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Reif für die Insel - oder Was ich dir sagen will ... Eine Sylt-Geschichte

Gisa Pauly

 

Verlag Aufbau Verlag, 2012

ISBN 9783841203465 , 160 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

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8,99 EUR


 

1.


Warum ausgerechnet Sylt? Warum Westerland? Kann es nicht Hamburg, München oder Düsseldorf sein? Er muss verrückt geworden sein! In einer Großstadt wäre sein Plan viel leichter in die Tat umzusetzen! Aber nein, er musste sich ausgerechnet für Sylt entscheiden! Für eine Insel, von der man nicht einfach fliehen kann — hinters Steuer, auf die Autobahn, Fuß aufs Gas und weg. Und das Schlimme ist, er weiß genau, warum er es getan hat. Er kann sich nichts vormachen, alles hängt irgendwie mit Sylt zusammen. Das, was in den vergangenen vierzig Jahren geschehen ist, und erst recht das, was nun geschehen wird. Also ist es doch richtig, dass er sich für Sylt entschieden hat?

Ja, es muss wohl so sein. Alles ist richtig. Auch die Fahrt über den Hindenburgdamm ist genau richtig für jemanden, der sich so schwer vom Festland löst wie Paul, der sich so ängstlich auf diese Insel zu bewegt wie er. Der Hindenburgdamm ist besser als eine Flugroute, sogar besser als ein Wasserweg. Die Fahrt mit dem Auto, wenn es auch auf einem Waggon steht, hinter dem Steuer, wenn auch das Lenkradschloss eingerastet ist, erscheint wohltuend normal. Und dass das Navigationssystem durchdreht und sinnlose Anweisungen gibt, amüsiert ihn. Warum sitzt er eigentlich so aufrecht und steif da, als wäre er selbst und nicht der Lokführer für die sichere Fahrt nach Sylt verantwortlich? Eine lange Autofahrt hat er hinter sich. Zeit, während der halben Stunde auf dem Autozug ein Nickerchen zu halten.

Paul tastet an der linken Seite des Fahrersitzes entlang, wo es mehrere Tasten und Hebel gibt. Fast ein Jahr besitzt er dieses Auto nun, und noch immer weiß er nicht, wie sich die Rückenlehne verstellen lässt. Erster Versuch — der Sitz schießt nach hinten, zweiter Versuch — die Sitzfläche neigt sich, dritter Versuch — die Rückenlehne schlägt ihm in den Nacken. Sie mit der gleichen Taste wieder nach hinten zu neigen, gelingt ihm erst, nachdem er versehentlich den Fensterheber betätigt hat. Der scharfe Wind greift mit langen, spitzen Fingern ins Wageninnere, nimmt sich, was er zu fassen bekommt, reißt an sich, was nicht niet- und nagelfest ist. Zum Beispiel die kleinen Notizzettel, die Paul in die Ritzen der Klimaanlage gesteckt hat. Zu blöde aber auch, dass er als Erstes in sein schütteres Haar greift, das keine Unordnung verträgt, wenn der Schein, der durch aufwändiges Föhnen erreicht worden ist, erhalten bleiben soll. Um seine Haarpracht hätte er sich später kümmern können, für einen der Notizzettel kommt diese Erkenntnis zu spät. Er wird aus dem Fenster gerissen, steht für ein paar Augenblicke auf der Spitze eines Wirbels, flattert dann aufgeregt von einem Auto zum anderen, kollidiert mit einer Antenne und erhält, nachdem er sie einmal umrundet hat, den Schwung, der ihn den Möwen nachschickt.

