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Turmbau - Stoffe IV-IX: Begegnungen / Querfahrt / Die Brücke / Das Haus / Vinter / Das Hirn

Turmbau - Stoffe IV-IX: Begegnungen / Querfahrt / Die Brücke / Das Haus / Vinter / Das Hirn

Friedrich Dürrenmatt

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257611519 , 288 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Im Frühling 1943 kehrte ich verwahrlost und krank von einer Stadt nach einer anderen zurück. Von Zürich nach Bern. Ich verließ eine formlose Ansammlung von Kirchen, Banken, Kultur- und Bildungsstätten, von Zunft-, Waren-, Geschäfts- und Mehrfamilienhäusern, Mietskasernen, klassizistischen und Gründerjahrpalästen, Villen, Gaststätten, Pinten, Abstinentenlokalen des Frauenvereins, Fabriken, Depots, Ateliers, Gewerbebuden, alles wie hingeschüttet um einen schmalen See und die Hügelzüge hinauf, die ihn umgeben. Hochhäuser waren noch verboten, die Massagesalons wagten noch nicht zu inserieren, der Strich war durch die Verdunkelung teils gefördert, teils behindert. Der See mündet in ein Flüßchen. An seinen Ufern finden sich Reste einer Altstadt, deren Bürger ihren Bürgermeister köpften. Im Mittelalter. Jetzt kacken auf sein Denkmal Möwen. Dann treibt das Flüßchen am trostlosen Bahnhof vorbei, vor dessen Haupteingang ein noch mächtigerer Herrscher steht als der geköpfte Bürgermeister, ein heimlicher König der Gründerjahre, Alfred Escher, auch von Möwen bekackt, eine Aktentasche zu Füßen. Er wurde nicht geköpft. Nur Möwen sind gerecht. Hinter dem geschmacklosen Landesmuseum vereinigt sich das Flüßchen mit einem zweiten und verliert sich gemeinsam nach der geschmackbildenden Kunstgewerbeschule in Gegenden, wohin ich damals nie vorgedrungen bin. Ich flüchtete in eine Stadt zurück, aus der ich kaum ein Jahr zuvor geflüchtet war: ein ebenso sinnloses Unternehmen wie jetzt die Rückkehr. Beide glichen den Irrwegen, die eine Ratte in einem künstlichen Labyrinth eines Labors unternimmt: Sie weiß weder, daß sie sich in einem Labyrinth, noch, daß sie sich mit dem Labyrinth in einem Labor befindet. Sie rennt herum, von Irrweg zu Irrweg, ihr Herumirren macht sie rebellisch, ohne daß sie genau weiß, gegen wen sich ihre Rebellion richtet, vielleicht daß sie sich einen Rattengott vorstellt, der sie diesem Labyrinth überlassen hat und den sie nun verdammt: denn es ist für diese Ratte unmöglich, auf die Wirklichkeit zu stoßen, wohinein ihre Rattenwirklichkeit gebettet ist, eine Wirklichkeit, die wiederum Wesen umfaßt, die nicht Ratten sind, sondern Menschen, die sie, diese vereinzelte, im Labyrinth herumhuschende Ratte, beobachten, um irgendwelche für Ratten und Menschen gleicherweise gültigen Gesetze zu finden, so daß, weil diese Menschenwirklichkeit wiederum labyrinthisch ist, sich zwei ineinander geschachtelte Labyrinthe ergeben, ja drei, vier oder noch mehr ineinander geschachtelte Labyrinthe, wenn die Ratten beobachtenden Menschen ebenfalls unter der Beobachtung von Vorgesetzten stehen, die ihrerseits wiederum usw. Nicht umsonst diese Metapher. Meine Eltern waren über die Irrwege ihres Sohnes ratloser denn je, schien ich doch weder eine Zukunft anzustreben, die ihnen einleuchtete, noch überhaupt eine, ich strapazierte ihr Gottvertrauen gewaltig. Ich erholte mich langsam. Ich bezog eine geräumige Mansarde, die zum Mietshaus gehörte, das meine Eltern im Parterre bewohnten, in einer Art Villa. Ich malte später die Mansarde aus, auf der abgeschrägten Wand über meinem Bett eine wilde Kreuzigung, an der großen Wand skurrile Figuren, am Kamin in der Mitte des Raums eine Salome mit dem Kopf Johannes’ des Täufers, an der Decke das Antlitz der Medusa. Das Haus stand an einer breiten verkehrswichtigen Straße, lautlos in der Nacht, weil die Stadt verdunkelt war, nur von ferne manchmal, in mondlosen Nächten, traumartig, über die Alpen herüber, das dumpfe Grollen der Bomben, die auf Mailand fielen. In wenigen Minuten war man auf dem Land: weite Felder, Wälder; einmal, als ich gegen drei Uhr in der Nacht aus dem Fenster schaute, stand mitten auf der vom Vollmond beschienenen Straße ein Reh. Auch hörte ich jede Nacht Schritte vorbeihinken, aber es gelang mir nie, den Hinkenden zu erblicken, wenn ich schrieb oder zeichnete, hinkte er durch mein Schreiben oder Zeichnen, stürzte ich zum Fenster, waren die Jambenschritte schon verhallt. Wenn ich schlief, ging es mir ebenso, das Hinken weckte mich, aber ich kam zu spät, beugte ich mich aus dem Fenster. Für eine Familie aus der Nachbarschaft kam ich zu früh. Sie kletterte, fünfköpfig, Vater, Mutter und drei Kinder, im Pflaumenbaum im Garten hinter der Villa herum, erstarrte, als ich heimkehrte, wie Riesenpflaumen im Baumgeäst im Morgengrauen. Ich störte sie ebensowenig wie den Vagabunden, der auf dem Kanapee in unserer offenen Veranda zu übernachten pflegte. Nur das erste Mal flüchtete er, als ich ihn in der Frühe überraschte, später winkte er mir nur zu und blieb liegen. Ich war gern in diesem Haus. Vieles erinnerte mich ans Dorf, nicht nur die Nähe der Wälder, auch der Gemüseladen schräg gegenüber, dessen Inhaber einen ebenso handlosen Arm besaß, womit er die Salatköpfe auseinanderschob, wie der Gemüsemann unseres Dorfes.

