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Sunset

Stephen King

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641025311 , 496 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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WILLA


Du siehst nicht mal, was du direkt vor Augen hast, hatte sie gesagt, aber manchmal sah er es doch.Wahrscheinlich war ihre Häme nicht ganz unverdient, aber völlig blind war er auch nicht. Und während das Abendrot über der Wind River Range zu bitterem Orange verglomm, blickte David im Bahnhof umher und sah, dass Willa fort war. Er sagte sich, dass er sich da nicht sicher sein konnte, aber das war nur sein Kopf – das flaue Gefühl im Magen war sich sicher genug.

Er machte sich auf die Suche nach Lander, der sie ein bisschen mochte; der gemeint hatte, sie habe Mumm, als Willa sagte, es sei eine Sauerei von Amtrak, die Leute hier so hängenzulassen. Viele von ihnen konnten sie nicht leiden, ob Amtrak sie nun hängenließ oder nicht.

»Hier riecht’s nach feuchtem Keks!«, rief Helen Palmer ihm zu, als David vorbeikam. Sie hatte zu der Bank in der Ecke gefunden, wie sie es schließlich immer tat. Die Rhinehart wachte im Moment über sie, was dem Ehemann eine kleine Atempause verschaffte, und sie lächelte David zu.

»Haben Sie Willa gesehen?«, fragte David.

Die Rhinehart schüttelte den Kopf, immer noch lächelnd.

»Es gibt Fisch zum Abendessen!«, schimpfte Mrs. Palmer. Ein Kranz blauer Adern pochte an ihrer Schläfe. »Auch das noch!«

»Pscht, Helen«, sagte die Rhinehart.Vielleicht hieß sie Sally, aber an so einen Namen, dachte David, hätte er sich erinnert; es gab heutzutage zu wenig Sallys. Jetzt gehörte die Welt den Ambers, Ashleys und Tiffanys. Willa war auch so eine aussterbende Spezies, und allein schon bei dem Gedanken wurde ihm wieder flau im Magen.

»Feuchter Keks!«, fauchte Helen. »Dreckige alte Penner!«

Henry Lander saß auf einer Bank unter der Uhr. Er hatte den Arm um seine Frau gelegt. Er blickte auf und schüttelte den Kopf, noch ehe David fragen konnte. »Sie ist nicht hier. Tut mir leid. Nur mal eben in die Stadt gegangen, wenn Sie Glück haben. Endgültig auf und davon, wenn nicht.« Er mimte eine Anhaltergeste.

David glaubte nicht, dass seine Verlobte auf eigene Faust gen Westen trampen würde – absurde Vorstellung –, aber dass sie nicht hier war, das glaubte er wohl. Hatte es eigentlich schon gewusst, bevor er die Anwesenden zählte, und eine Verszeile aus einem alten Wintergedicht kam ihm in den Sinn: ein Schrei der Trennung, Abwesenheit im Herzen.

Der Bahnhof war eine enge hölzerne Kehle, in der die Leute entweder ziellos auf und ab wanderten oder auf den Bänken unter den Neonlampen saßen. Die Schultern derer, die saßen, wiesen jene typische Schlaffheit auf, die man nur an Orten wie diesem sah, wo die Leute darauf warteten, dass das, was auch immer schiefgegangen war, wieder in Ordnung kam, damit die unterbrochene Reise fortgesetzt werden konnte. Nicht viele Leute begaben sich absichtlich an Orte wie Crowheart Springs,Wyoming.

