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Scherbentanz

Scherbentanz

Chris Kraus

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257611298 , 256 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

Ansgar ist sein Name wichtig. Und wie man ihn schreibt, spricht und buchstabiert ist ihm wichtig. Und wichtig ist ihm das A in der zweiten Silbe seines Namens, ungeheuer wichtig sogar, weil er es jahrelang gegen das schmierige, wankelmütige E verteidigen musste, das alle Welt hineinstreut. Er hasst das E. Niemand darf ihn Ansger nennen.

Ansgar heißt nach einem unserer baltischen Vorfahren, einem Flügeladjutanten des Zaren, der 1822 eine Insel in der Beringsee entdeckt hat. Tausende von Bartrobben, die dort ihre Jungen aufziehen, werden seither jedes Jahr zur Beute der internationalen Seehundjagd. Wenn im Fernsehen früher eine von gehäuteten Kadavern getupf‌te, rosarote Schneeküste zu sehen war, die frierende Greenpeace-Aktivisten angewidert das »Ansgar-von-Solm-Eiland« nannten, so hat das meinen Bruder mit merkwürdigem Stolz erfüllt.

 

Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass er eines Tages auf seinem Schreibtisch die »Landsmannschaftlichen Mitteilungen« liegen haben könnte. Oder dass an seiner Wand die berühmte »kurländisch-livländische Kartographie« hängen würde, mit Verzeichnis aller baltischen Adelssitze.

Als mich Ansgar in sein Zimmer brachte (er nennt es »das-Büro-hier« im Gegensatz zu seiner Arbeitsstelle, die »das-Büro-da« heißt), trugen all diese Reminiszenzen an unsere verehrungswürdige Abkunft wenig dazu bei, meine Stimmung zu heben.

Die Wände links und rechts der Kartographie wurden von einigen Elitezertifikaten und Business-School-Diplomen aufgeheitert, die Ansgar in den letzten Jahren erworben hatte. Überall stand »summa cum laude«, »mit Auszeichnung« oder einfach nur »1« drauf.

Das Mobiliar war das Allernötigste zum Zeigen, wer man ist. Das Zimmer lag im ersten Stock der Festung, so dass es wenigstens keine Gitter gab und ich jederzeit aus dem Fenster springen konnte, falls ich es nicht mehr aushielt.

Ich sank auf die Couch, öffnete meinen Hilf-dir-selbst-Koffer und fischte ein Pillendöschen raus. Ich schluckte gleich die doppelte Portion Depinoval, gerade noch rechtzeitig, bevor das mit dem Stöhnen losging. Den Schweiß auf meiner Stirn schob ich aufs Wetter.

Ansgar öffnete die Fenster auf eine Weise, die mich nicht darüber im Zweifel lassen sollte, dass er es für mich tat. Eine vom See gefütterte frische Brise wehte herein. Dann tranken wir Wodka (»Baltischer Wodka, Jesko!«). Das heißt, er trank und ich sah in mein leeres Glas.

Ich darf nichts trinken.

»Ich kann dir nicht sagen, wo es langgeht«, erklärte Ansgar schließlich und zupf‌te sich ein Fädchen von seiner Abteilungsleiterhose. »Aber Mama sollte dich interessieren, weil du verdammt noch mal einen Spender brauchst!«

»Seit wann?«

»Was seit wann?«

»Seit wann ist sie hier?«

»Seit zwei Tagen.«

Ich starrte ihn an.

Früher hatte Ansgar auch Träume gehabt, richtige Träume, den Traum von Island zum Beispiel. Er wollte sich mit einem Floß nach Island treiben lassen.

»Und das sagst du mir jetzt?«

»Papa hat alles in Ruhe vorbereitet. Alleine. Ohne mir was zu sagen. Sonst hätte ich dich natürlich viel früher angerufen. Ist doch klar.«

Da er wusste, dass ich ihm kein Wort glaubte, bot er mir einen Schluck aus seinem Glas an. Ich machte eine abwehrende Handbewegung, und er räusperte sich.

»Erinnerst du dich? Die ganzen Tests damals? Die Ärzte sagten, dass in der Familie keiner ist mit deinem Knochenmark. Und Papa war so verzweifelt, als sie dich im Krankenhaus fragten. Du weißt schon, ob es nicht doch noch einen Verwandten gibt. Irgendeinen, den man übersehen hat. Womöglich einen Spender. Und du hast nein gesagt.«

Ich wusste, was Ansgar meinte mit dem Satz, dass Papa verzweifelt war. Ich hätte es allerdings anders ausgedrückt.

»Schließlich hat er eine Detektei beauf‌tragt. Sie suchten überall. Mama war nirgendwo gemeldet. Polizeilich, meine ich. Es gab keine Adresse. Aber man kann auch nicht sagen, dass sie keine Spuren hinterlassen hätte. Nein, das kann man wirklich nicht sagen.«

Er setzte sich mir vis-à-vis in einen majestätischen Samtsessel und schob einen roten Ordner herüber.

Ich blickte hinein, und dann nahm ich doch einen Schluck aus seinem Glas.

Es waren ein paar Computerausdrucke und weiterer Papierkram. Auf einer Liste wurden alle Gegenstände aufgezählt, die Mama in den letzten Jahren gestohlen hatte. Es war genug, um damit eine gutsortierte Karstadt-Filiale aufzumachen. Dann kamen psychiatrische Gutachten, Pfändungsbescheide, Kontoauszüge des Sozialamts. Auch ein ärztliches Attest war darunter, auf dem ihr eine gut ausgeheilte Lungentuberkulose bescheinigt wurde. Aber schließlich sah ich eine Auf‌listung verschiedener Nervenheilanstalten, die mir zu lang war, und ich wollte nicht weiterlesen. Ansgar räusperte sich wieder. Er räuspert sich oft, ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe.