Paul stöhnt auf und lehnt sich zurück. Vielleicht wird in zwei, drei Tagen alles anders sein. Möglicherweise sucht er dann gerade nach dem Gedanken, den er auf dem Zettel notiert hat, oder aber es kommt auf diesen Gedanken nicht mehr an. Er blickt einer Möwe nach, die dem Sylt-Shuttle vorausfliegt, und begreift, dass er ihr folgen muss, dass es keine Rückkehr geben wird. Die Entscheidung ist gefallen. Wie oft hatte er sich geschworen, es auf keinen Fall zu tun. Niemals! Warum diesmal? Weil sich sein Leben ändern soll nach der Scheidung? Weil Uschi sowieso nicht mehr dichthalten wird?

Pauls Augen wandern übers Watt. Wie friedlich es daliegt! Selbst jetzt, wo der frische Wind die Oberfläche aufreibt, sodass sie rau wird und Kälte spiegelt. Seinen Frieden verliert das Watt trotzdem nicht. Das Wasser steigt, mittlerweile ist ein großer See entstanden, der den Himmel aufsaugt. Ja, es liegt wohl an Sylt.

Ich besitze ein Ferienhaus. Ein reetgedecktes Ferienhaus auf Sylt. Das ist doch schon was! Ich will jetzt an nichts anderes denken. Nicht an das, was ich verloren habe, sondern an das, was ich gottlob noch habe.

Elena sagt, ich wäre dumm. »Du kannst viel mehr rausschlagen. Für das, was er dir angetan hat, muss er zahlen.«

Was hat er mir denn angetan? Ich kann nun tun und lassen, was ich will, und mir gehört ein Haus auf Sylt! Ich finde, das reicht. Soll Georg doch glücklich damit werden, dass er eine zwanzig Jahre Jüngere neben sich hat. Soll er doch stolz darauf sein, dass eine Frau ihn attraktiv findet, die beinahe seine Tochter sein könnte! Schorsch nennt sie ihn. Und er grinst dann, als wäre er ein Doppelgänger von George Clooney. Seinen Bauch sieht sie anscheinend nicht, die grauen Haare, die Halbglatze, die Tränensäcke auch nicht.

»Ist doch klar«, ereifert sich Elena. »Sie sieht nur sein Geld. Hättest du dafür gesorgt, dass er keins mehr hat, würde sie jetzt nicht auf Heirat drängen.«

Aber was geht mich das an? Gar nichts! Zum Glück! Wütend macht mich nur, dass ich die Alleinherrschaft über dieses Ferienhaus einem Klischee verdanke. Ausgerechnet eine Jüngere und ausgerechnet seine Sekretärin! Wer hätte gedacht, dass mein Leben mal einem Groschenroman ähneln wird? Und dass ich beim Happy End nicht mehr dabei sein würde!

Fenster auf und kräftig durchlüften! Klischees stecken voller Mief. Raus mit ihnen! Warum denkt man beim Happy End eigentlich immer an zwei Menschen, an Mann und Frau? Am Ende einer dreißigjährigen Ehe kann man auch allein ziemlich happy sein. Gerade dann! Ein Happyend ganz für mich allein! Eigentlich gar nicht schlecht.

»Moin, moin!«

Ja, begafft sie ruhig, die schönen Ferienhäuser in Braderup. Dieses Haus gehört mir. Mir ganz allein! Da staunt ihr, was?

Plötzlich würde er doch gerne an der Reling eines Schiffes stehen und der Insel entgegenblicken, die Häuser zu sich heranwachsen sehen und beobachten, wie die Menschen Gestalt annehmen. Auf die Insel zufahren, statt sie sich stückweise präsentieren zu lassen, jedes Stück so groß und rechteckig wie die Windschutzscheibe seines Autos.

Paul konzentriert sich nun auf das Watt, blickt konsequent durch die Seitenscheibe. Der Insel wird er sich erst stellen, wenn er sie erreicht hat. Dieser Insel, die sein Leben verändert hat, dieser Insel, der er die Zähne zeigen wird. Ich kann auch anders, Sylt! Die Zeit der Abrechnung ist gekommen. Wirst dich wundern. Ihr alle werdet euch wundern.