»Laufen Sie ihr bloß nicht hinterher, David«, sagte Ruth Lander. »Es wird schon dunkel, und da draußen gibt’s jede Menge Viechzeugs. Und nicht nur Kojoten. Dieser Buchhändler mit dem Hinkebein sagt, dass er auf der anderen Seite der Gleise Wölfe gesehen hat, drüben bei den Güterwagen.«

»Biggers«, sagte Henry. »So heißt er.«

»Von mir aus kann er Jack D. Ripper heißen«, sagte Ruth. »Ich meine nur, wir sind hier nicht mehr in Kansas, David.«

»Aber wenn sie doch …«

»Sie ist weg, als es noch hell war«, sagte Henry Lander, als würde das Tageslicht einen Wolf (oder einen Bären) davon abhalten, eine einzelne Frau anzufallen. Konnte ja sein, was wusste David schon. Er war Investmentbanker, nicht Wildhüter. Ein junger Investmentbanker obendrein.

»Wenn der Ersatzzug kommt und sie nicht da ist, wird sie ihn verpassen.« Dieses simple Faktum schien ihnen nicht in den Kopf zu wollen. Es griff einfach nicht, wie es in dem gängigen Jargon seines Büros in Chicago heißen würde.

Henry hob die Augenbrauen. »Meinen Sie, dass es irgendwie besser ist, wenn Sie ihn beide verpassen?«

Wenn sie ihn beide verpassten, könnten sie entweder einen Bus nehmen oder zusammen auf den nächsten Zug warten. Das mussten Henry und Ruth Lander doch einsehen. Oder vielleicht auch nicht.Was David vor allem sah, wenn er sie anblickte – was er direkt vor Augen hatte –, war jene seltsame Mattigkeit, die mitten im Nirgendwo festsitzenden Leuten vorbehalten war. Und wer machte sich schon etwas aus Willa? Wer außer David Sanderson würde auch nur einen Gedanken an sie verschwenden, wenn sie hier in der Pampa verschwand? Sie war sogar regelrecht verhasst. Diese Ziege Ursula Davis hatte mal gesagt: »Willas Mutter hätte das a am Ende ihres Namens gleich weglassen können, das wäre viel passender gewesen.«

»Ich werde in die Stadt gehen und sie suchen«, sagte er.

Henry seufzte. »Das ist sehr unvernünftig, mein Sohn.«

»Wir können nicht in San Francisco getraut werden, wenn sie in Crowheart Springs zurückbleibt«, sagte er, um die Sache ins Scherzhafte zu ziehen.

Dudley kam vorbei. David konnte nicht sagen, ob Dudley sein Vor- oder Nachname war, nur dass er eine leitende Stellung bei Staples-Bürobedarf innehatte und auf dem Weg nach Missoula zu irgendeiner Regionalversammlung gewesen war. Er war normalerweise sehr still, weshalb das wiehernde Lachen, das er in die wachsenden Schatten aussandte, nicht nur überraschend, sondern geradezu schockierend wirkte. »Wenn der Zug kommt und Sie ihn verpassen«, sagte er, »können Sie einen Friedensrichter ausfindig machen und sich hier an Ort und Stelle trauen lassen. Und wenn Sie dann zurück im Osten sind, erzählen Sie Ihren ganzen Freunden, dass Sie eine Blitzheirat im echten Western-Stil hatten.Yippie, Cowboy.«

»Tun Sie’s nicht«, sagte Henry. »Wir bleiben hier nicht mehr lange.«

»Ja, soll ich sie denn im Stich lassen? Das ist doch Schwachsinn.«

Er ging weiter, ehe Lander oder seine Frau noch etwas erwidern konnten. Georgia Andreeson saß auf einer Bank nahebei und sah ihrem Töchterchen zu, das in einem roten Reisekleid über den schmutzigen Fliesenboden hüpfte. Pammy Andreeson schien nie müde zu werden. David versuchte sich zu erinnern, ob er sie irgendwann hatte schlafen sehen, seit der Zug am Wind-River-Knotenpunkt entgleist war und sie wie ein vergessenes Päckchen in einem toten Briefkasten hier gelandet waren. Einmal vielleicht, mit dem Kopf auf dem Schoß der Mutter. Aber das bildete er sich möglicherweise nur ein, im Glauben, dass Fünfjährige eine Menge Schlaf brauchten.

