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London Killing

Oliver Harris

 

Verlag Blessing, 2012

ISBN 9783641073268 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

4

Belsey fuhr am East-Heath-Parkplatz vorbei. Den Streifenwagen hatten sie abgeschleppt. Es war nichts mehr zu sehen, nicht mal die Glassplitter.

Er grübelte darüber nach, welche Radarkamera ihn letzte Nacht aufgenommen haben könnte, welche Kameras das Gesicht des Fahrers aufzeichneten. Er hielt neben dem U-Bahn-Depot in der Highgate Road und blieb kurz im Wagen sitzen. Dann stieg er aus und tauchte in die schäbige Geschäftigkeit der Kentish Town Road ein.

Was hatte er getan?

Er ging ins Bürgerbüro und holte sich eine Broschüre mit dem Titel »Wege aus der Privatinsolvenz«. Dann ging er zu Tote, dem Buchmacherladen, wo an einer Plastiktheke heiße Getränke und Snacks verkauft wurden. Er hatte gerade noch genug Kleingeld für einen Kaffee. Belsey suchte sich einen Platz im hinteren Teil des Ladens. Er schluckte vier Paracetamol und blätterte in der Broschüre: Machen Sie eine Liste mit Ihren täglichen Ausgaben. Seien Sie ehrlich. Er legte die Broschüre mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch.

Die vergangene Nacht markierte einen Einschnitt in seinem Leben. Das spürte Belsey. Sie war eine Brandschneise. Er versuchte die Nacht vom Ende her zu rekonstruieren: vom demolierten Auto zurück bis zu den Ereignissen, die dazu geführt hatten. Der Wagen gehörte zum Revier Kentish Town. Wenn er in Kentish Town gelandet war, hatte er sich in der Gegend wahrscheinlich noch irgendwo einen Absacker genehmigen wollen. Er erinnerte sich jetzt, dass er in einem Laden in der Fortress Road Zigaretten hatte kaufen wollen, dass aber seine Brieftasche weg gewesen war. Das war einen Block vom Revier Kentish Town entfernt.

Während er seinen Kaffee trank, kamen die ersten Zocker des Tages herein. Er stand auf und überließ sie ihrem Glück.

Der Empfang im Revier Kentish Town war mit einem Polizeianwärter besetzt: ein Frischling, vielleicht neunzehn, gebleichtes blondes Haar. Belsey zeigte seine Marke.

»Nick Belsey. Revier Hampstead. Hab gehört, euch ist ein Streifenwagen abhandengekommen.«

»Richtig.«

»Wann war das?«

»Gemeldet um 3 Uhr 17.«

»Inspector Gower würde gern die Bänder sehen.«

Der Frischling schaute verunsichert. »Die Aufzeichnungen von unserem Parkplatz?«

»Richtig. Wissen Sie, wo die aufbewahrt werden? Ich meine, wo die Festplatte ist, auf denen die Aufnahmen gespeichert werden?«

»Ja.« Dann tauchte Detective Constable Robin Oakley auf, und Belsey sah seine Felle schon davonschwimmen. Belsey und Oakley hatten zusammen an Lehrgängen teilgenommen. Er fuhr einen Nissan GT-R, sammelte Kampfsportwaffen und war ein Großmaul.

»Nick«, sagte Oakley und beäugte Belseys Schnittwunden. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«

»Sind letzte Nacht ein Handy und eine Brieftasche abgegeben worden?«

»Warum?«

»Weil ich meine verloren habe«, sagte Belsey.

Oakley fand das sehr komisch. »Hat irgendwer Nick Belseys Brieftasche abgegeben?«, brüllte er. »Die könnte überall sein, Nick. Wenn du weißt, was ich meine?«

»Nein.«

Oakley grinste. Der Frischling schaute verwirrt. »Soll ich mich jetzt um die Sache mit dem Parkplatz kümmern?«

»Ist schon okay«, sagte Belsey. »Nicht so wichtig.«

»Welche Sache mit dem Parkplatz?«, fragte Oakley.

»Nichts. Hast du eine Zigarette?«

Sie gingen nach draußen. Oakley zog eine Zehnerpackung Superkings aus seiner Brusttasche und gab Belsey eine.

»Was ist los mir dir, du durchgeknallter Mistkerl?«, sagte Oakley.

»Hast du mich letzte Nacht gesehen?«

»Halb London hat dich gesehen.«

»Wo war ich?«

»Hast du mit deinem Boss gesprochen?«

»Gower? In letzter Zeit nicht.«

»Jesus!« Oakley musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut loszulachen, das war ihm anzusehen. »Wo bist du gelandet?«

»Warum?«

»Nick, du musst unbedingt mit Gower reden.«

»Also gut. Was habe ich angestellt?«

»Irgendwann warst du im Lorenzo’s.«

»Jesus!« Belsey schloss die Augen. Lorenzo de Medici’s war eine koksverseuchte Spelunke hinter der Tottenham Court Road. Tagsüber war Lorenzo’s ein mittelmäßiger Pastaschuppen, aber er hatte eine Alkohollizenz bis fünf Uhr morgens und wurde von einem Säufer betrieben, der die Finger nicht von seinen eigenen Beständen lassen konnte. Die Wände zierten schlechte Kopien von Renaissance-Meisterwerken, und die Waschbecken in der Toilette waren gewöhnlich blutverschmiert.

