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Kontrapunkt - Roman

Anna Enquist

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2009

ISBN 9783641025069 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Aria
Die Frau mit dem Bleifstift las über den Tisch gebeugt in einer Taschenpartitur der Goldberg-Variationen. Der Bleistift war aus edlem, schwarzem Holz und hatte eine Kappe aus schwerem Silber, in der sich ein Anspitzer verbarg. Der Bleistift schwebte über einem leeren Heft. Neben der Partitur lagen Zigaretten und ein Feuerzeug. Und ein kompakter kleiner Metallaschenbecher stand auf dem Tisch, das funkelnde Geschenk eines Freundes.
Die Frau hieß einfach nur »Frau«, vielleicht auch »Mutter«. Es gab Probleme mit der Benennung. Es gab viele Probleme. Im Bewusstsein der Frau waren es vorrangig Probleme mit der Erinnerung. Die Aria, die sie sich ansah, das Thema, zu dem Bach seine Goldberg-Variationen komponiert hatte, erinnerte die Frau an die Zeiten, da sie diese Musik einstudiert hatte. Als die Kinder klein waren. Davor. Danach. Auf solche Erinnerungen war sie nicht aus. Ein Kind auf jedem Schenkel, und dann mit den Armen um die Kinderleiber herum versuchen, das Thema herauszubekommen; im Kleinen Saal des Concertgebouw sitzen, den Pianisten auf die Bühne kommen sehen, atemlos auf die nackte Oktave des Einsatzes warten – den Ellbogen der Tochter spüren: »Mama, das ist unser Lied!« Das musste jetzt nicht sein. Sie wollte ausschließlich an ihre Tochter denken. Die Tochter als Baby, als Mädchen, als junge Frau.
Die Erinnerungen waren zu blassen Gemeinplätzen geschrumpft, die niemandes Interesse würden wecken können. Sie konnte nichts über die Tochter erzählen, sie kannte die Tochter nicht. Dann schreib doch darüber!, dachte sie wütend. Auch die Umgehung ist Bewegung, auch das Negativ zeigt ein Bild. Ob auch die Stille Musik war, wusste sie noch nicht so recht.
Bevor sie sich an den Tisch gesetzt hatte, hatte sie einen Artikel über die Zeitempfindung bei einem südamerikanischen Indianerstamm gelesen. Die Menschen dieses Volkes sahen die Vergangenheit vor sich und spürten die Zukunft im Rücken. Ihr Gesicht war der Geschichte zugewandt, und was noch anstand, kam als unvorhergesehener Überfall. Diese Art der Zeitempfindung spiegele sich in Sprachgebrauch und grammatikalischen Konstruktionen wider, so der Autor des Artikels. Die eigenartige umgekehrte Orientierung war von einem Sprachwissenschaftler entdeckt worden.
Der Frau fiel ein, dass sie die gleiche Geschichte schon einmal mit den alten Griechen in der Hauptrolle gelesen hatte. Doch trotz jahrelangen Unterrichts in griechischer Sprache und Literatur hatte sie davon nie etwas bemerkt. Vielleicht noch zu jung damals. Zu viel Zukunft, undenkbar, die Augen nicht darauf auszurichten.
Die Frau war noch nicht wirklich das, was man eine alte Frau nennen würde, aber ein gutes Stück dem Ende entgegengekommen war sie schon. Sie hatte eine umfangreiche Vergangenheit.
Die Vergangenheit. Das, was vergangen war. Angenommen, man würde wie so ein Indianer ganz selbstverständlich darauf blicken, man würde damit aufwachen, es würde einen den ganzen Tag begleiten, sich als Landschaft für den Traum anbieten. So eigenartig ist das gar nicht, dachte die Frau, eigentlich ist es genau so. Sie schloss die Augen und stellte sich die Zukunft in Gestalt eines Mannes vor, der hinter ihr stand, den sie nicht sah.
Die Zukunft hielt sie mit starken Armen umschlungen, ließ vielleicht sogar kurz das Kinn auf ihr ruhen. Die Zukunft war größer als sie. Lehnte sie sich rücklings an seine Brust? Spürte sie seinen warmen Bauch? Sie wusste, dass er über ihre Schulter mit in ihre Vergangenheit blickte. Erstaunt, interessiert, gleichgültig?
Mit großer Verbundenheit, nahm sie mal gutgläubig an. Er war schließlich ihre persönliche Zukunft. Sie atmete gegen seinen rechten Arm, der über ihrer Brust lag. An ihrem Hals eigentlich. Wenn er diesen Arm etwas weniger krampfhaft um sie legte, bekäme sie mehr Luft. Könnte sie etwas sagen.
Die Zukunft zog sie an sich, so fest, dass sie einen kleinen Schritt zurück machen musste. Und noch einen. Sie widersetzte sich. Die Vergangenheit musste nah bleiben, sie wollte volle Sicht darauf. Der Druck des Arms wurde unangenehm, es schien, als wollte die Zukunft sie mit aller Gewalt mit sich ziehen, sie zwingen, mit ihr rückwärts zu gehen, im Gleichtakt, mit beinahe eleganten Tanzschritten. Sie stemmte die Absätze in den Boden. Die Umarmung wurde zum Würgegriff, sie erstickte in den Armen der Zukunft. Sein Name ist Zeit. Er wird sie von dem wegführen, was ihr lieb ist, er wird sie an Orte bringen, wo sie nicht sein möchte.
 

