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Im Reich der Schuhe

Im Reich der Schuhe

Spencer Wise

 

Verlag Diogenes, 2021

ISBN 9783257611472 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

Ivy ist eine Näherin aus der Modellabteilung und hatte damals auf dem Tian’anmen-Platz protestiert. Eigentlich heißt sie natürlich nicht Ivy, sondern Hanjia Liu, ein Name, den ich nie über die Lippen bekam, meine hohen Töne zu tief, die tiefen zu hoch, und wie gerne ich ihn auch korrekt ausgesprochen hätte, er blieb meiner Zunge ein ewiges Rätsel.

Ich spürte ihren feuchten Rücken an meinem, spürte die Wärme, die von ihrer Wirbelsäule ausging – so nahe waren wir uns noch nie gewesen. Am liebsten hätte ich die Hand nach hinten ausgestreckt und ihre genommen, aber ich wusste, dass unser Ausflug kein Date war. Es war sehr heiß. Still hier zu sitzen reichte schon. Dayenu. Unwillkürlich hatte ich das alte Pessach-Lied im Ohr. Es wäre genug. Die Lüge der Genügsamkeit. Jeder will mehr.

Ich merkte, wie das Gewicht von Ivys Haar von meinen Schultern genommen wurde, die plötzliche Kühle im Nacken, und ich wusste, ohne mich umzudrehen, dass sie ihr Haar zu einem lockeren Knoten band, ohne Gummi oder Spange, wie sie es immer tat, bevor sie aß. Sie reichte mir ein Stück Drachenfrucht, und ich biss in das frische, leichte Fleisch, knackte die kleinen schwarzen Samen. Bevor sich die Süße auf meinen Lippen auf‌löste, war ihre Hand wieder neben meinem Ohr, und sie hielt mir zwischen Zeige- und Mittelfinger das nächste perlweiße Stück hin. Sie hatte schon jetzt Näherinnenknöchel, die Gelenke der obersten Fingerglieder geschwollen und rot. Ich nahm ihr die Frucht ab. Wir aßen schweigend. Ich kämpf‌te gegen das Bedürfnis an, die Stille mit Unsinn zu füllen, weil mir die Ruhe zu schaffen machte wie ein Stiefel auf der Brust. Könnten wir nur in diesem Augenblick bleiben. Aber es ging natürlich nicht. Ich musste meinem Vater gegenübertreten. Ivy sagte, sie wolle nicht, dass ich zwischen ihm und ihr entscheiden müsse, zwischen einem Vater und einer Dagongmei, einer Wanderarbeiterin.

Ich musste zurück; ich kam zu spät zu unserer Verabredung zum Abendessen im Hotel. Der ganze Nachmittag war leise verflogen, seit ich mich wie ein Depp, der entführt werden will – wie mein Dad sagen würde – bei der Schuhfabrik hinter Ivy aufs Motorrad gesetzt und sie mich hierher auf das Flussschiff ihrer Großmutter gebracht hatte, am Vorabend des Grabfegetages, an dem alle Kinder nach Hause kommen.

Der Rückweg führte über eins der Styroporblock-Flöße zum Ufer und dann auf Ivys Motorrad zum Hotel, wo sich mein Vater vermutlich gerade einen Lacoste-Pullover um die Hüften schlang, in die Bootsschuhe schlüpf‌te und sich unter jedes Nasenloch einen Klecks Neosporin schmierte, damit er sich nicht erkältete, weil China der letzte Ort ist, an dem du abkacken willst. Während hinter seinem Rücken, aber mit bestem Wissen Ivys, seine eigenen Sicherheitskräfte für fünfzig Yuan extra Ivys Flugblätter für eine neue Gewerkschaft unter den Türen der Wohnheime durchschoben. Aber solange ich dort auf dem blechgedeckten Hausboot saß, solange ich an Ort und Stelle blieb und mich auf das konzentrierte, was vor mir war, war alles gut. Erst als ich mich bewegte, wurde ich zum Verräter.

Genug. Ich stand auf, die Beine vom langen Sitzen eingeschlafen, und während ich mir die Oberschenkel massierte, um meinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen, zankten sich Ivy und ihre Großmutter auf Chinesisch. Ich schwang ein Bein über das Seitendeck. Mein Fuß berührte den Styroporblock, die behelfsmäßige Fähre, die mich die knapp fünfzig Meter ans Ufer tragen sollte. Ivy reichte mir die Stange und warnte mich, dass es schwieriger sei, als es aussehe, auf dem Block zu balancieren, der nicht viel breiter als meine Schultern war. Jetzt stand ich heftig wackelnd mit beiden Füßen darauf und versuchte, mich mit langen Zügen wie ein Gondoliere voranzuschieben. Die Blicke des ganzen Dorfs ruhten auf mir, die Last der Erwartung. Wahrscheinlich war mein Vater ohne mich losgegangen und saß schon in der Churrascaria des Hotels, wo er »Fisch« rief, während die Kellner Lammkeulen vorbeitrugen. Fisch, nicht trejf, wollte der Kaiser. Dad war ungefähr so fromm wie ein Schweinefleisch-Wantan, was ihn nicht daran hinderte, Gott ins Feld zu führen, falls der Fisch nicht zackig aufgetischt wurde.

Das Floß wackelte, die linke Kante tauchte unter, und ich ging in die Hocke, Füße platt, Knie gespreizt, wie ich es bei den Fischern gesehen hatte; es war eine Position, die man beherrschen muss, wenn man in China überleben will. Es gab keinen Grund, warum ich es nicht schaffen sollte. Ich spürte das Brennen in den Oberschenkeln, den zunehmenden Schmerz in den Knien, aber Aufstehen ging nicht, das tat keiner. Rund zwanzig Meter legte ich ohne größere Schwierigkeiten zurück, als meine Knie heftig zu zittern anfingen. Ich spürte die Blicke. Zurück konnte ich nicht, ich durf‌te das Gesicht nicht verlieren, nicht einmal vor lauter Fremden.