»Um wie viel Uhr war ich im Lorenzo’s?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Hatte ich da noch mein Handy?«

»Du hast Gott und die Welt angerufen. Du hast jedem erzählt, dass er sofort herkommen soll, du hättest Geburtstag.«

Belsey öffnete die Augen wieder. Oakley lächelte und schüttelte den Kopf. Er schnippte seine Zigarette auf die Straße, tätschelte Belsey den Arm und ging wieder hinein.

Belsey rauchte seine Zigarette fertig und ging dann wieder zum Wagen. Bruchstückhaft kam die Erinnerung zurück: Ihm fiel jetzt ein, dass er sehr früh am Morgen im Lorenzo’s gewesen war. Er hatte versucht, dem Besitzer seine Jacke zu verkaufen. Er hatte versucht, irgendwem in der Bar zu erklären, dass sein Fremdmittelanteil zu hoch war, was alle rasend lustig gefunden hatten. »Fremdmittelanteil«, riefen sie immer wieder. Sie mussten schreien, um die Musik zu übertönen.

»Ich mache jetzt spirituelle Exerzitien.«

Belsey hatte in einem Bioladen einen Prospekt mitgenommen: Ängstlich? Verunsichert? Wir sind eine religionsübergreifende Gemeinschaft und unterhalten ein Zentrum für spirituelle Exerzitien in Worcestershire. Darunter die Zeichnung von einem erleuchteten Mann im Schneidersitz, von dessen Körper helle Strahlen ausgingen. Gewinne deine kindlich unbeschwerte Seele zurück. Gewinne deinen inneren Frieden zurück.

»Du machst also einen Entzug?«

»Nein, keinen Entzug, Exerzitien! Spirituelle Exzerzitien«, sagte Belsey.

»Und was gibt’s da zu trinken?«

Er erinnerte sich, dass er irgendwann in der Nacht mit einem Mann in einem Auto gesessen hatte, der behauptete, für das Außenministerium zu arbeiten, und dass dieser Mann Einstichnarben auf den Handrücken gehabt hatte. Plötzlich wusste er, wie alles angefangen hatte. Er hatte im Foyer eines Bed & Breakfast in Kings Cross gestanden, neben sich zwei Müllsäcke mit seiner gesamten Habe. Gerade war die letzte seiner Kreditkarten gesperrt worden.

Er hatte gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde, war aber dennoch erstaunt, als es dann tatsächlich passierte. Vor zwei Wochen hatte man in einem Laden zum ersten Mal eine seiner Karten nicht akzeptiert. Am Anfang hatte er noch routinemäßig Callcenter angerufen und mit höflichen jungen Männern in Mumbai und Bangalore geplaudert. Er hatte in Pubs Zahlen auf Servietten gekritzelt, als sei es jetzt an der Zeit für eine exakte Kalkulation. Das Ego ist des Spielers größter Feind. Immer wieder ging ihm dieser Satz aus einem Buch durch den Kopf. Was hatte er getan? Er war schlau genug gewesen, die Schulden zirkulieren zu lassen, aber nicht schlau genug, seinen Lebensstil zu opfern, um die Schulden auch abzahlen zu können. Er war zu mutig gewesen, das war die simple Wahrheit: dumm mit einer Zuversicht jenseits aller Vernunft. Seine Zockerkumpels würden sagen, er habe on tilt gespielt, er habe die Kontrolle verloren und sei geradewegs auf den Abgrund zugerast. War es das, was er getan hatte? Hatte er durch die Talsohle hindurch aus seinen Schulden herauskommen wollen?

Die letzten Tage seiner Kreditwürdigkeit waren die wildesten gewesen. Er hatte Fremden Geschenke gemacht, hatte Wohltätigkeitsorganisationen Geld gespendet, hatte ein paar letzte waghalsige, euphorische Wetten auf zukünftige Regentage und Wahlergebnisse in zentralasiatischen Republiken getätigt. Damals glaubte er einen Punkt höherer Einsicht erreicht zu haben, der sich jetzt als eine Art Unterkühlung herausstellte. Das merkte er, als die schmerzhafte Erkältung in fiebrige Apathie überging. Er machte ein paar Tage die Augen zu, und als er sie wieder aufmachte und auf seine Finanzen blickte, hatten sie schon angefangen, sich selbst aufzufressen. Sein Gehalt deckte nicht mal mehr seine Zinsbelastung ab, ganz zu schweigen davon, dass es für so triviale Dinge wie die Miete reichte.

Der Hotelbesitzer sagte, es tue ihm leid, als er Belsey vor die Tür setzte. Ihm bleibe keine Wahl, ein kleines Hotel wie das seine könne sich das einfach nicht leisten. In Belseys Zimmer war schon eine Familie eingezogen, hagere Leute mit nervösem Blick, denen Belsey die Tüten mit seinen Habseligkeiten überließ. Er schaffte es einfach nicht, sie mitzunehmen. Mit ihm landete auch ein junger Afghane mit hellen Augen auf der Straße: Siddiq Sahar, der noch am selben Tag heiraten wollte.

»Mir gibt man kein Asyl, dir keinen Kredit«, sagte Siddiq grinsend. Das schien ihm nicht viel auszumachen. Er sagte, seine Papiere seien jetzt in Ordnung. Sie standen vor der abblätternden Fassade des Continental Hotels, Belsey in seiner Detective-Aufmachung, der Afghane in einer Fliegerjacke mit den Stars and Stripes auf dem Rücken. Weißes Sonnenlicht schien auf die vorbeifahrenden Autos und das Baugerüst der St. Pancras Station, auf den staubigen Gehweg und die dreckigen Schaufenster der Geschäfte. Sie hatten sich während des Monats, in dem Belsey in dem Hotel gewohnt hatte, ganz gut kennengelernt....