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Leviathan erwacht - Roman

James Corey

 

Verlag Heyne, 2012

ISBN 9783641076313 , 672 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

PROLOG Julie

Die Scopuli war vor acht Tagen geentert worden, und jetzt war Julie Mao bereit, sich erschießen zu lassen.

Sie hatte acht Tage in einem Spind hocken müssen, bis dieser Entschluss gereift war. Während der ersten beiden Tage hatte sie regungslos ausgeharrt, denn sie war sich sicher gewesen, dass die gepanzerten Männer, die sie hineingesteckt hatten, es ernst meinten. In den ersten Stunden hatte das Schiff, auf das man sie verfrachtet hatte, nicht beschleunigt. Deshalb war sie in dem kleinen Abteil umhergeschwebt und hatte mit leichten Berührungen die Zusammenstöße mit den Wänden oder dem Raumanzug, mit dem sie sich den Platz teilte, abgefedert. Als das Schiff dann beschleunigte und der Schub ihr wieder ein Gewicht verlieh, stand sie stumm in dem engen Raum, bis die Krämpfe in den Beinmuskeln unerträglich wurden. Irgendwann rollte sie sich wie ein Embryo zusammen, hockte sich hin und pinkelte in ihren Overall. Die warme, juckende Nässe war ihr ebenso egal wie der Geruch. Sie hatte nur Angst, sie könne in der Pfütze auf dem Boden ausrutschen und stürzen. Lärm durfte sie nicht machen, denn dann hätten die Angreifer sie erschossen.

Am dritten Tag zwang sie der Durst zum Handeln. Der Lärm des Schiffs war allgegenwärtig, das unterschwellige Grollen des Reaktors und des Antriebs. Das ewige Zischen und Klappern der Hydraulik und der Stahlbolzen, wenn sich die Drucktüren zwischen den Decks öffneten und schlossen. Das Poltern schwerer Stiefel, die auf dem Metallboden vorbeiliefen. Sie wartete, bis sie den Lärm nur noch aus der Ferne hören konnte, hob den Druckanzug vom Haken und legte ihn auf den Boden des Abteils. Noch einmal lauschte sie aufmerksam, dann nahm sie den Anzug auseinander, um an den Wasservorrat zu gelangen. Es schmeckte alt und abgestanden, der Anzug war offenbar seit Urzeiten weder gewartet noch benutzt worden. Doch sie hatte seit Tagen nichts mehr getrunken, und das warme, schale Wasser aus dem Vorratstank des Anzugs war das Beste, was sie je gekostet hatte. Sie musste sich überwinden, um es nicht auf einmal hinunterzustürzen, denn dann hätte sie es doch nur erbrochen.

Als der Drang zu urinieren wieder erwachte, zog sie den Katheterbeutel aus dem Anzug und erleichterte sich mit dessen Hilfe. Auf dem Polster des dicken Anzugs saß sie schließlich auf dem Boden und hatte es fast bequem. Sie fragte sich, wer sie gefangen genommen hatte – die Koalitionsmarine, Piraten, noch schlimmere Leute. Manchmal konnte sie sogar schlafen.

Am vierten Tag zwangen sie die Einsamkeit, der Hunger, die Langeweile und die schwindende Zahl von Möglichkeiten, ihren Urin zu lagern, schließlich dazu, mit den Angreifern Kontakt aufzunehmen. Sie hatte gedämpfte Schmerzensschreie gehört, irgendwo in der Nähe wurden anscheinend ihre Schiffskameraden geschlagen oder gefoltert. Wenn sie die Aufmerksamkeit der Entführer erregte, würde man sie vielleicht einfach zu den anderen bringen. Das war in Ordnung. Schläge konnte sie ertragen. Ein geringer Preis, wenn sie dafür wieder Menschen zu sehen bekam.

Der Spind befand sich neben der inneren Luftschleuse. Während des Fluges kam hier gewöhnlich kaum jemand vorbei, aber sie kannte natürlich nicht den Bauplan dieses Schiffs. Sie überlegte sich, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollte. Als sie endlich jemanden hörte, der sich ihr näherte, wollte sie schreien, damit man sie herausließ. Das heisere Krächzen, das aus ihrer Kehle drang, überraschte sie selbst. Sie schluckte und bewegte die Zunge, um ein wenig Speichel zu produzieren, und versuchte es noch einmal. Wieder nur ein kaum wahrnehmbares Röcheln.

Direkt vor dem Spind waren Leute. Jemand redete leise. Julie hatte schon ausgeholt, um mit der Faust gegen die Tür zu trommeln, als sie hörte, was gesprochen wurde.

Nein, bitte nicht. Bitte tun Sie das nicht.

Dave. Der Mechaniker ihres Schiffs. Dave, der alte Zeichentrickfilme sammelte und eine Million Witze kannte, flehte mit leiser, gebrochener Stimme jemanden an.

Nein, bitte nicht. Bitte tun Sie das nicht, sagte er.

Die Hydraulik und die Verschlussriegel klickten, als die innere Tür der Luftschleuse aufging. Dann ein sattes Klatschen, als etwas hineingeworfen wurde. Wieder ein Klicken, die Luftschleuse schloss sich. Das Zischen entweichender Luft.