»Letzten Freitag vertrat ich Papa, weil er nach London musste, zu diesem Kongress. Europäische Kieswerke. Als ein Mitarbeiter der Detektei anrief, stellte ihn die Sekretärin zu mir durch. Sie dachte wohl, ich sei eingeweiht. Na ja, Papa weiht mich mittlerweile ein, eigentlich.«

Er behielt sein altes Island-Gesicht, es verschwand einfach nicht.

»So erfuhr ich von der ganzen Sache. Der Detektiv hatte Mama gefunden. In Hamburg. In einem Heim für Obdachlose.«

»Hast du noch was von dem Zeug?«, fragte ich.

Er stand auf, schloss das Fenster, holte eine neue Flasche und schenkte mir großzügig ein.

»Man brachte sie hierher. Papa weiß ja, wie du darüber denkst. Deshalb sollte es wasserdicht sein, bevor er dir Bescheid gibt.«

Er setzte sich wieder.

»Sie soll eine Punktion machen. Darum geht es. Darum hat er sie gebeten. Genau darum.«

»Was sagt sie?«

»Sie war nicht in der Verfassung, irgendwas zu sagen.«

Es klopf‌te leise.

»Wir haben sie drüben im Tantenhaus untergebracht. Mit Vorhängeschlössern und allem.«

Erneut klopf‌te es.

»Sie hat die Scheibe der Verandatür eingeschlagen und sich das Messer gekrallt und ist auf Papa los. Ja, was denn?«, rief er ungeduldig, als es zum dritten Mal klopf‌te.

Ich dachte erst, es sei Stief‌i, die Frau meines Vaters. Wir nennen sie Stief‌i, Ansgar und ich, aber sie heißt anders. Und sie klopft auch anders. Und sie kommt auch in viel falscheren Momenten.

Die Tür schwang sachte nach innen, und es trat jemand ein, der einen mindestens viersilbigen Namen hatte, einen Namen wie Eleonore oder Josephine-Mariette, mit womöglich französischer Betonung, so sah sie jedenfalls aus. Sie trug eine Fielmann-Brille und war grazil und blass, und ihre Stirn hatte eine Höhe, als solle demnächst Schnee darauf liegen. Ihre Hand trommelte unschlüssig auf der Klinke, als sie mich sah.

»Hallo, Zitrone«, sagte Ansgar, »komm ruhig rein.«

Mein Bruder stellte mir seine Freundin vor. Sie hieß Simone Irgendwas, aber er nannte sie Zitrone, und es war mir egal. Sie schwebte zögernd auf mich zu und gab mir die Hand. Sie hatte eine leise, aber winterlich-dunkle Stimme, mit der sie Ansgar fragte, wie es ihm gehe.

»Besser«, sagte er, und sie strich irgendwas hinter seinem Ohr weg, und es ging ihm noch besser.

»Armer Spatz. Dein Vater sucht dich. Die ersten Gäste gehen.«

»Hat es sich schon rumgesprochen?«

Sie wiegte ihren hübschen Kopf.

»Kaum. Die meisten reden über seinen Rock.«

Es ist komisch, wenn einer über dich in der dritten Person spricht und dir dabei ins Gesicht schaut.

»Dieser Rock ist ein Herrenrock«, sagte ich einfach. »Ich glaube nicht mehr an Hosen. Hosen sind das Letzte. Außerdem habe ich gar keine mehr.«

»Ja, hab’ schon gehört«, summte sie schläfrig, »du bist Schneider oder so was.«

»Ich bin kein Schneider.«

»Jesko ist Modedesigner«, versuchte Ansgar die Situation zu retten.

»Für welche Marken arbeitest du?«, wollte sie wissen.

»Ich mach mein eigenes Zeug.«

»Ja, aber wo bist du beschäftigt?«

»Ich arbeite nicht gerne für Leute, die mich beschäftigen wollen.«

Sie stutzte, wusste nicht, ob es ein Witz war, nicht einmal ich wusste das, es rutschte mir so raus, hatte vermutlich mit ihrer Erwartung zu tun, dass ich irgendwas sage, was zur Party passt.

»Aber er schreibt für ein Modemagazin«, probierte es mein Bruder noch mal. »Oder hast du da mittlerweile die Zelte abgebrochen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du kannst dich mit ihm stundenlang über Gucci und Lagerfeld unterhalten und diese ganzen Granaten. Vielleicht näht er dir ja sogar das Brautkleid.«

Danach zu mir: »Ich hol dir mal was anderes.«

Er verließ das Zimmer.

Zitrone setzte sich neben mich auf die Couch, obwohl sie sich auch super auf Ansgars freigewordenen Samtsessel hätte setzen können. Da hätte sie auch, wie das Verliebte ja mögen, seine im Polster gespeicherte Körperwärme gespürt. Stattdessen spürte ich jetzt ihre. Ich roch sie sogar, merkte es aber nicht, weil der Krebs ja meinen Geruchssinn zertrümmert hat.

Wir schwiegen eine Weile und blickten uns nicht an.

»Das mit deiner Mutter finde ich schlimm«, stieß sie plötzlich hervor. »Aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die weinen, wenn was schlimm ist.«

»Gehörst du zu denen, die sich vor Lachen den Bauch halten?«

»Nein. Zu denen gehöre ich auch nicht«, sagte sie. »Ich bin Krankenschwester.«

»Ich dachte, du arbeitest beim Fernsehen?«

»Das war die vor mir. Die mit den Hasenzähnen. Von mir hat er dir nicht erzählt?«

»Nein«, sagte...