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Das Lebende lebendiger werden lassen - Wie uns neues Denken aus der Krise führt

Hans-Peter Dürr

 

Verlag oekom Verlag, 2012

ISBN 9783865813787 , 168 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz frei

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KAPITEL II

Nachhaltigkeit und das Paradigma
des Lebendigen

 

Unser Weltbild ist nach wie vor mechanistisch geprägt – und damit zu eng. Denn es findet keinen adäquaten Zugang zum Lebendigen. Die alte mechanistische Physik beschreibt nämlich zunächst die Realität der Dinge mit den bekannten Naturgesetzen, wobei kein Unterschied zwischen belebt und unbelebt gemacht wird. Wenn wir einen Apfel fallen lassen, folgt er dem Gesetz der Schwerkraft und fällt zu Boden. Alles ist determiniert und vorherbestimmt. Aber für lebendige Systeme reicht diese mechanistische Beschreibung nicht aus. Lebendige Wesen wie etwa der Mensch sind im Grunde instabile Systeme. Ihre scheinbare Stabilität erhalten sie durch ein dynamisches Ausbalancieren, das ständige Energiezufuhr benötigt.

Die neue Physik, die Quantenphysik, entspricht jedoch der Logik der Natur: Teilchen verhalten sich wie Wellen und Wellen wie Teilchen. Und genau diese Unschärfe verweist auf den Ursprung alles Lebendigen – auf einen zugrunde liegenden universellen Code, der eben nichts anderes ist als Information. Die neue Physik bezieht auf diese Weise auch unsere Alltagserfahrungen mit ein und damit die Lebendigkeit. Es gibt nur ein Beziehungsgefüge, ständigen Wandel, nur einen Zusammenhang ohne materielle Grundlage, etwas, was wir nur spontan erleben und nicht greifen können. Wir tun uns schwer, uns dies vorzustellen. Materie und Energie treten erst sekundär in Erscheinung – gewissermaßen als etwas Geronnenes, Erstarrtes. Wenn wir über die Quantenphysik sprechen, sollten wir also besser eine Verbsprache verwenden. In der subatomaren Quantenwelt gibt es keine Gegenstände, keine Materie, keine Substantive, also keine Dinge, die wir anfassen und begreifen können. Es gibt nur Bewegungen, Prozesse, Verbindungen und Informationen. Auch diese genannten Substantive müssten wir eigentlich übersetzen in: Es bewegt sich, es läuft ab, es hängt miteinander zusammen, es weiß voneinander. So bekommen wir eine Ahnung von diesem Urgrund der Lebendigkeit.

Ordnung des Lebendigen

Die Grundvoraussetzung desmakroskopisch Lebendigen ist Chaos. Das leuchtet uns einerseits ein, doch klingt es andererseits wenig plausibel, weil Lebendiges offensichtlich doch auch eine Ordnung zeigt. Wenn jedoch Chaos mit Chaos verkoppelt wird, dann braucht daraus nicht ein Superchaos zu resultieren, sondern es können dabei auch geordnete Strukturen entstehen. Diese Strukturen sind allerdings nicht fest bestimmt, sondern nur durch gewisse Muster charakterisiert. Dies soll anhand eines Experimentes vorgeführt werden: Ich gebe auf den Boden eines Hohlzylinders aus Plexiglas einen Schmieröltropfen. Schmieröl ist eine viskose Flüssigkeit, bei der die Flüssigkeitsteilchen einerseits gegeneinander beweglich sind, andererseits aber, was die Zähflüssigkeit der Flüssigkeit verrät, doch stark von ihrer jeweiligen Umgebung beeinflusst werden; dies kann zu einem chaotischen Strömungsverhalten führen. Ich schiebe dann in den Hohlzylinder einen Zylinderpfropfen hinein und drücke ihn herunter. Der Schmieröltropfen wird dadurch auf dem Boden zu einem dünnen Film platt gedrückt. Dann ziehe ich langsam den Zylinderpfropfen heraus. Es strömt Luft von allen Seiten hinein. Was passiert? Es entsteht eine filigrane, verästelte Ölstruktur. Ich kann das Hineindrücken und Herausziehen mehrmals wiederholen. Ich bekomme immer wieder ein bestimmtes Muster, eine ähnliche Struktur, bei der keine Form genau der anderen gleicht. Dies mag als ein Beispiel dafür dienen, dass, wenn Chaos mit Chaos verkoppelt wird, wieder Ordnungsstrukturen entstehen können, die aber nicht im Detail miteinander identisch sind.

Ist dies nicht ein Charakteristikum des Lebendigen? Ein Eichenblatt wird wieder ein Eichenblatt, und ich erkenne es als solches, aber jedes Blatt ist doch anders. Dieselbe Nicht-Materie, wie die tote Materie, führt destabilisiert (oder sollte man sagen: sensibilisiert?) im Verband zu Strukturen, die dem Lebendigen ähneln. Geht das wirklich so? Könnte man sich vorstellen, dass das, was wir lebendige Materie nennen, eigentlich die Grundstruktur der Materie widerspiegelt, in denen die »Teile« so miteinander kooperieren, dass etwas wie eine lebendige Zelle oder gar ein Mensch entsteht? Und was bedeutet das nun für unser Weltbild?

