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Billigflieger - Roman

Philip Tamm

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641024369 , 260 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR

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4. Nächte und Nächte
Am nächsten Morgen liege ich am Strand in der Höhe vom Balneario Nummer fünf und müsste nach medizinischen Maßstäben tot sein. Ich bin eben Pauschaltourist: Übernachtung, Frühstück, Alkoholvergiftung. All inclusive. Mann, geht’s mir gut …
Na ja, das heißt – so richtig gut geht’s mir gar nicht. Oder sagen, wir: nicht ganz. Was denn jetzt? Gut oder nicht gut? Klingt alles ziemlich bescheuert, oder? Finde ich auch. In Ordnung, dann will ich einfach mal versuchen, die Vorkommnisse des gestrigen Abends der Reihe nach zu erklären.
Es ist nämlich grundsätzlich so, dass man sich am Morgen nach einer Nacht, wie ich gerade eine hinter mir habe, immer wie ein auf der Straße plattgefahrener Igel fühlt – mehr tot als lebendig. Man wünscht sich eigentlich nur, man HÄTTE ES NICHT GETAN. Ihr wisst schon: man hätte nicht so viel getrunken.
Das Gehirn scheint aus Stahlwolle zu bestehen, die ununterbrochen an der Schädeldecke entlangkratzt. Die Zunge ist aufgequollen und mit einem Belag überzogen, der wie Pizza Funghi schmeckt. Und der Rest des Körpers ist auch nicht weit von der Leichenstarre entfernt. Also liegt man da und sagt sich, dass die letzten zehn Bier echt überflüssig waren. Hätte man sie doch nicht getrunken!
Das ist aber in meinem Fall leider nicht alles. Denn mit den Folgen eines ganz normalen El-Arenal-Besäufnisses könnte ich umgehen. Den Zustand kenne ich nämlich schon. Bin schließlich nicht zum ersten Mal hier.
Nein, ausnahmsweise wünsche ich mir noch aus ganz anderen Gründen, dass ICH ES NICHT GETAN HÄTTE. Ich wünsche mir, wir wären nicht noch einmal losgezogen, hätten uns nicht die Kante gegeben und uns nicht wieder ins Nachtleben auf der Schinkenstraße gestürzt. Sondern wir wären ganz brav bei unserem ursprünglichen Plan geblieben und still und brav ins Hotel zurückgekehrt. WEIL MEIN LEBEN DANN ENTSCHIEDEN UNKOMPLIZIERTER WÄRE.
Es war so: Nachdem wir gestern Nacht beschlossen hatten, aus dem Qualifying doch noch das richtige Rennen zu machen, sind wir auf direktestem Wege zum Oberbayern gegangen. Dazu muss man wissen, dass diese Kneipen-Diskothek für uns so etwas wie das Herz des Ballermann ist. Ganz egal, was man sucht – ein Bier, eine Tanzfläche, eine Frau fürs Leben (oder eine Frau für eine Nacht) – hier findet man alles. Und zwar mit Garantie.
Benni, Hacki und Schröder waren schon die ersten Stufen hinunter zum Eingang des Oberbayern gegangen (liegt nämlich im Keller, der Laden), als sich unten für einen kurzen Moment die Tür öffnete. Ein paar angetrunkene, fröhlichlaute Gäste kamen herausgetorkelt, begleitet von einer Wolke aus Bierdunst, Zigarettenqualm und Schweiß – das typische Oberbayern-Aroma, das wir so sehr lieben.
Bei mir aber hatte dieser kurze, intensive Eindruck eine überraschende Wirkung. Ich wusste plötzlich, dass ich einen kurzen Boxenstopp brauchte, bevor ich für den Rest der Nacht auf die Rennstrecke ging. Sprich, ich wollte einfach für einen Augenblick alleine sein. Ist ja auch kein Wunder – mir wurde nämlich mal wieder siedend heiß klar, dass ich in einer Woche heiraten werde. Da hat man schon mal sentimentale Anwandlungen. Immerhin würde dieses freie, unbeschwerte Leben, in das ich mich gerade stürzen wollte, demnächst vorbei sein. Und zwar für immer.
Darum sagte ich zu den Jungs: »Geht schon mal vor. Ich komme gleich nach.«
»Wohin willst du denn?«, erkundigte sich Hacki und sah mich verwundert an.
»Ich brauche einfach mal kurz frische Luft.«
»Igitt. Wie gesund!« Daraufhin verschwanden er, Schröder und Benni im Oberbayern, während ich genau in die andere Richtung ging, nämlich zum nahe gelegenen Strand von Arenal.
Ich wusste sofort, dass meine Entscheidung richtig gewesen war. Je weiter ich mich nämlich entfernte von der Promenade, die auch um diese Zeit noch voll mit Kneipenbummlern, Animateuren, afrikanischen Uhrenverkäufern und albanischen Hütchenspielern war, desto besser ging es mir. Ich näherte mich dem Ufer, und die Stille und die leichte Brise, die vom Wasser herwehte, taten mir unendlich gut. Ich wurde sogar so etwas wie nüchtern.
Eine ganze Weile wanderte ich durch den Wald der zusammengeklappten Sonnenschirme und vorbei an den Bergen aus ineinandergestapelten Strandliegen. In wenigen Stunden schon würde es hier wieder rammelvoll sein wie in einer Sardinenbüchse. Die Sonnenanbeter würden dicht an dicht nebeneinanderliegen und ihre sonnenverbrannte Haut mit weiteren Karzinomen bestücken. Jetzt aber war niemand hier. Absolut niemand. Das Meer und die Nacht gehörten mir ganz alleine.