Also tauchte ich die Stange weiter ein und zog sie am Floß entlang, aber das Zittern in den Knien wurde so schlimm, dass ich mich schließlich aufrichten musste. Einen Moment lang stand ich da, Schultern parallel zum Ufer, doch im nächsten fiel ich vom Floß, direkt in die Giftbrühe meines Vaters. Denn es war unser Gift. Der Fluss war voll mit Chrom und Kalk, Schwefel und Sodaasche. Es ist ein schmutziges Geschäft, Junge. Ich sah die Brühe auf mich zukommen wie schwarzer Sirup mit einer schimmernden Lackschicht, dann tauchte ich unter, rechte Schulter voraus. Das Wasser brannte in meiner Nase. Lauge. Ich drückte das Kinn an die Brust und atmete durch die Nase aus. Augen fest geschlossen, Lippen auch, der Geschmack von Rost sickerte trotzdem durch, ein Tropfen Silber auf der Zungenspitze. Schwärze, Grauen. Mein Sneaker berührte etwas Hartes. Die schweren Kleider zogen mich nach unten, der Fluss verschluckte mich, immer tiefer. Ein Arm schoss nach oben, der andere ruderte seitwärts, und auch die Beine arbeiteten asynchron, während mein Körper kopf‌los Richtung Oberfläche strampelte. Ein Brennen in meiner Lunge. Mein Blut schrie.

Mein Kopf tauchte aus dem Wasser. Ich schnappte nach Luft und hörte das ganze Dorf lachen und Gweilo! rufen. Kantonesisch für Geistermensch. In der Fabrik hieß jeder nach seinem Job: Absatzzieher, Frachtfrau, Fäkalist, Leimmischer; und ich war Head of Development, doch kaum verließ ich das Fabrikgelände, war ich nur Gweilo und war es bereits seit meinem ersten Tag vor einem Jahr. Das Wasser verströmte einen stechenden Ammoniak-Geruch, als ich mit hoch gerecktem Kinn zum Betonsteg am Ufer schwamm, keine fünf Meter von der gähnenden Öffnung eines gewellten Abflussrohrs entfernt.

An der Anlegestelle stand ein Chinese in langer Hose und frisch gebügeltem weißem Hemd, mit Kind und Frau, die ihren Rock raff‌te, damit der Saum nicht den nassen Beton berührte. Mit Renminbi-Scheinen wedelnd brüllte der Mann seine Bestellung frischer Karpfen in Richtung der Boote, und ich verdrängte die Vorstellung, dass der Fisch aus demselben Fluss kam. Aber ich war froh, dass er da war, denn so wandten sich die Leute auf den Hausbooten wieder ihren Geschäften zu und vergaßen mein Missgeschick. Die Fischer griffen in ihre Eimer, schoben die Finger hinter die Kiemen der Karpfen und hielten sie hoch mit ihren zappelnden Schwänzen, damit der Kunde wählen konnte.

Ich stemmte mich aus dem Fluss und kletterte neben dem Städter auf die Anlegestelle, der mir einen Blick zuwarf, »ah, ah, ah« sagte und sich wieder seinem Einkauf widmete, als wäre nichts weiter passiert: bloß ein vollbekleideter Gweilo, der aus dem Wasser kroch. Oben auf der steilen Böschung lehnte Ivys Motorrad – eine alte Honda CG125 mit leuchtend orangem Tank – am Gerippe einer russischen Tupolew, die einst hier abgestürzt und im Bambus- und Schlingpflanzengestrüpp zurückgelassen worden war, abgenagt wie ein gesottenes Schwein, ein Stahlskelett mit eisernen Rippen wie Walknochen. Die meisten Hausboote waren mit den Aluminiumblechen des Flugzeugs gedeckt. Tupolews waren Chinas erste kommerziellen Flugzeuge gewesen, mein Vater war früher damit von Beijing nach Guangzhou geflogen, auch wenn sie in unerfahrenen Händen bockten und absackten und scharenweise vom Himmel fielen.

Einer der Männer am Ufer, der gerade Lychee-Kisten auf einen Pritschenwagen lud, hielt inne, um mir aus seinem Führerhaus ein fischiges Handtuch zuzuwerfen. Ein rauher Lumpen mit tiefroten Flecken, glitzernden Schuppen und üblem Gestank. Aber er beobachtete mich, also rieb ich mich damit ab, ließ nur das Gesicht aus, und warf es ihm zurück. Nach Enthaarungsmittel und Fischdärmen stinkend war nicht der Aufzug, in dem ich verspätet zum Abendessen mit meinem Vater erscheinen wollte. Wenn ich sofort losfuhr, blieb mir vielleicht noch Zeit, mich umzuziehen, auch wenn er wahrscheinlich längst mit dem Essen fertig war und die Hand über den gläsernen Niesschutz des Häagen-Dazs-Wagens ausstreckte – auf dessen Schild »Eiskrem: Messias des Glücks« stand – und sich eine große Schüssel French Vanilla nahm, während die Kellnerin wild gestikulierend herbeieilte und sich für die Vernachlässigung entschuldigte. Ach, jetzt kommst du gelaufen?

Ich nahm das Handy heraus, aber es war natürlich tot. Dads letzte SMS, die ich vor ein paar Stunden erhalten hatte, lautete: »ERA?«, und ich hatte zurückgeschrieben: »Mein E.R.A. in der Little League? Ungefähr 7,25. 10, wenn ich heulte.« Er hatte natürlich nicht meinen...