Sobald die Luftschleuse wieder im alten Zustand war, entfernten sich die Leute von ihrer Spindtür. Julie klopfte nicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Sie hatten das Schiff blitzblank geputzt. Eine Verhaftung durch die Marine der inneren Planeten war immer eine üble Sache, aber sie hatten alle den Umgang mit solchen Situationen geübt. Heikle AAP-Daten wurden gelöscht und mit unschuldigen Logdaten überschrieben, die zudem falsche Zeitstempel bekamen. Der Kapitän zerstörte alles, was zu gefährlich war, um es einem Computer anzuvertrauen. Als die Angreifer an Bord kamen, konnte die Besatzung unschuldig tun.

Es hatte keine Rolle gespielt.

Es hatte gar keine Fragen bezüglich der Fracht oder der Genehmigungen gegeben. Die Eindringlinge waren aufgetreten, als gehörte ihnen das Schiff, und Kapitän Darren hatte sich auf den Rücken geworfen wie ein unterwürfiger Hund. Alle anderen – Mike, Dave, Wan Li – hatten die Hände gehoben und waren seinem Beispiel gefolgt. Die Piraten oder Sklavenhändler, oder was sie auch waren, hatten sie von dem kleinen Transportschiff verschleppt, das ihre Heimat gewesen war, und mit notdürftigen Schutzanzügen versehen durch einen Andockschlauch bugsiert. Die dünne Polyesterfolie des Schlauchs war alles gewesen, was sie vor dem großen Nichts geschützt hatte. Hoffentlich riss sie nicht; und wenn doch, würden die Lungen platzen.

Julie war mitgekommen, ohne Widerstand zu leisten, doch dann hatten die Dreckskerle sie betatscht und versucht, ihr die Sachen auszuziehen.

Fünf Jahre Jiu-Jitsu-Training bei niedriger Schwerkraft hatten sich ausgezahlt. Sie hatte eine Menge Schaden angerichtet und schon angenommen, sie könnte sogar gewinnen, bis aus dem Nichts eine Faust in einem Panzerhandschuh herabgesaust war. Die daran anschließenden Eindrücke waren etwas wirr, und schließlich hatte sie im Spind gehockt: Erschießt sie, wenn sie auch nur einen Mucks von sich gibt. Vier stumme Tage, während die anderen ihre Freunde verprügelt und einen von ihnen durch die Luftschleuse ins All geworfen hatten.

Nach sechs Tagen wurde es ruhig.

Sie pendelte zwischen bewussten Phasen und zersplitterten Träumen und bemerkte nur am Rande die Schritte und Gespräche der Leute, das Einrasten der Druckschotts und das unterschwellige Grollen des Reaktors. Einmal verstummte der Antrieb ganz und gar. Gleichzeitig setzte auch die Schwerkraft aus, und Julie erwachte aus einem Traum, in dem sie mit ihrer alten Rennpinasse dahingerast war. Auf einmal war sie gewichtslos, und ihr taten alle Muskeln weh. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder entspannte.

Sie schwebte näher an die Tür und presste das Ohr an das kalte Metall. Zuerst geriet sie in Panik, dann vernahm sie das leise Geräusch der Luftaufbereiter. Das Schiff hatte Energie und Luft, nur der Antrieb arbeitete nicht, und niemand öffnete eine Tür, ging vorbei oder redete. Vielleicht eine Mannschaftssitzung. Oder eine Party auf einem anderen Deck. Oder sie waren alle im Maschinenraum und führten eine wichtige Reparatur durch.

Julie verbrachte den ganzen Tag damit, zu lauschen und zu warten.

Am siebten Tag war der letzte Wassertropfen verbraucht. Seit vierundzwanzig Stunden war niemand mehr in Hörweite gekommen. Sie saugte an einem Plastikschild, das sie vom Schutzanzug abgerissen hatte, bis sich etwas Speichel entwickelte, dann schrie sie. Sie schrie, bis sie heiser war.

Niemand kam.

Am achten Tag war sie bereit, sich erschießen zu lassen. Sie hatte seit zwei Tagen nichts getrunken, und ihr Abfallbeutel lief über. Sie stemmte sich mit den Schultern gegen die Rückwand des Spinds und drückte mit den Händen gegen die Seitenwände. Dann trat sie mit beiden Beinen so fest wie möglich zu. Die Krämpfe, die nach dem ersten Tritt einsetzten, ließen sie fast ohnmächtig werden. Sie kreischte.

Dummes Mädchen, sagte sie sich selbst. Sie war dehydriert. Acht Tage ohne jede Bewegung, das war mehr als genug, um eine Muskelatrophie zu entwickeln. Wenigstens hätte sie sich mal strecken können.

Sie massierte die steifen Muskeln, bis die Knoten verschwanden, streckte sich und konzentrierte sich, als wäre sie wieder im Dojo. Sobald sie ihren Körper unter Kontrolle hatte, trat sie zu. Und noch einmal. Wieder und wieder, bis durch einige Spalten Licht hereinfiel. Und weiter, bis die Tür so verbeult war, dass die drei Scharniere und der Riegel die einzigen Punkte waren, die das Türblatt noch am Rahmen festhielten.

Ein letztes Mal, und der Riegel rutschte aus der Klammer. Die Tür schwang auf.

Julie schoss aus dem Spind heraus, die Hände halb erhoben und bereit, entweder gefährlich oder verschreckt zu wirken, je nachdem, was aussichtsreicher schien.

Auf dem ganzen Deck war kein Mensch. Die Luftschleuse, das Lager für den Druckanzug, wo sie die letzten acht Tage verbracht hatte, ein halbes Dutzend...