Ich zog meine Turnschuhe aus und spazierte ein gutes Stück am Strand entlang. Die Wellen umspielten meine Füße, in der Ferne glitzerten die Lichter von Palma, und über mir leuchteten Millionen Sterne am klaren Himmel von Malle. Es war ein perfekter Augenblick, und allmählich kamen auch meine Gedanken zur Ruhe, in denen zuvor ein ziemliches Durcheinander aus Alkohol, Kneipentalk und Go-go-Girls geherrscht hatte.
Ich schlenderte in Richtung Balneario Nummer zehn. In dieser Höhe der Bucht ist nachts nicht mehr viel los. In den Hotels, die hier die Promenade säumen, wohnen gutsituierte Rentner und Patchworkfamilien mit ihren Kinderhorden. Menschen also, die um diese Uhrzeit längst schlafen.
Es war still und dunkel und einsam. Und ich dachte, dass ich vermutlich, wenn ich das nächste Mal nach Malle käme, um diese Uhrzeit auch in einem Hotel liegen und schlafen würde – in einem Zimmer mit meiner Frau und meiner Kinderhorde.
Der Gedanke löste ziemlich gemischte Gefühle in mir aus. Denn einerseits war es doch nur natürlich zu heiraten, Nachwuchs zu zeugen und nach und nach übergewichtig, schlecht gelaunt und antriebslos zu werden. Andererseits – ja, was eigentlich?
Während ich mir gerade Gedanken über dieses »andererseits« machte, sah ich – SIE.
Das heißt, zuerst war ich mir gar nicht sicher, was ich sah. Stand da ein Mensch in den Wellen? Oder eine Säule? Oder ein Walfisch, der zu viel Viagra geschluckt hatte und seine Erektion nicht mehr loswurde?
Ich ging ein paar Schritte weiter in die Richtung und stellte fest, dass ich keineswegs einer optischen Täuschung erlegen war. Was ich da sah, war ein Mensch. Es war sogar, genau genommen, eine Frau.
Sie stand bis zur Hüfte im Wasser, mitten in den Wellen, mitten im pechschwarzen Mittelmeer, vielleicht zehn Meter vom Strand entfernt, und rührte sich nicht. Sie stand da wie hypnotisiert.
Doch das allein war noch nicht einmal ungewöhnlich. Schließlich traf man hier immer mal wieder Mitternachtsbadegäste, die sich mit so viel Alkohol angeglüht hatten, dass sie im Meer eine Abkühlung suchten. Ungewöhnlich war höchstens, dass diese Frau alleine war. Und dass sie vollständig angezogen war, obwohl sie wie gesagt im Wasser stand.
Irgendwie spürte ich, dass da etwas nicht in Ordnung war. Und dass sie möglicherweise vorhatte, noch tiefer ins Wasser zu gehen und nicht wieder rauszukommen. Aber auch das war normalerweise noch kein Grund, um gleich Alarm zu schlagen.
Weil sich Frauen ja bekanntermaßen wegen allem möglichen Blödsinn immer direkt umbringen wollen. Weil ihre Frisur nicht sitzt. Oder weil der Typ, den sie anbeten, zufällig ein Rockstar ist und nur mit Dreizehnjährigen ins Bett geht. Oder weil ihre besten Freundinnen ein halbes Kilo weniger wiegen als sie selbst. (Darum ist man gut beraten, nicht direkt in Panik zu verfallen, nur weil sie ihrer Umwelt androhen, auf der Stelle aus dem Leben scheiden zu wollen. Sollen sie ihre Epiliergeräte doch einfach an ihre Handgelenke halten und feststellen, dass man sich damit die Pulsadern gar nicht aufschneiden kann. Sollen sie doch ruhig eine Handvoll Schlaftabletten runterwürgen, um dann auf dem Weg zum Klo festzustellen, dass sie aus Versehen ihr neues Abführmittel geschluckt haben. Sollen sie doch mit dem Aufzug aufs höchste Haus in der Stadt fahren und dann, statt runterzuspringen, feststellen, dass da oben gerade ein neues Luxusrestaurant aufgemacht hat, in das sie von ihrem Freund unbedingt noch einmal ausgeführt werden wollen, bevor sie dem Ganzen ein Ende setzen – was dann aber gar nicht mehr nötig ist, weil sie dahinterkommen, dass sie eigentlich ziemlich glücklich sind.)
Klar, all das stimmt. Aber ich wollte es in der Situation gestern Abend nun einmal nicht darauf ankommen lassen. Weil man es nie wissen kann. Vielleicht meinte sie es ja doch ernst. Und ich hatte nun einmal nicht vor, in dieser wunderbaren Nacht Zeuge davon zu werden, dass eine Frau sich etwas antut.
Ich ließ meine Schuhe, die ich in der Hand hielt, in den Sand fallen und watete kurz entschlossen durch die Wellen zu ihr hinaus. Und zwar langsam und so leise wie möglich. Ich wollte ja auf keinen Fall eine Panikreaktion bei ihr auslösen.
Um also möglichst beruhigend auf sie einzuwirken, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit. Ich trat direkt hinter sie und legte einfach meine Arme um sie – so als würden wir uns kennen und lieben und sehr vertraut miteinander umgehen.
Und sie, was soll ich euch sagen, ließ es einfach geschehen. Sie zuckte nicht zusammen, drehte sich nicht um und gab mir keine Ohrfeige, auch riss sie sich nicht los, um sich tatsächlich ins Meer zu stürzen und zu ertränken.
Nein, sie legte einfach ihre Hände auf meine, und ich konnte spüren, wie sie sich in meiner Umarmung entspannte und sich sogar gegen mich lehnte.
Und dann standen wir da, zwei Fremde, die voneinander nicht einmal...