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Flüchtiges Begehren - Commissario Brunettis dreißigster Fall

Flüchtiges Begehren - Commissario Brunettis dreißigster Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2021

ISBN 9783257611663 , 320 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

Auf der Treppe zu seinem Büro ging Brunetti seine Geschichte mit dem angeblich schlechten Handyempfang nicht aus dem Kopf. Die Questura war an allen Ecken und Enden nicht in Schuss, Brunettis Erfindung also durchaus glaubwürdig. Die Heizung war ein Witz, pustete im Winter nur schwach mal hier, mal da im Gebäude. Eine Klimaanlage gab es nur in wenigen privilegierten Büroräumen. Die Stromversorgung funktionierte zwar einigermaßen, aber gelegentliche Spannungsspitzen hatten bereits mehrere Computer und einen Drucker zerstört. Die Belegschaft war mittlerweile so leidgeprüft, dass hin und wieder explodierende Glühbirnen nur noch als Vorspiel für das Feuerwerk zu Redentore betrachtet wurden. Auch die sanitären Einrichtungen zickten hin und wieder; das Dach war an zwei Stellen undicht, und die meisten Fenster ließen sich schließen, manche aber nicht öffnen.

Brunetti überlegte, ob er nicht selbst diesem Gebäude glich, hier ein Zipperlein, da ein kleiner Defekt, aber dann gingen ihm die Vergleiche aus. Er nahm die Hand vom Geländer und richtete sich beim Treppensteigen gerader auf.

Oben im Büro warf er die am Campo Santa Marina gekauf‌te Zeitung auf den Schreibtisch. Er fand es unangenehm warm und öffnete ein Fenster. Die Aussicht, das musste er zugeben, hatte sich verbessert, seit man die Kirche frisch herausgeputzt und das altersschwache Katzendomizil entfernt hatte. Aber die Katzen fehlten ihm doch.

 

Er nahm sein Handy aus der Tasche und wählte Paolas Nummer. Sie meldete sich erst nach mehrmaligem Läuten: »Sì?« Weiter nichts.

»Ah«, rief Brunetti und erklärte dann mit tiefer Stimme: »Was hört mein Herz für Töne, beglückt von …«

»Was gibt es, Guido?«, unterbrach sie ihn, und dann erklärend: »Ich spreche gerade mit einem meiner Studenten.«

Brunetti hatte sich eigentlich nur erkundigen wollen, was es zum Abendessen geben würde; jetzt sagte er: »Ich wollte dir nur sagen, wie sehr ich dich liebe.«

»Besten Dank«, meinte sie und hängte ein, bevor er zu weiteren Ergüssen ansetzen konnte.

Brunetti schielte nach der Zeitung – mit Sicherheit interessanter als die ungelesenen Rapporte auf seinem Schreibtisch, berichtete sie doch über die Ereignisse in der Welt jenseits des Ponte della Libertà. Wie oft hielt er seinen Kindern ihren Mangel an Neugier vor, nicht nur, was ihr Heimatland betraf, sondern auch darüber hinaus. Wie sollten sie zu verantwortungsvollen Bürgern heranreifen, ohne über ihre Staatsvertreter und Gesetze Bescheid zu wissen sowie die Allianzen, die uns mit Europa und anderen Ländern verbanden?

Noch bevor er den Gazzettino aufschlug, hatte Brunetti eine Eloge auf den Patriotismus entworfen, auf die selbst Cicero stolz gewesen wäre. Die narratio fiel ihm nicht schwer: Seine Kinder interessierten sich nicht für die Politik ihres Landes. Die refutatio war ein Leichtes: Mühelos könnte er die Behauptung vom Tisch fegen, Italien sei eine bloße Marionette von Deutschland und Frankreich. Nach der peroratio, in der er sie beschwor, ihre Verantwortung als Staatsbürger wahrzunehmen, wollte er gerade zum Schluss kommen, als sein Blick auf die Schlagzeile fiel: »Morta la moglie strangolata: Una settimana di agonia.« Also war sie gestorben, die junge Frau, die ihr heroinsüchtiger Mann bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hatte – nach einer Woche Todeskampf, die Ärmste. Sie hinterließ ein Kind. Wie so oft in solchen Fällen hatten sie kurz vor der Scheidung gestanden. Nun ja.

Dann eine kurze Meldung über zwei junge Amerikanerinnen, die man am Sonntag in den frühen Morgenstunden auf dem Steg vor der Notaufnahme des Ospedale Civile bewusstlos vorgefunden hatte. Der Artikel nannte ihre Namen. Dann hieß es nur noch, eine der beiden hätte einen gebrochenen Arm gehabt.

Unaufhaltsam wanderte sein Blick zu dem Artikel darunter: Da ging es um die Durchsuchung eines ehemaligen Schweinezuchtbetriebs bei Bassano, wo man bereits die sterblichen Überreste der zwei Ehefrauen des früheren Besitzers – der inzwischen eines natürlichen Todes gestorben war – entdeckt hatte. Und jetzt gab es Reste, die auf eine dritte Frau hinwiesen, die nach Aussage von Nachbarn eine Zeitlang dort gelebt hatte, dann aber plötzlich verschwunden sei.

Es war das Wort »Reste«, das Brunetti aus dem Büro hinaus und die Treppe hinunter ins Freie jagte. Er hielt auf die Bar zu, getrieben allein von dem Wunsch, all das hinter sich zu lassen.