Die Schlagzeuger auf dem Konservatorium waren eine Sorte Studenten für sich. Sie hausten in einer umgebauten Kirche, drehten sich ihre Zigaretten selbst und fingen spät an. Wenn sie in der Orchesterklasse mitmachten, hielten sie sich von den Streichern fern. Wie Bauarbeiter gingen sie hinten auf dem Podium zu Werke: Xylophone aufstellen, Glocken an Ständer hängen, Pauken im Format von Waschbottichen stimmen. Sie trugen Turnschuhe und riefen sich laut unverständliche Kürzel zu.
Von uns allen haben sie die größte Begabung für die Einteilung der Zeit, hatte die Frau, die damals noch jung war, gedacht, wenn sie dem Orchester vom Saal aus bei seinen Vorbereitungen zuschaute. Die Schlagzeuger tragen nicht schwer an der Zeit, machen kein philosophisches Problem daraus. Sie vernehmen den Pulsschlag, machen darüber die Rhythmen, übersetzen in Bewegungen, was sie spüren. Sie sind mit Warten und Schlagen beschäftigt, Warten und Schlagen, Schlagen.
Uns Menschen ist die Fähigkeit angeboren, aus einer Reihe genau gleicher Piepstöne bestimmte Muster herauszuhören. Wir können nicht anders. Das Strukturieren ist eine Eigenschaft unseres Gehirns, unseres Wesens, eine Überlebensstrategie, eine Krankheit. So machen wir aus dem unorganisierten, undurchsichtigen Brei um uns herum eine erkennbare und vertrauenerweckende Kulisse. Wir wissen gar nicht mehr, dass nichts davon stimmt, dass die Erkennbarkeit und das Vertrauen von uns selbst geschaffen werden. Man könnte einmal untersuchen, ob Strukturierungsmuster mit Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhängen. Warum hört der eine einen Viervierteltakt und der andere einen Sechsachtel?
Wieso musste sie das alles jetzt denken, das war doch völlig konfus?
 

Es ging um die Zeit, die an ihrem Hals zog wie ein ungeduldiger Liebhaber, der sie systematisch zwang, rückwärts zu gehen, so dass die Sicht auf das, was vergangen war, immer schlechter wurde.
Mit einem großen Satz in die zurückliegende Zeit springen, dachte die Frau. Oder sich klammheimlich, in bleigrauer Vermummung zurückschleichen, zu einem Nachmittag voller Lieder, voller Musik, ein Kind links, ein Kind rechts. Diese Szenerie dann sehen, so eindringlich wie damals, als es wirklich geschah. Dasselbe fühlen, riechen, hören wie damals.
Nein, so geht das nicht, man empfindet nie dasselbe. Natürlich kann man zurückblicken (»vorausblicken«), doch die seither verstrichene Zeit, das, was in dieser Zeitspanne vorgefallen ist, färbt die Wahrnehmung. Niemals kann etwas in zwei verschiedenen Momenten dasselbe sein oder jedenfalls nicht als »dasselbe« wahrgenommen werden, weil sich der Wahrnehmende verändert hat.
Schau dir doch die Goldberg-Variationen an. Du spielst die Aria. O nein, dachte die Frau, nie mehr werde ich die Aria spielen. Na gut, du hast die Aria gespielt, Vergangenheitsform, dieses ruhige, tragische Lied. Es ist eine Sarabande, hör mal, ein feierliches Tempo und Nachdruck auf jeder zweiten Zählzeit, ein langsamer, vielleicht sogar gravitätischer Tanz. Du hast die Aria mit Einsatz gespielt, mit Leidenschaft, mit der Verpflichtung, es fehlerlos zu tun. Zum Schluss hin vervielfachen sich die Noten, aus den langen Notenwerten werden Ketten von Sechzehnteln, aber der ernste Rhythmus geht nicht verloren. Du hast der Versuchung, dann leiser, flüsternd zu spielen und mit einem kaum noch hörbaren Seufzer zu enden, nicht nachgegeben. Nein, auch damals schon hast du diese tristen Tongirlanden über der ruhig fortschreitenden Basslinie anschwellen lassen, hast nichts überhastet, sondern eher noch unmerklich ein wenig verzögert – kraftvoll, ungebrochen. Bis zum Schluss.
Nach der Aria komponierte Bach dreißig Variationen, in denen er das harmonische Schema, die Akkordfolge der Sarabande, beibehielt. Ihre Basslinie war die Konstante, gegen die er unerhörte Veränderungen abbildete. Zum Schluss erklang die Aria erneut. Die gleiche Sarabande, kein Ton mehr oder weniger. Aber war es das Gleiche? Ja, es waren die gleichen Noten. Nein, der Spieler und der Zuhörer konnten die dreißig Variationen zwischen dem ersten und dem letzten Ertönen der Sarabande nicht auslöschen. Mochte die zweite Aria auch mit der ersten identisch sein, man hörte sie doch anders, weil in der Zwischenzeit etwas geschehen war. Man konnte nicht zurück zu der Zeit, da man die Variationen noch nicht gehört hatte.
 

Ach, wie gern würde sie die Goldberg-Variationen einstudieren, aber sie hatte sich in die Aria verstrickt wie in ein Fangnetz. Lass es bleiben, hatte ihr Lehrer damals gesagt, das ist ein solches Gewurstel mit den Händen übereinander, viel Arbeit, wenig Ertrag. Nimm dir doch eine schöne Partita vor, eine nette Toccata, die Chromatische Fantasie!
Die Frau hatte sich gefügt, kein Problem, der Ratschlag war richtig und verständlich. Aber gleich nach der Abschlussprüfung hatte sie die Partitur aufs Notenpult gestellt.
Wenn kein Zeit- und Leistungsdruck mehr da sind, kommt es auf Disziplin an, und die kann man nur mit Leidenschaft nähren. Sie war so weit in die Musik eingedrungen, wie es ihre Möglichkeiten erlaubten. Worüber...