 

Im Herbst fuhr ich ins Wallis. Ich wollte die Komödie beenden, an der ich in Zürich herumgeschrieben hatte, an einem wilden Durcheinander von lebenden Toten und toten Lebenden, mit einer funktionierenden Weltuntergangsmaschine am Schluß. Ein Riesenknall. Ich richtete mich in einem kleinen Dorf ein, über dem Logis meiner Freundin, die dort mit ihren Eltern in den Ferien weilte. Das Dorf bestand aus kaum zwanzig primitiven Holzhäusern. Es klebte an einem steilen Hange hoch über dem Val d’Hérens. Irgendwo unterhalb des Dorfes, im Wald versteckt, jenseits einer Schlucht, tief gegen Evolène hin, eine Kapelle. Vom Dorf aus schien die weitverzweigte Gebirgsgegend mit einigen kleinen pyramidenähnlichen Bergen in der Talsohle und den Nebentälern, die sich zwischen den Massiven verliefen, eine Mondlandschaft zu sein. Tagsüber war das Dorf still. Kaum daß ich jemanden sah: eine alte schwarzgekleidete Frau, einen Mann, der mich schweigend betrachtete, ein davonhuschendes Kind. In der Nacht herrschte ein geheimnisvolles Treiben: Lastwagen kamen und gingen. Im Land waren die Lebensmittel kontingentiert. Schwarzhandel rentierte. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich schrieb verbissen, entschlossen, mit dem Stoff Schluß zu machen, ihn aus meinen Gedanken herauszuoperieren. Ich verknappte die Sprache, strich die Szenen zusammen, schrieb neue mit bösen Liedern, verwarf das Geschriebene wieder, begann von neuem. Ich habe seither nie anders gearbeitet.

