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Der Halbbart

Der Halbbart

Charles Lewinsky

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257611359 , 688 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

in dem der Halbbart ins Dorf kommt

Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da. Manche glauben sicher zu wissen, man habe ihn am Palmsonntag zum ersten Mal gesehen, andere behaupten steif und fest: Nein, am Karfreitag sei es gewesen. Sogar zu einer Schlägerei ist es deshalb einmal gekommen.

Nach der Fastenzeit wollen die Leute den angesparten Durst loswerden, und so hat der Kryenbühl Martin einem Säumer zwei Fässer Wein abgekauft, ein kleines mit Malvasier und ein großes mit Räuschling, und in diesem Räuschling, habe ich berichten hören, sei der Fremde versteckt gewesen, habe sich zusammengerollt, klein wie ein Siebenschläfer, wenn der sich tagsüber in einem toten Baum verkriecht, und sei dann um Mitternacht durch das Spundloch hinausgeschloffen und wieder zu seiner vollen Größe angeschwollen, mit einem Geräusch, wie wenn ein Sterbender sich den letzten Atem abpresst. Aber der das erzählt hat, war der Rogenmoser Kari, der nach dem fünf‌ten Schoppen auch schon gesehen hat, wie der Teufel aus dem Ägerisee aufstieg mit feurigen Augen. Andere sagen, der Fremde sei vom Berg heruntergekommen, damals beim kleinen Felssturz, und sei dann ein ganzes Jahr in dem Steinhaufen liegen geblieben, von keinem bemerkt, vom Staub zugedeckt wie ein Wintergrab vom Schnee. Mitten zwischen den Felsbrocken sei er die Fluh heruntergepoltert, sagen sie, und habe sich dabei wie durch ein Wunder keinen einzigen Knochen gebrochen, nur das Gesicht habe es ihm vertätscht, die rechte Hälfte, darum sehe er so aus, wie er aussieht. Mit eigenen Augen hat es keiner von denen gesehen, die darauf schwören, aber eine gute Geschichte hört man immer gern, wenn die Nächte lang sind und das Teufels-Anneli in einem anderen Dorf.

Ich glaube ja, er ist ganz gewöhnlich zu Fuß gekommen, nicht gerade auf dem breiten Weg von Sattel herunter, aber an den Abhängen sind genügend Steige, auf denen man von niemandem gesehen wird, das wissen bei uns nicht nur die Schmuggler. Natürlich, für einen Fremden sind solche Pfade nicht leicht zu finden, aber wenn er wirklich ein Flüchtling ist, wie es heißt, dann wird er eine Nase dafür haben. Wenn einer lang genug hat weglaufen müssen, dann versteckt er sich mit der Zeit ganz von selber, wie eine Katze, der die Buben Steine nachwerfen, und die darum Umwege macht, über die Dächer oder durchs Gebüsch.

Woher er geflohen ist und warum, das weiß keiner. Irgendwann war er einfach da, im Dorf und doch nicht im Dorf, exakt an der Grenze von innerhalb und außerhalb. Ein Flüchtling, denke ich, bekommt mit der Zeit ein Gschpüri für Grenzen und erkennt sie, auch wenn da keiner steht und den Wegzoll einfordert. Ich meine, jeder Mensch kann besondere Fähigkeiten entwickeln, ohne dass es immer gleich Zauberei sein muss. Die Iten-Zwillinge, die man immer nur zusammen sieht, brauchen an einer trächtigen Kuh nur zu riechen und können unfehlbar sagen, ob es ein Stierkalb oder ein Kuhkalb geben wird. Manche Leute lassen die beiden auch kommen, wenn die eigene Frau in der Hoffnung ist; so ein Bauer, der schon fünf Kinder hat und noch immer keinen Erben, will Bescheid wissen, wenn es wieder nur ein Mädchen werden soll, damit er rechtzeitig nach Ägeri zur Kräuterfrau schicken kann; die weiß nicht nur, wie man Kinder zur Welt bringt, sondern auch das Gegenteil. Als kleine Buben sind wir vor ihr weggelaufen, weil es geheißen hat, mit ihren letzten Zähnen kann sie einen totbeißen, aber heute denke ich: Sie ist eine ganz gewöhnliche Frau, nur eben eine mit Erfahrungen.

Wie gesagt, eines Tages war der Halbbart da. Er hat sich, ohne jemanden zu fragen, den richtigen Ort ausgesucht, einen Plätz, der niemandem die Mühe wert ist, darum zu streiten. Direkt am Rand vom oberen Klosterwald, dort wo der Hang stotzig wird und höchstens die Geißenhirten oder die alten Weiblein beim Holzsammeln vorbeikommen, hat er auf zehn Fuß die Brombeersträucher und den Liguster ausgerissen, mit bloßen Händen, sagt man, was ich aber nicht glaube, man hätte ihn sonst bluten sehen müssen wie die zehntausend Märtyrer nach dem Sturz in die Dornen. Wie auch immer, er hat sich dort etwas hingebaut, nicht länger als ein Strohsack und nicht breiter als ein Mann mit ausgebreiteten Armen. Beim Geißenhüten haben wir auch solche Unterstände aufgestellt, gegen den Regen mit Zweigen abgedeckt. Lang hat man für so einen nicht gebraucht, aber keiner von uns wäre auf den Gedanken gekommen, dort zu wohnen. Ihm scheint es zu genügen, auch wenn er dort im Winter bestimmt friert wie ein armer Sünder. Ein Feuer kann er nur draußen machen, und dann muss er noch aufpassen, dass es ihm nicht seine Hütte abbrennt.

