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Blütenschatten

Blütenschatten

Annalena McAfee

 

Verlag Diogenes, 2021

ISBN 9783257611687 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

Nacht. Winter. Eine Straße in der Stadt. Das Echo von Eves Schritten hallt über den breiten Bürgersteig, als sie an den düsteren georgianischen Häusern mit Stuck und Säulengängen und dem privaten Garten in der Mitte vorbeigeht. Grüne Kränze an allen Haustüren stellen guten Geschmack und ein festliches Gemeinschaftsgefühl zur Schau, doch die meisten Häuser liegen im Dunkeln. In Nummer 19 verleihen die Lampen des großen Schlafzimmers im zweiten Stock den geschlossenen roten Vorhängen einen feurigen Schimmer. Drei Türen weiter flimmern die Fenster im Erdgeschoss blau – jemand hat die Spätnachrichten an, döst gemütlich vor den katastrophalen Berichten aus einer zerfallenden Welt –, und im Souterrain fällt der matte bernsteinfarbene Schein einer Nachttischlampe durch die Ritzen der Jalousien.

Wenige Schritte weiter in Nummer 31 ist der Salon im ersten Stock schamlos erleuchtet – hässliche abstrakte Gemälde und unförmige Skulpturen grell zur Schau gestellt. Ein großer Ficus, dessen grüne Blätter glänzen, als wären sie künstlich, ist mit bunten Lichterketten und schillernden Weihnachtskugeln geschmückt – silberne Planeten, die in einem funkelnden Sonnensystem kreisen. Der Raum gleicht einer leeren Kulisse; die Schauspieler haben die Bühne verlassen. Es ist eine arbeitsame Straße, und man geht hier früh zu Bett. Aber in Nummer 43 ist man sicher noch wach. In Anlehnung an den Jazzpianisten Thelonious Monk behauptete Kristof immer, dass die Welt gegen Mitternacht interessanter wird.

Und da ist er, eingerahmt vom rechten Teil des erleuchteten Fenster-Tryptichons im Erdgeschoss. Sie sieht sein Profil in einem Ledersessel vor dem Bücherregal aus geschnitztem Eichenholz, das Eve und er in Berlin gekauft haben. In einer Hand ein Glas Rotwein, in der anderen die auf die Stereoanlage gerichtete Fernbedienung, mit der er Monk, Coltrane oder Evans aufruft. In den Regalen über seinem Kopf reihen sich Dutzende von Weihnachtskarten aneinander – das übliche Sammelsurium von billig gedruckter schlechter Kunst und einfallslosen, auf die Schnelle verfassten Festtagswünschen, Zeugnisse eines regen Soziallebens und einer weitverzweigten, überwiegend funktionalen Familie. Ihm gegenüber, im linken Fensterpaneel, ebenfalls im Profil und mit Weinglas, seine neue Geliebte: die Rothaarige, zufrieden im Sessel zusammengerollt wie eine orange Katze, die sich uneingeschränkt zu Hause fühlt. Zwischen ihnen, im mittleren Fenster, leuchten aus einem großen Terrakotta-Topf auf dem Schreibtisch die vollen, blutroten Zungen eines Weihnachtssterns.

Der Kranz an der Eingangstür – Stechpalme, rote Beeren, silbern besprühte Tannenzapfen – erinnert sie an Blumengestecke auf Beerdigungen im East End, Chrysanthemenkissen mit der Aufschrift »Dad«, »Mum« oder »Nan«. Auf diesem, schießt es ihr in einem Anflug makabrer Phantasie durch den Kopf, könnte »Eve« stehen, ein stacheliger Blumengruß für sie, die nicht so heiß geliebte, noch nicht ganz Verblichene. Es ist kaum fünf Monate her, dass sie dieses Haus und ihre Ehe verlassen hat. Kristof hat keine Zeit verschwendet.

Sie schaudert in der Dunkelheit der Straße, und ihr Atem bildet eine eisige Wolkenlandschaft in der Nachtluft. Das Kinn im Schal vergraben schaut sie durch das Fenster auf das stilvolle Tableau. Es könnte ein Vermeer sein, ein leuchtendes, häusliches Interieur. Ihr Mann, ihr Haus, ihr Leben. Vorbei. Sie wendet sich wieder der Dunkelheit zu, geht um den verschlossenen Garten mit seinen schattigen immergrünen Büschen und kahlen Bäumen hinter dem mit Speerspitzen bewehrten Zaun herum. Wie alle Anwohner dieser Straße besaß auch sie den Schlüssel zu diesem Privatgarten, und zu Beginn des Frühlings saß sie gerne auf der Bank unter den prallen Blüten der Magnolie. Jetzt ist ihr der Garten ebenso verschlossen wie das Haus, in dem sie zwanzig Jahre gelebt hat.

Es dauerte ein ganzes Leben, um es aufzubauen, und nur eine Sekunde, um es zu zerstören. Familienleben. Das ging als Erstes flöten. Dann die Würde, und mit ihr der gute Ruf. Alles andere folgte in den Strudel. Nur ihre Arbeit ist geblieben. Der Junge fing ihren Blick ein und hielt ihn fest. Standbild, dann Rücklauf. Wenn sie könnte, würde sie bis zum Anfang vor mehr als drei Jahrzehnten zurückspulen – noch ehe der Junge geboren und sie selbst erst um die dreißig war –, zum Beginn des Familienlebens, das sie so resolut zerstört hat.

 

Sie ballt die behandschuhten Fäuste in der Wärme ihrer Taschen, streckt sie dann wieder und läuft weiter, in der Hoffnung, dass diese Inventur – alles, was sie verloren hat, alles, was bleibt – ihren hektischen Geist beruhigen wird.

