rückstoß des Wasserstrahls in einer Art Erektion eine brauchbare Position einnahmen. Es gab auch keine wilden Partys mehr. Eine kleinbürgerliche Wohlanständigkeit hatte Einzug gehalten. Ich kam mir in meinem neuen Zimmer mehr auf der Durchreise vor als in all den Hotels, die ich vor kurzem noch im Ausland bewohnt hatte.
Der einzige Ort, an dem sich für mich noch so etwas wie ein Heimatgefühl einstellte, war wie immer die Blaue Maus. Hier war alles beim Alten geblieben. Auch der Wirt war gegen jeden Wandel gefeit. Massig, jovial und rotgesichtig, ein lebendes Geneverfass, dem weder die Zeit noch der Alkohol etwas anzuhaben schienen.
»Wie siehst du denn aus«, sagte er, »willst du auf eine Halloweenparty? Dann hast du dich im Datum geirrt.« Im großen Spiegel hinter dem Tresen sah ich mein zerschlagenes Gesicht, das Pflaster über der Stirnwunde, das inzwischen blau unterlaufene Auge. »Man hat übrigens letzte Woche bei mir angerufen und nach dir gefragt.«
»Wer ist ›man‹?«
»Dein ehemaliger Arbeitgeber. Der Chef der Groninger Mordkommission.«
»Ist der Kerl immer noch im Amt? Hat er sich noch nicht zu Tode geraucht?«
»Er hat das Rauchen angeblich aufgegeben. Er sieht ziemlich fit aus, habe ich gehört.«
»Und warum hat er hier angerufen?«
»Er meint, dass ich noch am ehesten wüsste, wo du dich in der Weltgeschichte herumtreibst. Ich habe gesagt, ich würde dir Bescheid geben, wenn du wieder einmal vorbeigeschneit kommst.«
»Hast du eine Ahnung was er will? Ich habe keine Lust, wieder für ihn zu arbeiten.«
»Geh hin und frag selbst. Du kannst ja nein sagen, oder? Du siehst übrigens aus, als könntest du eine Stärkung gebrauchen.«
»Hast du einen Calvados?«
Er drehte sich um, betrachtete die Flaschen auf dem Spiegelregal. Dann bückte er sich, öffnete eine Falltür und verschwand in der Tiefe. Als er wieder erschien, hatte er eine große, halbvolle Flasche dabei. Er schenkte aus. Es war tatsächlich alter Calvados aus der Normandie, und wirklich, er weckte meine Lebensgeister. »Le Trou Normand, das normannische Loch«, sagte er. »Man trinkt ihn zwischen den Gängen, um im Magen Platz für die nächste Speise zu schaffen.«
»Und um die Bakterien abzutöten, die häufig in rohen Meeresfrüchten zu finden sind.«
Er schenkte unsere Gläser noch einmal randvoll. »Ich weiß es, weil ich eine Weile in der Normandie gelebt habe«, sagte er. »Als junger Mann. Kannst du dir vorstellen, dass ich mal jung war? Ich jedenfalls nicht. Es ist schön dort. Wenn es außerhalb des Paradieses einen Schrebergarten Gottes gibt, dann liegt er dort.«
Ich blieb so lange, bis ich die Ehre hatte, der letzte Gast zu sein und die Flasche leer war. Der Wirt räumte die Gläser von den Tischen. »Weißt du, Piet«, sagte er, »es ist immer das Gleiche mit dir. Du wartest auf etwas, das sich nicht einstellt. Und in Wirklichkeit wartet etwas auf dich, und du stellst dich nicht ein. Du solltest dich einfach in dein Schicksal ergeben.«
 

Am nächsten Morgen rief ich vom Hotel aus bei der Groninger Polizei an. Man stellte mich zum Chef der Mordkommission durch. Wie immer begann das Gespräch damit, dass ich geduldig das Ende seines Hustenanfalls anhörte. Dann, nach mehrmaligem Räuspern, sagte er: »Hallo Piet, freut mich, dass du anrufst. Es gibt hier ein paar Leute, die dich tatsächlich vermissen. Ich gehöre übrigens auch dazu. Wir haben einfach weder Geschmack noch Menschenkenntnis. Du bist und bleibst ein Windhund.« Er fügte noch ein paar Beleidigungen an und kam dann zur Sache: »Wir haben letzte Woche eine Anfrage aus Berlin gehabt. Da wollen dich gewisse Leute für irgendeine dubiose Sache. Näheres weiß ich nicht. Es waren übrigens keine Kollegen, sondern Privatleute, aus der Immobilienbranche, soviel ich verstanden habe. Du sollst für sie ermitteln, für ein außergewöhnlich gutes Honorar, wie ich vermute. Du kannst doch Geld sicher gut gebrauchen? Ich nehme an, dass du für Geld alles tust. Sie wollen diese Woche noch mal anrufen. Kann ich ihnen deine Mobilfunknummer geben? Du hast doch ein Handy, oder?«
»Ja. Aber die Sache interessiert mich nicht. Obwohl ich Geld im Augenblick wirklich gut gebrauchen könnte.«
»Dann sage bitte gefälligst selber ab. Deine Nummer?«
Ich sagte sie ihm.
»Übrigens, ich lade dich für morgen Abend zum Muschelessen ein. Ich weiß, dass du es gerne hast, wenn jemand dein Essen bezahlt.«
 

