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Das Lied von Eis und Feuer 09 - Der Sohn des Greifen

George R.R. Martin

 

Verlag Penhaligon, 2012

ISBN 9783641088637 , 848 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

Prolog

Menschgestank hing in der Nacht.

Der Warg blieb unter einem Baum stehen und schnüffelte. Sein graubraunes Fell war von Schatten gesprenkelt. Ein Seufzer des Kiefernwinds trug den Menschengeruch zu ihm und dazu die schwächere Witterung von Fuchs und Hase, Seehund und Hirsch und sogar Wolf. Das waren ebenfalls Gerüche von Menschen, wie der Warg wusste; der Gestank alter Felle, tot und bitter, der die stärkeren Gerüche beinahe vollständig überlagerte: Rauch und Blut und Fäulnis. Nur Menschen zogen anderen Tieren die Haut ab und trugen deren Fell und Haar.

Warge fürchteten sich nicht wie Wölfe vor Menschen. Hass und Hunger brodelten in seinem Bauch, und er knurrte leise, um seinen einäugigen Bruder und seine kleine listige Schwester zu rufen. Während er durch den Wald rannte, folgte ihm sein Rudel dicht auf den Fersen. Die anderen hatten das Gleiche gewittert. Im Laufen spähte er auch durch ihre Augen und erblickte sich selbst an der Spitze. Ihr Atem hing warm und weiß aus den langen grauen Schnauzen. Eis hatte sich zwischen ihren Pfoten gebildet, hart wie Stein, aber jetzt hatte die Jagd begonnen, die Beute wartete vor ihnen. Lebendiges Fleisch, dachte der Warg, Fleisch zum Fressen.

Ein Mensch allein war ein schwaches Wesen. Groß und stark, mit guten scharfen Augen, doch blind für Geräusche und taub für Gerüche. Hirsch und Elch und sogar Hasen waren schneller, Bären und Eber grimmiger im Kampf. Im Rudel hingegen waren Menschen gefährlich. Während sich die Wölfe der Beute näherten, hörte der Warg das Klagen eines Welpen; hörte, wie die Kruste des Schnees, der in der letzten Nacht gefallen war, unter ungeschickten Menschenpfoten brach, hörte das Rasseln der Harthäute und der langen grauen Klauen, wie Menschen sie trugen.

Schwerter, flüsterte eine Stimme in ihm, Speere.

Den Bäumen waren Zähne aus Eis gewachsen, und die kahlen braunen Äste fauchten. Einauge preschte durch das Unterholz und ließ Schnee aufspritzen. Sein Rudel folgte ihm. Es ging einen Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinunter, bis sich der Wald öffnete und sie die Menschen vor sich hatten. Einer war ein Weibchen. Das Fellbündel, das sie umklammerte, war ihr Welpe. Heb sie bis zuletzt auf, flüsterte die Stimme, die Männchen sind die eigentliche Gefahr. Sie brüllten einander an, wie es Menschen eben taten, doch der Warg konnte ihre Angst riechen. Einer hatte einen Holzzahn, der so groß war wie er selbst. Den schleuderte er, aber seine Hand zitterte, und der Zahn flog zu hoch.

Dann fiel das Rudel über sie her.

Sein einäugiger Bruder stieß den Zahnschleuderer in eine Schneewehe und riss ihm im Fallen die Kehle heraus. Seine Schwester schlich sich hinter das andere Männchen und sprang ihm in den Rücken. Damit blieben das Weibchen und der Welpe für ihn.

Das Weibchen hatte ebenfalls einen Zahn, einen kleinen, der aus Knochen gemacht war, aber sie ließ ihn fallen, als sich die Kiefer des Wargs um ihr Bein schlossen. Als sie zu Boden ging, umschlang sie ihren lärmenden Welpen mit beiden Armen. Unter ihren Fellen war das Weibchen nur Haut und Knochen, doch ihre Zitzen waren voller Milch. Das süßeste Fleisch war am Welpen. Der Wolf hob die besten Stücke für seinen Bruder auf. Um die Leichen herum färbte sich der gefrorene Schnee rosa und rot, während sich das Rudel die Bäuche vollschlug.