Das seichte Wasser, das auf dem Wattboden steht, hat die gleiche Farbe wie der Himmel. Es ist, als flösse er ins Wattenmeer oder als stiege das Meer in den Himmel auf. Gewaltig ist das Bild, das der Zug durchschneidet, so riesig, dass sich in Paul zwei Empfindungen umkreisen und belauern. Freiheit ist die eine, Verlorenheit die andere. Klein fühlt er sich angesichts dieser Dimension, aber auch groß als ein Teil von ihr. Und nur daran will er denken! Nie wieder wird er sich klein machen lassen. Hat er das nötig? Nein, hat er nicht!

Als Sechzehnjähriger hat er nichts von den Dimensionen gespürt. Er war mit seiner Clique nach Sylt gefahren, um etwas zu erleben. Und vor allem deshalb war er nach Sylt gefahren, weil auch Sophia mitkommen wollte. Sophia mit den großen grauen Augen und dem frechen Pferdeschwanz. Wenn sie verlegen war, griff sie sich an den Hinterkopf und korrigierte den Sitz ihres Haargummis; wenn sie lachte, schlug sie die Hand vor den Mund, als schämte sie sich der Lücke zwischen ihren Vorderzähnen. Paul fand diese Lücke wunderhübsch. Als sie nach Sylt aufbrachen, trug sie eine himmelblaue Hose, auf die sie Hippie-Blüten gemalt hatte, und einen sehr knappen Pulli, der erst nach der Abreise unter einer weiten Jacke zum Vorschein kam. Sophias Eltern waren wahrscheinlich schon an der engen Hose ihrer Tochter verzweifelt, der Pulli hätte womöglich zu einer Stornierung der Reise geführt.

Sie hatten das Abteil verlassen und waren auf den Gang hinausgetreten. »Mal eben eine Fluppe rauchen.«

Solche Sätze tun gut, wenn man sechzehn ist. Vor vierzig Jahren erst recht, als es noch viel länger dauerte, erwachsen zu werden, und es viel wichtiger war, als erwachsen zu gelten. Wenn man sich ans offene Fenster eines Zuges stellte und eine Fluppe rauchte, dann war man erwachsen, ganz klar, auch wenn man wie Paul keine Nietenhosen besaß, sondern in der Cordhose des älteren Bruders nach Sylt fuhr. Werner war sogar in einer rotkarierten Glockenhose zum Bahnhof gekommen und von allen beneidet worden. Werner musste sehr liberale Eltern haben, wenn sie ihren Sohn in Glockenhosen herumlaufen ließen. Vor allem die Väter hielten ihre Söhne für unmännlich, die diese bunten weiten Hosen trugen. Aber vermutlich waren Werners Eltern gar nicht liberal, sondern einfach nicht gefragt worden. Wer sich die Meinungen seiner Eltern anhörte, war ja schon hoffnungslos bürgerlich. Und bürgerlich genannt zu werden, war eine richtige Schande.

Die letzte Klassenfahrt hatte nach London geführt, und in der Carnaby Street war viel Taschengeld auf den Kopf gehauen worden. Paul war schon froh gewesen, dass er überhaupt mitkommen konnte. Neidlos hatte er zusehen können, wie die anderen sich dort als Hippies verkleideten, sich mit Parkas eindeckten, an die sie Hammer-und-Sichel-Buttons steckten, und mit Blumen bemalte T-Shirts kauften. Das Einzige, was Paul sich leisten konnte, waren lange Haare. Und er war entschlossen, sich einen richtigen Wolf-Biermann-Schnauzer wachsen zu lassen, wenn er sicher sein konnte, dass daraus mehr wurde als ein dünnes Oberlippen-Bärtchen. Aber Paul litt nicht unter seinen beschränkten finanziellen Möglichkeiten. Was seine Klassenkameraden so wichtig fanden, interessierte ihn sowieso nicht. Er stimmte zwar ein, wenn sie schrien »Bürger, kommt auf den Balkon, unterstützt den...