Da Zukunft im Wesentlichen offen ist, wird die Welt in jedem Augenblick neu erschaffen, aber wohlgemerkt vor dem Hintergrund, wie sie vorher war. Gewisse Dinge sind vorgezeichnet, die im Wesentlichen von den alten herrühren. So wie man Gewohnheiten hat, die man auf diese Weise immer wieder auslebt. Doch Alles ist an der Gestaltung der Zukunft mitbeteiligt. Die Zukunft ist nicht etwas, das einfach hereinbricht, sondern die Zukunft wird gestaltet durch das, was jetzt passiert. Das Naturgeschehen ist dadurch kein mechanistisches Uhrwerk mehr, sondern hat den Charakter einer fortwährenden kreativen Entfaltung. Die Welt ereignet sich gewissermaßen in jedem Augenblicke neu nach Maßgabe einer »Möglichkeitsgestalt« und nicht rein zufällig im Sinne eines »anything goes«. Die Wirklichkeit, aus der sie jeweils entsteht, wirkt hierbei als eine Einheit im Sinne einer nicht zerlegbaren »Potenzialität«, die sich auf vielfältig mögliche Weisen realisieren kann, sich aber nicht mehr streng als Summe von Teilzuständen deuten lässt. Die Welt »jetzt« ist nicht mit der Welt im vergangenen Augenblick materiell identisch. Nur gewisse Gestalteigenschaften (Symmetrien) bleiben zeitlich unverändert, was phänomenologisch in Form von Erhaltungssätzen – wie etwa den Erhaltungssätzen für Energie, Impuls, elektrische Ladung – zum Ausdruck kommt. Doch setzt die Welt »im vergangenen Augenblick« die Möglichkeiten zukünftiger Welten auf solche Weise voraus, dass bei einer gewissen vergröberten Betrachtung es so erscheint, als bestünde sie aus Teilen und als ob bestimmte materielle Erscheinungsformen wie zum Beispiel Elementarteilchen oder Atome ihre Identität in der Zeit bewahren.

Der Bruch, den die neue Physik fordert, ist tief. Er bezeichnet nicht nur einen Paradigmenwechsel, sondern deutet darauf hin, dass die Wirklichkeit im Grunde keine Realität im Sinne einer dinghaften Wirklichkeit ist. Wenn Wirklichkeit sich primär nur noch als Potenzialität offenbart, als ein »Sowohl/Als-auch«, dann ist sie nur die Möglichkeit für eine Realisierung in der uns vertrauten stofflichen Realität, die sich in objekthaften und der Logik des »Entweder-Oder« unterworfenen Erscheinungsformen ausprägt. Potenzialität erscheint als das Eine, das sich nicht auftrennen, grundsätzlich nicht zerlegen lässt. Vor dem Hintergrund unserer gewohnten, durch das klassisch physikalische Weltbild entscheidend geprägten Vorstellungen klang dies ungeheuerlich, eigentlich unannehmbar – die Paradoxien waren offensichtlich. Es gab kein Ausweichen und man musste die Grundanschauung der Physik an dieser Stelle ändern.

Was bedeutete das? Die Natur ist demnach in ihrem Grunde, wie wir gesehen haben, nur Verbundenheit, das Materielle stellt sich erst hinterher heraus. Wenn Verbundenheit sich mit Verbundenheit verbindet, dann erscheint – in der Grobform – die Materie, so als ob es sie ursprünglich gäbe. »Nur Verbundenheit« klingt in unserer Sprache seltsam: Etwas ist zusammengesetzt und trotzdem elementar? Wir können kaum über Verbundenheit nachdenken, ohne zu überlegen, was womit verbunden ist. Es gibt nur wenige Substantive in unserer Sprache, die Verbundenheit elementar ausdrücken: Liebe, Geist, Leben. Letztlich sind dafür eher Verben geeignet: leben, lieben, fühlen, wirken, sein.

Wir sagen also: Wirklichkeit ist nicht dingliche Wirklichkeit, Wirklichkeit ist reine Verbundenheit oder Potenzialität. Wirklichkeit ist die Möglichkeit, sich unter gewissen Umständen als Materie und Energie zu manifestieren, aber nicht die Manifestation selbst. Diese fundamentale Verbundenheit führt dazu, dass die Welt eine Einheit ist. Es gibt streng genommen überhaupt keine Möglichkeit, die Welt in Teile aufzuteilen, weil alles mit allem zusammenhängt. Damit ist uns im Grunde die Basis entzogen, die Welt reduktionistisch verstehen zu wollen, also sie auseinanderzunehmen, nach ihren Bestandteilen zu fragen und diese dann in einer uns geeignet erscheinenden Form wieder zusammenzukleben.

Es wird aber noch »verrückter«: Wenn wir in unserer gewohnten Sprache von einem Teilchen sprechen, das sich von A nach B bewegt, so heißt dies in der modernen Form: Es gibt Prozesse, bei denen so etwas wie ein Elektron am Ort A auftaucht und dann später an einer anderen Stelle, etwa bei B, wieder so etwas wie ein Elektron nachgewiesen werden kann. Es hat also den Anschein, als ob ein Elektron von A nach B gelaufen sei. Diese Interpretation ist aber unrichtig, weil zwischen A und B kein Elektron zu beobachten ist. Es ist also richtiger zu sagen, dass das so genannte Elektron bei A verschwunden und im Umkreis von B wieder erzeugt worden ist.

Wir stellen also fest: Die Wirklichkeit ist im Grunde keine Realität, keine dingliche Wirklichkeit. Was bleibt, ist – wie wir es nennen – Potenzialität. Es ist nicht die Realität selbst, sondern nur eine mögliche Fähigkeit, sich auf verschiedene Weise zu realisieren, sich in Materie zu verwandeln. Im Grunde gibt es nur Gestalt, eine reine Beziehungsstruktur ohne materiellen Träger. Wir können dazu vielleicht auch sagen: Information oder besser: »informiert sein«, denn es handelt sich um eine Information, die sich nicht greifen lässt. Aber es ist bemerkenswert, dass wir eine Struktur haben, die sich – wenn sie sich genügend verdichtet – wie Materie anfühlt und uns vorgaukelt, wir könnten...