Bamba Diome, der senegalesische Barmann, hatte seinen Arbeitgeber hinter dem Tresen abgelöst. Brunetti brachte nur ein wortloses Nicken zustande. Er sah nach links, die drei Nischen waren besetzt. Umso besser, sagte er sich, schließlich war er nur hier, um kurz aufzutanken. Er studierte die Glasvitrine mit den tramezzini: Die hatte Sergio gemacht, der sie immer noch zu Dreiecken schnitt, während Bamba Rechtecke bevorzugte. Vielleicht eins mit Ei und Tomate? Bamba kam zu ihm und wischte kurz über den Tresen.

»Wasser, Dottore?«

Brunetti nickte. »Und eins mit Tomate und Ei.« Den vor ihm liegenden Gazzettino schob er beiseite. Bamba, dem dies nicht entging, sagte: »Schrecklich, nicht wahr, Dottore?«, und stellte ihm ein Glas Wasser und das tramezzino hin.

»Ja. Schrecklich«, bestätigte Brunetti, auch wenn er nicht wusste, welchen Artikel der Barmann meinte. Bamba sah nach den Nischen, wo jemand die Hand hob, und glitt diensteifrig hinter der Theke hervor.

Brunetti nahm einen Bissen, legte das tramezzino auf den Teller zurück und trank einen Schluck Wasser. Wenn dies mein tägliches Mittagessen sein müsste, dachte er, wäre mein Leben nicht mehr lebenswert. Das war kein Essen, nur Treibstoff. Gut waren sie ja, diese tramezzini, aber das änderte nichts daran, dass es bloß tramezzini waren. Wo sollte es hinführen, wenn wir ein Sandwich als Nahrung akzeptierten?

Brunetti, studierter Jurist, hatte sich immer auch für Geschichte interessiert, und Bücher über die Geschichte der Neuzeit hatten ihn gelehrt, wie Diktaturen sich oft aus Kleinigkeiten entwickeln: einschränken, wer welche Arbeit machen darf, wer wen heiraten, wer wo leben darf. Mit der Zeit wachsen diese Auf‌lagen sich aus, und bald dürfen manche Leute gar nicht mehr arbeiten oder heiraten oder – am Ende – leben. Er verwarf den Gedanken als völlig übertrieben. Der Weg zur Hölle war nicht mit tramezzini gepflastert.

Er ging zur Kasse. Bamba bongte den Betrag und reichte ihm die Quittung. Drei Euro fünfzig. Brunetti gab ihm einen Fünfeuroschein und wandte sich zum Gehen, ehe der Barmann ihm herausgeben konnte.

 

Auf dem Rückweg zur Questura horchte Brunetti in sich hinein, ob seine Lebensgeister sich regten.

Die Sonne schwächelte bereits und schaffte es nicht mehr über die Gebäude zu seiner Linken. Endlich kommt das Wetter zur Vernunft, dachte Brunetti, bald wird es Zeit für risotto di zucca. In ein paar Wochen könnten Paola und er in die Giardini gehen und die Verfärbung genießen. Früher saßen sie oft im Parco Savorgnan, aber seit ein Sturm drei seiner Lieblingsbäume umgeworfen hatte, zog es Brunetti nicht mehr dorthin, auch wenn er somit auf das Gebäck bei Dal Mas verzichten musste. Schließlich gab es auch noch die Farbenpracht in den Giardini Reali: Die waren kürzlich wieder hergerichtet worden und lockten zudem mit einem wunderbaren Café, wo man ungestört einfach nur sitzen und lesen konnte.

Was immer an Nährstoffen in dem tramezzino gesteckt haben mochte, zu spüren war davon nichts, keine neuen Kräfte, die seine innere Unruhe hätten vertreiben können.

Unten an der Treppe blieb er vor der Korktafel an der Wand stehen. Der Innenminister, las Brunetti, äußere sich besorgt, dass zu viele Leute ihre Dienstwagen für außerdienstliche Zwecke nutzten.

»Wie schockierend«, brummte Brunetti. »Vor allem hier bei uns.«

Seine gedämpf‌te Stimmung vom Vorabend hatte ihn immer noch im Griff. Schuld daran war vielleicht auch das Gespräch mit zwei alten Freunden, die vorzeitig in Rente gegangen waren und nun kein anderes Thema mehr kannten als die süßen Streiche ihrer Enkel.

Hier unten war niemand, auch auf der Treppe rührte sich nichts, in der Ferne klingelte ein Telefon und verstummte plötzlich. Beschämt über seine Trägheit und Pflichtvergessenheit gab er sich einen Ruck und rief Signorina Elettra in ihrem nur wenige Meter entfernten Büro an. Er müsse dringend gehen, sagte er, einer seiner Informanten wolle ihn unbedingt sofort sprechen.

Zum Glück hatten die zwei, die ihm gelegentlich Informationen zugespielt hatten, als er sie dann anrief, tatsächlich Zeit und erklärten sich zu einem Treffen bereit. Beide lebten zwar in Venedig, trafen sich aber nie dort mit ihm aus Furcht, jemand könne sie mit dem stadtbekannten Polizisten sehen; und so verabredete er sich mit dem einen in Marghera und mit dem anderen in Mogliano.

Die Treffen liefen nicht besonders. Es kam zu Differenzen wegen der Bezahlung. Der Erste hatte keine neuen Informationen und verlangte dennoch einen Monatslohn. Brunetti lehnte kategorisch ab – sonst würde der Mann nächstens auch noch Weihnachtsgeld fordern.

Der Zweite war ein Einbrecher, der seine Berufung – aber nicht seine Beziehungen – nach der Geburt seines ersten Kindes aufgegeben und einen Job als Lieferant von Milch und Milchprodukten angenommen hatte. Er traf sich mit Brunetti während der Arbeit und gab ihm den Namen des Zwischenhändlers, der die...