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Ein verhängnisvolles Versprechen - Thriller

Harlan Coben

 

Verlag Goldmann, 2012

ISBN 9783641084394 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1


Das vermisste Mädchen – im Fernsehen hatten sie unaufhörlich darüber berichtet und immer wieder das schmerzhaft gewöhnliche Schüler-Portrait des verschwundenen Teenagers eingeblendet. Jeder kennt diese Fotos: im Hintergrund eine Regenbogenfahne, extrem glatte Haare, sehr verlegenes Lächeln. Danach ein schneller Schnitt zu den besorgten Eltern vor ihrem Haus, umgeben von Kameras und Mikrofonen – die Mutter weint leise vor sich hin, der Vater liest mit zitternden Lippen ein Statement vor. Dieses Mädchen – dieses vermisste Mädchen – war Edna Skylar gerade entgegengekommen.

Sie blieb wie angewurzelt stehen.

Ihr Mann Stanley ging noch zwei Schritte weiter, bis er merkte, dass seine Frau nicht mehr an seiner Seite war. Er drehte sich um. »Edna?«

Sie standen an der Ecke 21st Street und 8th Avenue in New York. An diesem Samstagvormittag waren nur wenige Autos auf den Straßen, dafür waren die Gehwege voller Menschen. Das vermisste Mädchen war Richtung Central Park gegangen.

Stanley stieß einen schwermütigen Seufzer aus. »Was ist?«

»Pst!«

Sie musste sich konzentrieren. Das High-School-Foto des Mädchens, das mit der Regenbogenfahne im Hintergrund … Edna schloss die Augen. Sie musste sich das Bild vergegenwärtigen. Und es dann mit dem Bild der Frau, die sie gerade gesehen hatte, vergleichen. Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten.

Das vermisste Mädchen auf dem Foto hatte lange, mattbraune Haare. Die Frau, die gerade an ihr vorbeigegangen war – Frau, nicht Mädchen, denn sie sah älter aus, aber vielleicht war das Foto auch nicht ganz aktuell gewesen –, hatte rote, gewellte und kürzere Haare. Das Mädchen auf dem Foto trug keine Brille. Die Frau, die die 8th Avenue in Richtung Norden ging, trug ein modisches Gestell mit getönten, rechteckigen Gläsern. Kleidung wie Make-up waren – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – erwachsener.

Das Studieren von Gesichtern war für Edna mehr als ein Hobby. Sie war 63 Jahre alt und eine der wenigen Ärztinnen ihrer Altersgruppe, die sich auf Genetik spezialisiert hatte. Gesichter waren ihr Leben. Auch außerhalb des Krankenhauses ließ die Arbeit sie nie ganz los. Dr. Edna Skylar studierte Gesichter – sie konnte nicht anders. Freunde und Familienmitglieder kannten ihren prüfenden Blick, Fremde und neue Bekannte hingegen empfanden ihn als irritierend.

Genau das hatte Edna also getan. Beim Spazierengehen hatte sie, wie so oft, die Sehenswürdigkeiten und das Geschehen um sich herum ignoriert und sich ganz ihrem Privatvergnügen hingegeben, die Gesichter der Passanten zu studieren: die Struktur der Wangenknochen, die Länge des Unterkiefers, den Augenabstand, die Lage der Ohren, die Kontur des Kinns und die Länge des Nasenrückens. Und genau deshalb hatte Edna das vermisste Mädchen erkannt – trotz neuer Frisur und Haarfarbe, trotz neuer Brille, trotz erwachsenem Make-up und entsprechender Kleidung.

»Da war ein Mann bei ihr.«

»Was?«

Edna hatte laut gedacht.

»Bei dem Mädchen.«

Stanley runzelte die Stirn. »Wovon redest du, Edna?«

Das Bild. Das schmerzhaft gewöhnliche Schüler-Portrait. Man hat es tausendmal gesehen. Sieht man es in einem Jahrbuch, geraten die Gefühle in Wallung. Man sieht zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft dieses Mädchens. Man spürt die Freude der Jugend, den Schmerz des Erwachsenwerdens. Man erkennt die Möglichkeiten, die sich ihr eröffnen. Man wird von Wehmut und Nostalgie übermannt. Die Jahre ziehen wie im Flug vorbei, Ausbildung oder Universität, Hochzeit, Kinder und so weiter.

Wenn aber das gleiche Foto in den Abendnachrichten eingeblendet wird, ist es wie ein Stich ins Herz. Man sieht sich das Gesicht an, das zaghafte Lächeln, die matten Haare und die hängenden Schultern, und die Gedanken wandern an dunkle Orte, von denen sie sich besser fernhalten sollten.

Wie lange wurde Katie – das Mädchen im Fernsehen hatte Katie geheißen –, wie lange wurde sie schon vermisst?

Edna versuchte, sich zu erinnern. Gut einen Monat. Vielleicht sechs Wochen. Nur die Lokalnachrichten hatten darüber berichtet, und auch die nicht besonders lange – viele glaubten, sie wäre nur ausgerissen. Katie Rochester war ein paar Tage vor ihrem Verschwinden achtzehn geworden – damit galt sie als Erwachsene, was den Druck, sie ausfindig zu machen, erheblich minderte. Angeblich hatte es zu Hause Ärger gegeben, vor allem mit ihrem strengen Vater, der sie jetzt trotzdem im Fernsehen mit zitternder Unterlippe suchen ließ.

Vielleicht hatte Edna sich geirrt. Vielleicht war sie es doch nicht gewesen.

Es gab nur eine Möglichkeit, das festzustellen.