Pammy hopste von Fliese zu Fliese. Der leibhaftige Schabernack, benutzte sie die Vierecke als riesiges Hüpfspiel. Das rote Kleid wippte um ihre pummeligen Knie. »Ich kenne einen, der heißt Jo«, deklamierte sie in einem monotonen Singsang, so schrill, dass David die Plomben wehtaten. »Er stolpert und fällt auf den Po. Ich kenne einen, der heißt David. Er stolpert und fällt auf den Bavid.« Sie kicherte und zeigte auf David.

»Hör auf, Pammy«, sagte Georgia Andreeson. Sie lächelte David zu und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Die Geste erschien ihm unsäglich erschöpft, und er dachte, dass ihr noch ein langer Weg mit der quirligen Pammy bevorstand, vor allem ohne einen Mr. Andreeson in Sicht.

»Haben Sie Willa gesehen?«, fragte er.

»Ist gegangen«, sagte sie und deutete auf die Tür mit dem Schild ZU BUS, TAXI, TELEFON – ERKUNDIGEN SIE SICH IM VORAUS NACH FREIEN HOTELZIMMERN darüber.

Jetzt kam Biggers auf ihn zugehumpelt. »Ich würde mich nicht ins Freie wagen, außer mit einem Schnellschussgewehr. Da draußen gibt es Wölfe. Ich habe welche gesehen.«

»Ich kenne eine, die heißt Willa«, sang Pammy. »Die hat Kopfweh und nimmt ’ne Pilla.« Sie schmiss sich hin und brüllte vor Lachen.

Biggers, der Handlungsreisende, hatte keine Antwort abgewartet. Er humpelte quer durch den Bahnhof zurück. Sein Schatten wurde lang, verkürzte sich im Schein der hängenden Leuchtstoffröhren, wurde wieder lang.

Phil Palmer lehnte im Türrahmen unter dem Schild. Er war Versicherungsvertreter im Ruhestand. Er und seine Frau waren auf dem Weg nach Portland. Sie hatten vor, eine Weile bei ihrem ältesten Sohn und dessen Frau zu bleiben, aber Palmer hatte David und Willa im Vertrauen erzählt, dass Helen wohl nie mehr in den Osten zurückkommen würde. Sie hatte Krebs und außerdem Alzheimer.Willa nannte das einen Doppelpack. Als David meinte, das sei ein wenig grausam, hatte Willa ihn angesehen, zu einer Entgegnung angesetzt und dann nur den Kopf geschüttelt.

Nun fragte Palmer, wie er es immer tat: »He, Kumpel – haste mal ’ne Kippe?«

Worauf David wie immer antwortete: »Ich rauche nicht, Mr. Palmer.«

Und Palmer sagte zum Abschluss: »War nur ’n kleiner Test, Junge.«

Als David auf den Bahnsteig hinaustrat, wo Ankömmlinge auf den Pendelbus nach Crowheart Springs warteten, runzelte Palmer die Stirn. »Keine gute Idee, mein junger Freund.«

Irgendetwas – vielleicht ein großer Hund, vielleicht aber auch nicht – erhob ein Geheul von der anderen Seite des Bahnhofs her, wo das Gestrüpp fast bis zu den Gleisen wucherte. Eine zweite Stimme fiel ein, was eine gewisse Harmonie erzeugte. Sie verebbten im Einklang.

»Siehste, was ich meine?« Palmer lächelte, als hätte er das Geheul heraufbeschworen, nur um zu beweisen, dass er Recht hatte.

David wandte sich um, und seine leichte Jacke flatterte in dem scharfen Wind. Eilig stieg er die Stufen hinab, bevor er es sich anders überlegen konnte. Nur die erste Stufe kostete ihn echte Überwindung, danach dachte er bloß noch an Willa.

»David«, sagte Palmer, jetzt ganz ohne Frotzelei. »Tu’s nicht.«

»Warum nicht? Sie hat’s ja auch getan. Außerdem...