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Nordlicht - Roman

Melitta Breznik

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2009

ISBN 9783641025021 , 256 Seiten

Format ePUB

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8,99 EUR

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Zürich, 8. Mai 2003
Die Tür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihr ins Schloss. Sie hängte den Mantel umständlich an den Garderobenständer, hielt mitten in ihrer Bewegung inne, unschlüssig, ob sie zuerst die Stiefel ausziehen oder die Tasche auspacken sollte. Das Geräusch der vorbeifahrenden Straßenbahn drang ungewohnt laut von draußen herein, und sie stellte sich vor, wie der weißblaue Waggon gerade in der Kurve hinter den Häusern verschwinden würde. In der Wohnung musste ein Fenster offen stehen, vielleicht hatte sie vergessen, es am Morgen vor dem Weggehen zu schließen. Sie kam von der Arbeit in der Klinik und hatte im Kreislerladen an der Ecke ein paar Kleinigkeiten eingekauft, weil sie wusste, der Kühlschrank war leer. Den ganzen Tag hatte sie kaum Zeit gefunden, etwas zu essen oder zu trinken, und sie spürte den Hunger nicht mehr, der sie am Nachmittag geplagt hatte. Erschöpft ließ sie sich am Küchentisch nieder, knöpfte die Jacke auf und wollte nach einem langen Arbeitstag ihre Ruhe haben, wollte ihre Gedanken ordnen, die unentwegt hintereinander im Kreis jagten. In der Nacht zuvor hatte sie kaum geschlafen und tagsüber unzähligen Patienten zugehört.
Als sie die Stimme ihres Mannes hinter der Tür des Arbeitszimmers am anderen Ende des Ganges hörte, schrak sie auf, denn sie war überzeugt gewesen, er sei in die Stadt gegangen. Sie hatte von der Straße aus kein Licht in den Fenstern der Wohnung gesehen. Die Worte, die durch die Tür seines Zimmers drangen, wurden im Tonfall immer eindringlicher, und als sie seinen Namen rief, stand er auf einmal im Spalt der geöffneten Tür, das Telefon in einer Hand.
»Du bist schon da. Warum hast du nicht angerufen, dass du früher kommst?«
Sie wunderte sich ein wenig, weil er nicht wie üblich aus dem Zimmer gestürmt kam, um sie zu begrüßen, oder ihr durch die geschlossene Tür etwas zurief, sie mit Fragen überhäufte oder mit der Bitte auf sie zustürzte, ihm zuzuhören, und ohne weitere Vorbereitung die letzte Passage eines von ihm verfassten Geschäftsbriefes vorlas. Er wollte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen können, ob sie die Sätze gut fand oder nicht, und beobachtete peinlich genau ihre Reaktion, und sie musste, nachdem er vorgelesen hatte, sofort eine Meinung dazu äußern. Jedes Zögern oder Überlegen deutete er als Kritik. Manchmal stand sie beim Nachhausekommen mit Mantel und Tasche im Vorzimmer und konnte sich nicht bewegen, weil er jeden Versuch von ihr, sich die Schuhe auszuziehen oder den Schal in den Garderobenkasten zu räumen, als Unaufmerksamkeit ihm gegenüber interpretierte. Er war mit der Auflösung seiner Firma beschäftigt, die wenige Jahre nach der Gründung verkauft werden musste, um den drohenden Konkurs abzuwenden. Sein Kompagnon Leo, mit dem er seit dem Studium befreundet war, hatte sich in den Alkohol zurückgezogen und war im Geschäft nicht mehr zu gebrauchen. An seiner Stelle las sie jetzt Briefe an Gläubiger Korrektur oder hörte zu, wenn ihr Mann seinem Ärger Luft machte, weil ihm die Arbeit über den Kopf wuchs. Es schien ihr inzwischen, als arbeitete er Tag und Nacht, und sie wusste nicht recht, was ihn antrieb. Er wollte die Firma rasch auflösen, um sich eine Arbeit suchen zu können, denn von ihrem Geld wollte er nicht leben. Er hätte es als Schande empfunden, von seiner um fünfzehn Jahre jüngeren Frau abhängig zu sein.
 

»Hast du gerade telefoniert?«
Sie sah ihn mit müden Augen an.
»Nein, ich habe Selbstgespräche geführt. Ich komme gleich in die Küche.«
Er fingerte etwas abwesend an der Türklinke herum und wandte den Blick von ihr ab, und um sie abzulenken, warf er ihr noch eine Frage zu.
»Was gibt es zu essen?«
Sie hatte keine Lust zu kochen und hätte sich lieber im Gasthaus an der Kreuzung gegenüber an einen Tisch gesetzt und etwas bestellt, aber das war nicht möglich. Er lebte sparsam. Es half auch nichts, wenn sie ihn einlud, er ließ es nicht zu und verdarb mit seiner schlechten Laune, die ihn in solchen Momenten überfiel, den ganzen Abend. Sie konnte von ihm auch nicht erwarten, dass er ihr das Kochen abnehmen würde. Er saß am Schreibtisch, bis sie zur Tür hereinkam, und machte dann ein erwartungsvolles Gesicht. Manchmal dachte sie, es liege am Altersunterschied. Er gehörte der Generation an, deren Mütter es als ehranrüchig empfanden, wenn ihre Söhne in Kochtöpfen rührten, außer sie machten es zu ihrem angesehenen Beruf. Sie schwieg, wollte jetzt keine Diskussion anfangen, wie sie es noch vor einigen Jahren getan hätte, als es aus Ärger oder Verwunderung über ihn einfach aus ihr herausgebrochen war.
»Spaghetti mit Tomatensauce und Salat. Hast du eine andere Idee?«
Er hatte die Tür schnell wieder hinter sich zugezogen, sodass ihre Frage das Ziel verfehlte, und sie blieb verwirrt am Tisch sitzen, wusste nicht, ob sie etwas falsch gemacht hatte, ob sie unfreundlich zu ihm gewesen war, wusste nicht, was sie über den Telefonhörer in seiner Hand denken sollte.
 