 

Wir trafen uns wie früher schon manchmal in einem Lokal, in dem man ganz gut vom »heißen Stein« essen konnte. Aber die Muscheln waren hier auch nicht schlecht. Wir bestellten. Ein merkwürdiges, fast wohliges Gefühl beschlich mich. War ich etwa schon in der Unterwelt gelandet und war dieser schlanke Mann mit den graumelierten Haaren ihr Herrscher? Er rauchte zwar nicht mehr, aber er hustete und war auf seine zynische Art guter Dinge.
Die Muscheln waren tatsächlich exzellent. Während die Bänder ineinandergestapelter Schalen immer länger wurden, erklärte mir mein ehemaliger Chef das Leben. »Du bist Psychologe, Piet, und du bist ein typischer Autist. Völlig in dir gefangen. Fragt sich, was Ursache und Wirkung ist. Das bekannte Problem von der Henne und dem Ei. Was ist früher da. Ich pflege es dadurch zu lösen, dass ich beide verspeise.« Er lachte, und da der anschließende Hustenanfall diesmal besonders lange anhielt, nutzte ich die Gelegenheit zu einem Statement.
»Ich bin kein typischer Autist. Das wäre im Übrigen auch nicht weiter schlimm. Ich kenne fast niemanden, der nicht autistische Züge hat. Ich bin, wenn du schon die Terminologie der Psychologen bemühen willst, etwas viel Gravierenderes: Ein Borderliner. BPS. Borderline Personality Structure.«
»Verstehe, einer, der notorisch irgendwelche Grenzen verletzt. Du fährst ständig von einem Niemandsland ins nächste.« Er lächelte selbstzufrieden über seinen Einfall.
»Ein Borderliner ist der klassischen Definition nach ein Mensch mit einer starken Persönlichkeitsstörung«, dozierte ich. »Ein Zwischending zwischen Neurotiker und Psychopath mit Tendenzen zur Schizophrenie. Solche Leute sind genauso selbstbezogen wie ängstlich. Ich zum Beispiel habe Höhenangst und neuerdings auch ein permanentes Gefühl der inneren Leere. Ein typisches Borderlinersymptom. Hinzu kommen starke Stimmungsschwankungen. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, Euphorie und Misstrauen, du weißt schon. Die Folge: Ich bin unfähig, feste Beziehungen einzugehen. Welcher Lebenspartner würde dieses Wechselspiel auf Dauer ertragen Der Borderliner neigt übrigens auch zu magischem Denken. Du weißt, dass ich anfällig bin in dieser Hinsicht. Ansonsten die typischen Symptome: mangelndes Realitätsbewusstsein, Promiskuität, Größenwahn, Selbsterniedrigung.«
»Dein Selbstporträt gefällt mir mehr und mehr.« Er lachte wieder und steckte sich eine Zigarette verkehrt herum zwischen die Lippen. Ich trank wie so oft in solchen Situationen zu viel. Die Nähe eines mir halbvertrauten Menschen beunruhigte mich. Ich hatte Menschenhöhenangst und klammerte mich an mein Bierglas.
»Vielleicht bin ich auch nur der klassische Hysteriker«, fuhr ich fort. »Weißt du, was Hysterie ist? Ursprünglich angeblich ein reines Frauenleiden. Schon in der Antike bekannt. Überspanntheit, Krämpfe, Bewusstseinstrübung. Das Wort kommt von Hystéra, das ist Griechisch und bedeutet Gebärmutter. Wusstest du, dass die antike Medizin behauptete, die Gebärmutter nehme keine feste Stelle im Körper der Frau ein, sondern sei auf ständiger Wanderschaft? Schwanger wurde eine Frau nur, wenn sich die Gebärmutter zufällig zwischen den Beinen aufhielt. Befand sie sich dagegen im Kopf, kam es zu jenen Verhaltensmerkmalen, die wir heute als hysterisch bezeichnen. Meine persönliche Gebärmutter ist tot, wie du weißt. Dennoch stehe ich immer noch unter ihrem Einfluss. Ich bin ständig auf Wanderschaft im großen Leib der Welt. Sigmund Freud hat bekanntlich Hysterie als Folge verdrängter sexueller Wünsche interpretiert. Das war eine ziemlich maskuline Deutung. Die unbefriedigte Frau, der Blaustrumpf als Vorläuferin der Emanzipation, war damals eine Bedrohung der atavistischen Attitüden der Männer. Eine These Freuds erweist sich nachträglich übrigens als höchst modern: Hysterie als eine Form der Abwehr, die einem Akt moralischer Feigheit entspringt. Ich würde sagen, Hysterie ist eine Methode, das Rauschen der Umwelt so zu organisieren, dass eine Art Melodie dabei entsteht, die Melodie des eigenen Daseins. Und genau das ist irgendwie feige.«
Der Hustenanfall meines ehemaligen Chefs hatte endlich aufgehört. Er schien tatsächlich zugehört zu haben. »Was du sagst, ist wunderbar unklar ausgedrückt und möglicherweise sogar...