 

Ich schrieb nachts, es ist auch heute noch meine beste Zeit. Tagsüber, wenn wir nicht nach Evolène hinunterstiegen, las ich in dieser kargen, trockenen, in meiner Erinnerung braunen, unatmosphärischen und unbarmherzigen Landschaft, wo es immer noch heiß wie im Hochsommer war, die dschungelhaften Bücher Jean Pauls, herausgegeben von der Deutschen National Literatur, solide Bände, die ich in der Stadtbibliothek von Sion aufgestöbert und mitgeschleppt hatte. Ich las bald trotzig, bald wütend, unvermittelt, dann tagelang nicht mehr, erschöpft vom Verfasser, kam wieder ein Stück weiter, war begeistert oder wollte begeistert sein – man betrügt sich leicht selber –, fand bedeutende Stellen, dann verlor sich die Handlung aufs neue in einem Gestrüpp eigenartiger Käuze und unübersichtlicher Nebenhandlungen. Noch fand ich mich zurecht, versuchte zäh, die Übersicht zu behalten, doch ein Unterbruch der Lektüre – und ich war verloren. Je weiter ich vordrang, desto unübersichtlicher wurde sie. Ich schlug mich mit Jean Pauls Einfällen und Ausfällen herum wie mit Wolken von Fliegen. Dazu eine verschlungene Sprache voller Anspielungen, die ich oft nicht verstand, ferner Bemerkungen über Anspielungen, die ich nicht verstanden hatte. Lesen wurde zur Geheimwissenschaft, im Fremdwörterbuch hätte nachgeschlagen werden müssen, es war keines vorhanden, ich kam mir ungebildet vor; dann stieß ich wieder auf Sätze, die mich begeisterten. Mir ging auf, daß ich an einen der größten Schriftsteller unserer Sprache geraten war, an ein Genie, warum nicht. Aber seine Käuze und die Städtchen, Nester, Kaffs und Kleinresidenzen, wo sich seine Handlungen abspielen, sind nicht dargestellt, sondern kommentiert. Die Einfälle jagen sich, doch mit den Einfällen die Kommentare, und da die Helden und Heldinnen sich selber kommentieren und sich handeln lassen statt zu handeln, wird das Kommentierte wiederum kommentiert, und so, ad infinitum, decken schließlich die Kommentare alles zu. Doch mehr als der Titan beeindruckte mich Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. Die Handlung ist nachträglich kaum mehr zu rekonstruieren, schon die Namen bereiten Schwierigkeiten. Die Menschen können bei Jean Paul nicht Meier, Müller oder Blaser, auch nicht Strauß, Kohl oder Schmidt heißen: Der Armenadvokat Firmian Stanislaus Siebenkäs ist mit einer Wendeline Lenette Egelkraut verheiratet. Siebenkäs hat einen Freund, von dem er nicht zu unterscheiden ist, Heinrich Leibgeber (das genügt Jean Paul nicht, er näht immer doppelt, auch bei Doppelgängern: Siebenkäs heißt eigentlich Leibgeber, Leibgeber Siebenkäs). Außerdem kommen eine Nathalie und ein Everard Rosa von Meyern vor (also doch beinahe ein Meier), ein Studienrat Stiefel, ein Obersanitätsrat Oelhafen, der Frühprediger Reuel und der Fürst von Liechtenstein. Die Ehe des Armenadvokaten ist unglücklich, eine verworrene Erbschaftsangelegenheit spielt hinein, macht eine Reise nach Bayreuth notwendig, damals noch ohne Wagner, dafür mit einer jener langweiligen Geliebten, wie sie nur die deutsche Literatur zustande bringt. Jean Paul selber mischt sich ein: indem Siebenkäs als Verfasser der ›Papiere des Teufels‹ gefeiert wird, die wiederum von Jean Paul stammen; endlich das...