»Schnell«, sagte Edna zu Stanley.

»Was ist denn, wo willst du hin?«

Für eine Antwort war keine Zeit. Das Mädchen war vermutlich schon an der nächsten Ecke. Stanley würde schon hinterherkommen. Stanley Rickenback, Gynäkologe und Spezialist für Geburtshilfe, war Ednas zweiter Ehemann. Der erste war ein echter Tausendsassa gewesen, ein kühner, zu attraktiver und zu leidenschaftlicher Mann und außerdem, tja, ein absolutes Arschloch. Wahrscheinlich war ihr Urteil nicht ganz fair, aber was sollte es. Ehemann Nummer eins hatte der neckischen Vorstellung, eine Ärztin zu heiraten – das war vor vierzig Jahren –, einfach nicht widerstehen können. Das Leben mit dieser Ärztin hatte ihn dann allerdings heillos überfordert. Er war davon ausgegangen, dass Edna diesen Ärztinnen-Spleen spätestens dann überwinden würde, wenn sie Kinder hatten. Das hatte sie nicht getan – ganz im Gegenteil. In Wahrheit – eine Wahrheit, die ihren Kindern nicht verborgen geblieben war – liebte Edna ihren Beruf sehr viel mehr als die Mutterrolle.

Sie hastete weiter. Die Gehsteige waren voll. Sie trat auf die Straße und ging schnell am Bordstein entlang. Stanley versuchte, nicht den Anschluss zu verlieren. »Edna?«

»Komm einfach mit.«

Er holte sie ein. »Was hast du vor?«

Ednas Blick suchte nach roten Haaren.

Da. Links vor ihr.

Sie musste sich die Frau näher ansehen. Edna rannte los. Wenn eine schick gekleidete Mittsechzigerin auf offener Straße rennt, erregt das an den meisten Orten Aufsehen, doch sie waren hier mitten in Manhattan. Man würdigte sie kaum eines zweiten Blickes.

Sie lief an der Frau vorbei, duckte sich dabei hinter größere Passanten, um nicht aufzufallen, und als sie weit genug weg war, drehte Edna sich um. Die vermeintliche Katie kam direkt auf sie zu. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, und dann war Edna sicher.

Sie war es.

Katie Rochester wurde von einem dunkelhaarigen, etwa dreißig Jahre alten Mann begleitet. Sie gingen Hand in Hand. Sie sah nicht besorgt oder gestresst aus. Im Gegenteil, sie wirkte ziemlich zufrieden – zumindest, bis ihre Blicke sich trafen. Das hatte natürlich nichts zu bedeuten. Elizabeth Smart, das junge Mädchen, das drüben in Utah entführt worden war, war zeitweilig zusammen mit ihrem Kidnapper in der Öffentlichkeit unterwegs gewesen und hatte nicht ein einziges Mal signalisiert, dass sie Hilfe brauchte. Vielleicht verhielt es sich hier ähnlich.

Aber Edna glaubte das nicht.

Die rothaarige vermeintliche Katie flüsterte dem dunkelhaarigen Mann etwas zu. Die beiden beschleunigten ihren Schritt. Edna sah, wie sie nach rechts abbogen und im U-Bahn-Eingang verschwanden. Unten fuhren die Linien C und E. Stanley holte Edna ein. Er wollte etwas sagen, schwieg aber, als er ihr Gesicht sah.

»Komm mit«, sagte sie.

Sie eilten zum Eingang und die Treppe hinunter. Die vermisste Frau und der dunkelhaarige Mann hatten das Drehkreuz schon passiert. Edna wollte ihnen folgen.

»Mist.«

»Was ist?«

»Ich hab keine MetroCard.«

»Ich schon«, sagte Stanley.

»Gib her. Schnell.«

Er zog die Karte aus dem Portemonnaie und reichte sie ihr. Sie führte sie über den Scanner, ging durchs Drehkreuz und gab sie ihm zurück. Sie wartete nicht auf ihn. Die beiden waren die rechte Treppe hinuntergegangen. Sie folgte ihnen. Sie hörte das Rumpeln eines ankommenden Zuges und rannte los.

Der Zug hielt quietschend an. Die Türen öffneten sich. Ednas Herz raste. Sie sah nach links und rechts und suchte die roten Haare.

Nichts.

Wo war die Frau?

»Edna?« Stanley kam auf sie zu.

Sie sagte nichts. Katie Rochester war nicht zu sehen. Und wenn sie dagewesen wäre, was dann? Was hätte Edna dann tun sollen? Mit ihr in die U-Bahn steigen und sie verfolgen? Wohin? Und dann? Katies Wohnung ausfindig machen und dann die Polizei informieren?

Jemand klopfte ihr auf die Schulter.

Edna drehte sich um. Es war das vermisste Mädchen.

Noch lange danach fragte Edna sich, was sie im Gesicht des Mädchens gesehen hatte. Einen flehenden Blick? Verzweiflung? Gelassenheit? Sogar Freude? Entschlossenheit? Alles zusammen?

Die beiden Frauen starrten sich einen Moment lang einfach nur an. Die hektischen Menschen, das unverständliche Knistern und Rauschen aus den Lautsprechern, das Rumpeln des Zugs – das alles trat in den Hintergrund.

»Bitte«, flüsterte das vermisste Mädchen. »Sie dürfen niemandem sagen, dass Sie mich gesehen haben.«

Dann stieg das Mädchen in die U-Bahn. Edna lief ein Schauer über den Rücken. Die Türen schlossen sich. Edna wollte etwas tun, irgendetwas, konnte sich aber nicht von der Stelle...