Der Steinemann Schorsch hat seinen Hungerhof weiter unten am Hang, und einmal, an einem eisigen Tag, hat er den Fremden zur Hilfe holen müssen, weil genau in der Stunde, als seine Frau das erste Kind bekam, auch die Kuh hat kalbern wollen. Es wird nicht exakt so gewesen sein, aber hinterher hat er erzählt, er habe den Fremden steifgefroren angetroffen, hart wie ein Brett, und habe ihn den Hang hinunter hinter sich herziehen müssen wie einen Schlitten. Zum Auf‌tauen habe er ihn bei sich zu Hause an den Tisch gelehnt, direkt vor dem großen Suppenkessel, und es habe gar nicht lang gedauert, da habe er sich schon wieder bewegt und auch zugepackt, und zwar wie einer, der sich auskennt, es könne nicht das erste Mal gewesen sein, dass er bei einer Geburt geholfen habe. Hinterher, sagt der Steinemann, sei der Halbbart vor der Feuerstelle gekniet und habe sich nicht nur gewärmt, sondern die Hand tief in das Feuer hineingestreckt, so dass es richtig Blateren gegeben habe. Aber das hat bestimmt nur so ausgesehen, und Krusten an der Hand wird er auch schon vorher gehabt haben.

Er ist ein komischer Vogel, der Halbbart. Es sagen ihm alle so; seinen richtigen Namen kennt keiner. Im Dorf haben fast alle einen Übernamen. Wenn man vom Eichenberger Meinrad redet, sagt man immer »der kleine Eichenberger«, weil er drei ältere Schwestern hat, alle schon in anderen Dörfern verheiratet, und er ist als Nachzügler gekommen, als sein Vater schon nicht mehr daran geglaubt hat, er könne doch noch einen Sohn bekommen, der Gisiger Hänsel, der so gut trommeln kann, heißt Schwämmli, weil er seit einer Schlägerei so ein komisches Ohr hat, und mir sagen sie Stündelerzwerg, nur weil ich einmal ein paar Wochen lang jeden Tag zur Messe nach Sattel hinaufgelaufen bin, aber das war nicht wegen der Frömmigkeit, sondern wegen dem Hasler Lisi. Die hat mir gefallen, aber ich ihr nicht; mit kleinen Buben wolle sie nichts zu tun haben, hat sie gesagt. Ich habe ihr vorgeschlagen zu warten, bis ich zwölf sei, aber das wollte sie nicht und hat mich ausgelacht. Als ihr dann der dicke Hauenstein ein Kind gemacht hat, bin ich nicht mehr hingegangen.

Also, der Halbbart. Man nennt ihn so, weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen. Am Anfang haben ihn manche Leute Melchipar genannt, aber das hat sich nicht durchgesetzt. Der Name kam daher: Wenn der Halbbart nach links schaut, und man von seinem Gesicht nur die Hälfte mit dem Bart sieht, dann erinnert er an den Melchior auf dem gestickten Banner mit den heiligen drei Königen, das in der Prozession zu Epiphanias mitgetragen wird. Wenn er aber den Kopf in die andere Richtung dreht, und man sieht die Hälfte ohne Bart, die mit den schwarzen Krusten, dann denkt man an den Negerkönig Caspar. Halb Melchior und halb Caspar, deshalb Melchipar. Aber der Name war zu kompliziert, und man hat sich auf Halbbart geeinigt. Ich würde gern wissen, wie solche Entscheidungen eigentlich getroffen werden. Ich frage mich auch, was so ein Name mit dem Menschen macht, dem er angehängt wird. Ich selber zum Beispiel: Seit man mich den Stündelerzwerg nennt, denke ich daran, einmal ins Kloster zu gehen, nicht aus besonderer Frömmigkeit, aber als Mönch hat man ein sicheres Auskommen, und wirklich hart arbeiten muss man dort auch nicht, glaube ich. Und bei der Profess bekommt man vom Abt einen neuen Namen. Mein Taufname hat mir nie gefallen. Eusebius – das war so eine Spinnerei von meinem Vater. Er hat den Namen in einer Predigt aufgeschnappt und sich gemerkt. Ich kann mir Sachen auch gut merken; so etwas geht manchmal auf die nächste Generation über. Meine älteren Brüder heißen Origenes und Polykarp, aber es sagt ihnen keiner so, sonst bekommt er aufs Maul, vor allem vom Poli; der prügelt sich gern, ganz anders als ich. Wenn der Vater sich damals nicht auf der Gemsjagd das Genick gebrochen hätte, würde er eine Schwester Perpetua genannt haben, sagt unsere Mutter, das hatte er sich schon ausgedacht.

Dem Halbbart ist es egal, wie man ihn nennt, das hat er mir selber gesagt. Man kann ganz normal mit ihm reden, auch wenn manche Leute im Dorf behaupten, ihm sei auch die halbe Zunge weggebrannt, und er könne nur lallen wie der Tschumpel-Werni, der keinen richtigen Verstand hat, sich vor allen Leuten zum Scheißen hinhockt und dann in die Hände klatscht und stolz auf die Sauerei zeigt, die er gemacht hat. Der Halbbart kann sogar sehr gut reden, er tut es nur nicht gern und schon gar nicht mit jedem. Ich bin mit ihm ins Gespräch gekommen, weil ich einmal beim Pilzen zufällig gesehen habe, wie er Heckenkirschen gepflückt hat. Weil ich gemeint habe, er will sie essen, bin ich hingerannt und habe sie ihm aus der Hand geschlagen, weil sie giftig sind. Ich habe zu spät überlegt, dass ich ihn auch mit Worten hätte warnen können; selbst wenn ihm die Zunge wirklich weggebrannt wäre, hätte ihn das ja nicht am Hören...