 

In der fernen, intensiven Zeit nach der Kunstakademie, als sie sich in New Yorks fiebriger Lower East Side herumtrieb und entschlossen war, sich in der Kunstszene zu behaupten, war ihrem jungen Ich die Beziehung mit dem zehn Jahre älteren Kristof, damals bereits ein aufstrebender Star in der Architekturszene, ebenfalls wie ein Ende vorgekommen – wie ein Happy End nach Verwirrung, Unsicherheit, Einsamkeit und chaotischen Ablenkungen, die sie als Teenager und junge Frau beinahe aus der Bahn geworfen hätten. Dass sie sich damit auch von Freiheit und Spontaneität verabschiedete, schreckte sie nicht. Davon hatte sie genug gehabt. Wählen zu können war nur eine andere Art von Tyrannei. Steckte denn nicht auch im Gebundensein ein Fünkchen Freiheit? Weniger Optionen bedeuteten mehr Klarheit. Es wurde allmählich Zeit, Glück und Partnerschaft eine Chance zu geben.

 

Jetzt fängt es an zu regnen. Sie kramt in ihrer Handtasche nach dem Regenschirm, einem Objekt, das sie als junge Frau verschmäht hätte. Zu uncool. Let the hard rain fall. Doch an diesem risikoscheuen Ende des Lebens in einer unwirtlichen Landschaft sucht man Schutz, wo immer man ihn findet.

 

Besser an die Vergangenheit denken, wo die wenigen Fallen, in die man stolperte, höchstens Fleischwunden verursachten. Als Kunststudentin hatte sie sich ausschließlich dem Vergnügen und der Arbeit gewidmet. Ein kreatives, hyperaktives Chaos war ihr Medium. Der Umzug nach New York – drei wilde Postpunks aus dem heruntergekommenen London der siebziger Jahre, losgelassen in einer Stadt, in der man mit Ideen und einem gewissen kämpferischen Stil noch überleben konnte – war der Beginn des Tohuwabohus gewesen. Doch als sie mit Kristof nach Europa zurückkehrte, wurden Fleiß und Ordnung zur Regel. Mit der Schwangerschaft hatte sie Glück gehabt – ein paar Monate lästiges Unwohlsein, gefolgt von einem Kaiserschnitt und kaum negativen Auswirkungen auf ihre Arbeit.

Eine Kritikerin und marxistische Feministin schrieb später, die »Mutterschaft« habe Eve beflügelt, sie von einem formalen Stillleben-auf-Leinwand-Abklatsch – »einer obsessiven Imitation, die der Natur den Spiegel vorhält und eher abbildet als erzählt« – mittels »eines indirekten Dialogs mit botanischer Illustration« und »kunstvollem Flirt mit dem Genre« zu einer dynamischen »multi-medialen Erforschung des Lebens« geführt, »indem sie die Zeit anhält und das Empfinden über die Analyse, das Sein über das Tun stellt«. Eve tobte, als sie die Rezension las: Nahmen Kritiker je das Wort »Vaterschaft« in den Mund, wenn sie das Werk männlicher Künstler besprachen? Trotzdem stand diese Expertin anscheinend wenigstens auf ihrer Seite. Und letztlich hatte die Rezension ihrer Reputation auch nicht geschadet.

Das Baby jedoch tat sein Bestes, um alles durcheinanderzubringen. Nancy war gierig und wählerisch, seit sie ihren zornigen Blick zum ersten Mal auf die wartende Welt gerichtet und losgebrüllt hatte. In den ersten Jahren machte sie ihnen nachts die Hölle heiß, und Eve beobachtete hohläugig, schuldbewusst und verzweifelt, wie ihre gleichaltrigen Freundinnen sich aus verbissenen, auf die Arbeit fixierten Feministinnen in verträumte, träge, kindernärrische Madonnen verwandelten. Selbst Mara, der kurzgeschorene Hitzkopf aus ihrem Kunstakademie-Triumvirat, hatte der Versuchung nicht widerstehen können. Kaum war sie zurück in London und hatte die kleine, mit Hilfe ihres bereitwilligen schwulen Freundes gezeugte Esme an der Brust, wurde Mara Novak zu einer sanften Ernährerin, die von Raf‌fael hätte stammen können. Hatte sie ihr Leben lang Transparente gemalt, die Nacht für sich reklamiert und gegen das Patriarchat demonstriert, um so zu enden? Doch ihre Esme schlief jede Nacht durch. »Sie meldet sich erst gegen sieben«, prahlte die neuerdings zu Wiederholungen neigende Mara, als wäre diese Fähigkeit ihrer Tochter irgendwie der Beweis für ihre eigene moralische Überlegenheit.

Was sagte das über Eve aus, die wegen ihres schreienden Kindes mindestens sechs Mal die Nacht aufstehen musste? Nicht umsonst setzen repressive Systeme Schlafentzug als Folter ein. Eine Zeitlang hatte sie sogar die unausstehliche Wanda beneidet, ihre reizlose, neurotische, untalentierte Mitbewohnerin, die in New York blieb, um ihre fragwürdige Karriere voranzutreiben, und behauptete, ihr Nachwuchs bestehe aus Kunstwerken und Performances – einer wirren Ansammlung von ich-besessenen Happenings, »Aktionen« und Installationen. Sie ringe »mit der Stellung der Frau im Universum«, hatte sie erklärt. Ein Kind zu haben würde sie nur ablenken. Vielleicht hatte sie recht. Sie blieb als Einzige von ihnen kinderlos. Sie war auch die mit der geringsten Begabung. Man musste sich nur ihre Karriere ansehen und dann die ihrer Freundinnen.

 

Die Scheinwerfer eines auf sie zukommenden...