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Variationen über die vielen Frieden - Band 1: Deutungen

Wolfgang Dietrich

 

Verlag VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN 9783531918006 , 430 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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42,25 EUR


 

C. Moderne Friedensinterpretationen (S. 185-187)

Im vorangegangenen Kapitel habe ich mich mit Ken Wilbers Interpretation der Philosopie des Aufstiegs, Eros, und der Philosophie des Abstiegs, Agape, befasst und festgehalten, dass Eros ohne Agape, Aufstieg ohne Mitgefühl, zu Phobos, der Angst des vermeintlich Höheren vor dem Niederen, oder deutlicher, des Einem vor dem Vielen, und entsprechendem Purismus führt. Agape ohne Eros, reine Diesseitigkeit, bedeutet hingegen zerstörerischen Materialismus, Thanatos. Für ersteres liefern die phobischen Auswüchse in der Geschichte nicht nur, aber besonders des Abendlandes mit der Verfolgung Andersgläubiger und den zahllosen Heiligen Kriegen der einen gegen die anderen ein dramatisches Beispiel. Mit der Kehrseite, dem aufklärerischen Thanatos und den ihm entsprechenden Friedensvorstellungen, wird sich dieses Kapitel befassen.

Bevor ich deren Analyse beginne, möchte ich aber einige ganz anders gelagerte Friedensbegriffe erwähnen, die im selben kulturellen Kontext ent standen sind, um zu zeigen, dass das Friedensbild, das die europäische Moderne entworfen hat, keineswegs zwingend im Sinne eines aufgeklärten Menschenbildes war. Ketzerische Sichtweisen ziehen sich von den Dionysuskulten über Gnosis, Hermetismus und Neu-Manichäismus als Albigenser, Waldenser, Patarener, Bogomilen, Humiliaten, Katharer durch das europäische Mittelalter. Die Alchemie als Verbindung der ägyptischen Mysterientradition, der griechischen Philosophie und der technisch-metallurgischen Kunst der Handwerker und Schmiede ist die klassische Form vormoderner Wissenschaft in Europa.

Die Moderne wird diesen ganzheitlichen Ansatz von Religion, Kunst und Wissenschaft auf die eindimensionalen Sichtweisen der Naturwissenschaft reduzieren, und vormodernes, ketzerisches Wissen wird von den christlichen Kirchen verfolgt werden, von der orthodoxen ebenso leidenschaftlich wie von der katholischen.3 Verhängnisvoll war und ist das deshalb, weil in der Alchemie eine in ihren Übertreibungen und übereilten Schlüssen zwar irrige, in ihrem Verständnis der Einheit alles Seienden aber heilsame Weltsicht zugunsten eines mechanistischen Reduktionismus geopfert wurde. Letztlich glaubte, spekulierte und übertrieb die vormoderne Alchemie kaum weniger, als es die aus ihr hervorgegangene moderne Naturwissenschaft nach ihr tun sollte.

Einer der Vernichtungsfeldzüge, der gegen die Katharer gerichtet war, begann im Jahr 1209, eben jenem Jahr, in dem ein junger Mann aus wohlhabendem Hause in Norditalien seine Ordensgemeinschaft gründete. Franz von Assisi5 legte seine asketische Lehre von der Spiritualität der Armut aber so an, dass er dadurch nicht die Autorität der Kirche in Frage stellte. Dies ersparte ihm den Scheiterhaufen und bescherte dem Abendland eine der bedeutendsten Friedenslehren, die aus dem christlichen Weltverständnis schöpfte und dessen Potenzial aufzeigte.

1 Eros und Agape im modernen Mystizismus

Franz von Assisi stellte die Fähigkeit zum Mitleiden, Agape, in den Mittelpunkt seiner Friedenslehre. Damit war er in einer von puristischer Aufstiegsphobie geplagten Umgebung ein Unzeitgemäßer. Doch seine Grat wanderung zwischen Ketzerei und Heiligenvita ging in ihrer Radikalität weit darüber hinaus. Sie war nicht auf den Frieden unter den Menschen begrenzt. Sie reichte über das Irdische hinaus in den Kosmos.

Die Versöhnung aller Dualitäten war ihm ein Anliegen, nicht deren Unterscheidung in Gut und Böse. Das ermöglichte es ihm, sich nicht nur als Bruder aller Menschen zu fühlen, sondern in allen Lebewesen und Dingen seine Brüder und Schwestern wahrzunehmen. Allem und jedem wollte er mit Respekt begegnen.6 In seinem viel zitierten und theologisch tiefgründigen Sonnengesang preist er Gott in all seinen Geschöpfen, wobei sein mystisches Weltverständnis in keiner Zeile verborgen bleibt. Er wandte sich mit vollem Risiko von den anthropozentrischen Tendenzen des Phobos, von der Trennung zwischen Himmel und Mensch ab und einer energetischen Sicht zu.