Das letzte Wochenende fiel ihr wieder ein. Er hatte zu ihr gesagt, er müsse sich am Abend kurz die Beine vertreten, und sie hatte ihm versonnen durchs Fenster hinterhergeblickt, in der Erwartung, er würde die Straße hinunter den Weg in Richtung Innenstadt einschlagen. Doch mit einem Mal war er in der Telefonzelle auf der anderen Straßenseite verschwunden. Sie dachte auch an die Sitzung in der Klinik von heute Nachmittag, als sie den anderen Ärzten zugesehen hatte und kein Wort von dem, was gesprochen worden war, verstand, und trotz aller Bemühungen, sich zu konzentrieren, hatte sie nicht teilhaben können an dem, was vor ihren Augen abgelaufen war. Sie hätte nicht mehr zu sagen gewusst, worin der Sinn der wöchentlichen Patientenbesprechung bestand und was sie dort zu tun hatte. Die Szene war ihr mit einem Mal fremd und absurd vorgekommen, und nach einer Weile war sie aufgestanden und hatte das Büro wortlos verlassen. Sie wollte nicht wissen, was man jetzt von ihr erwartete, nachdem sie ein längeres Schweigen in der Runde bemerkte und die Blicke der anwesenden Kollegen auf sich ruhen spürte. In ihrem Büro hatte sie in einer Notiz an ihren Chef die Bitte geäußert, sie zu entschuldigen, sie fühle sich krank und werde sich am nächsten Tag melden. Sie hätte lieber mit ihm geredet, und ihm ihr Befinden geschildert, aber sie fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden, denn in der letzten Zeit wurde sie von Hirngespinsten heimgesucht, und wie wollte sie ihm das erklären. Sie konnte hinter sich in unmittelbarer Nähe eine Stimme hören, und wenn sie sich umdrehte war niemand da. Sie konnte spät am Abend, wenn sie von der Klinik heimkam, an der von der Eingangslampe erleuchteten Hauswand einen Schatten vorüberhuschen sehen, und wenn sie versuchte, ihm nachzublicken, war er verschwunden. Vielleicht hatte ihr Mann vorhin nicht telefoniert, und vielleicht war es jemand anderes gewesen, der die Telefonzelle betreten hatte. Ein diffuser Schmerz hatte schleichend im Lauf des Tages von ihr Besitz ergriffen. Es fühlte sich an, als drücke ihr eine Faust mit großer Kraft auf das untere Ende des Brustbeins. Sie hatte Mühe, richtig tief durchzuatmen.
 

Gerne hätte sie geduscht und eine halbe Stunde ausgeruht. Wenn er jedoch jetzt aus der Tür kam, hatte sie keine Zeit dazu, und alles würde so ablaufen wie immer. Sie würde kochen, er würde die Zeitung lesen oder über seine Geschäftssorgen berichten, dann würden sie gemeinsam essen. Sie wollte sich in der Küche nicht mehr von ihm helfen lassen, denn sie hatten inzwischen eine Begabung dafür, Dinge in einer eigenwillig entgegengesetzten Reihenfolge zu verrichten. Sie würden sich unweigerlich in die Quere kommen, wenn er die Lade zum Abfallkübel öffnete, und sie damit vom Herd wegdrängte, mit einer ungeschickten rauen Bewegung, mit der er ihren Oberschenkel streifen konnte, die sie wütend machte. In den letzten Monaten hatte sie den Eindruck, als befänden sie sich in einem Getriebe, das stecken geblieben war, verrostet, die abgeschliffenen Zähne griffen nicht mehr ineinander. Wenn sie ihm in die Augen sah, nahm sie wahr, dass er durch sie hindurchsah. Sie hatte sich überlegt, zu einer Freundin zu ziehen, in ein Haus am anderen Ende der Stadt. Vielleicht würde der Abstand helfen.
 

Er kam aus seinem Zimmer und saß dann mit der Zeitung in der Hand zurückgelehnt auf seinem Platz. Kein Wort mehr war über seine Lippen gekommen. Sie stand am Herd, zerteilte die Tomaten, und die Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie den großen Topf für die Teigwaren aus dem Schrank holte.
»Sag, was passiert denn, wenn ich mich jetzt auch an den Tisch setze und Zeitung lese?«
Er sah von der Zeitung auf, blickte ihr ins Gesicht, und sie wusste im selben Moment, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.
»Warum?«
Sie hatte ihm in den letzten Wochen zu erklären versucht, wie überarbeitet sie war. Sie brauchte Schlaf, den sie nur unzureichend fand, wenn er abends lange das Licht brennen ließ, weil er lesen wollte oder Notizen für seine Arbeit niederschrieb. Sie hatten einen anderen Tagesrhythmus, was nicht so schlimm für sie gewesen wäre, wenn er es akzeptiert hätte, dass sie sich für manche Nächte in ihrem Arbeitszimmer einrichtete. Beim dritten Anlauf, dort ihr Bett aufzuschlagen, hatte sie resigniert, nachdem er sie jedes Mal gebeten hatte, doch bei ihm im gemeinsamen Schlafzimmer zu bleiben.
 

Er hatte seinen Blick wieder in die Zeitung versenkt, während sie ihm gegenüber am Tisch Platz nahm und ihn beobachtete. Dann stand sie auf, nahm...