Viele Meilen entfernt in einer kleinen Hütte aus Lehm und Stroh mit Reetdach, einem Rauchloch und einem Boden aus gestampfter Erde zitterte, hustete und leckte sich Varamyr die Lippen. Seine Augen waren rot, seine Lippen aufgesprungen, seine Kehle war trocken und ausgedörrt, dennoch füllte der Geschmack von Blut und Fett seinen Mund, auch wenn sein geschwollener Bauch nach Nahrung schrie. Kinderfleisch, dachte er und erinnerte sich an Kuller. Menschenfleisch. War er so tief gesunken, dass er jetzt schon nach dem Fleisch von Menschen gierte? Fast konnte er hören, wie Haggon ihn anknurrte. »Menschen essen vielleicht das Fleisch von Tieren und Tiere das Fleisch von Menschen, aber ein Mensch, der das Fleisch eines Menschen frisst, ist eine Abscheulichkeit.«

Abscheulichkeit. Das war immer Haggons Lieblingswort gewesen. Abscheulichkeit, Abscheulichkeit, Abscheulichkeit. Menschenfleisch zu essen war abscheulich, sich als Wolf mit Wölfen zu paaren war abscheulich, und sich des Körpers eines anderen Menschen zu bemächtigen war die größte Abscheulichkeit von allen. Haggon war schwach und hatte Angst vor seiner eigenen Macht. Er ist weinend und allein gestorben, als ich ihm sein zweites Leben entrissen habe. Varamyr selbst hatte sein Herz verschlungen. Er hat mir viel und noch viel mehr beigebracht, und das Letzte, was ich von ihm gelernt habe, war, wie Menschenfleisch schmeckt.

Das war allerdings als Wolf gewesen. Mit seinen menschlichen Zähnen hatte er Menschenfleisch noch nie angerührt. Dennoch missgönnte er seinem Rudel das Festmahl nicht. Die Wölfe waren so ausgehungert wie er selbst, mager und durchgefroren und hungrig, und ihre Beute … zwei Männer, eine Frau und ein Säugling, die vor der Niederlage in den Tod flohen. Sie wären sowieso bald gestorben, durch den Hunger oder die Kälte. Auf diese Weise ging es besser, schneller. Eine Gnade.

»Eine Gnade«, sagte er laut. Seine Kehle war rau, trotzdem fühlte es sich gut an, eine menschliche Stimme zu hören, selbst wenn es nur die eigene war. Die Luft roch modrig und feucht, der Boden war kalt und hart, und das Feuer erzeugte mehr Rauch als Hitze. Er schob sich so nah an die Flammen heran, wie er nur wagte, hustete und zitterte abwechselnd, und seine Flanke pochte, wo die Wunde aufgegangen war. Seine Hose hatte sich bis zu den Knien mit Blut vollgesogen und trocknete zu einer harten braunen Kruste.

Distel hatte ihn davor gewarnt. »Ich habe sie so gut genäht wie ich kann«, hatte sie gesagt, »aber du musst dich ausruhen und die Wunde in Ruhe heilen lassen, sonst wird das Fleisch wieder aufreißen.«

Distel war seine letzte Gefährtin gewesen, eine Speerfrau, zäh wie eine alte Wurzel, warzig, vom Wind gegerbt und runzlig. Die anderen hatten sie unterwegs im Stich gelassen. Einer nach dem anderen ließen sie sich zurückfallen oder kämpften sich voran, strebten zu ihren alten Dörfern, zum Milchwasser oder nach Hartheim oder einem einsamen Tod in den Wäldern entgegen. Varamyr wusste es nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Ich hätte einen von ihnen nehmen sollen, als ich die Gelegenheit hatte. Einen der Zwillinge oder den großen Mann mit dem vernarbten Gesicht oder den Jungen mit dem roten Haar. Doch er hatte Angst gehabt. Einer der anderen hätte mitbekommen können, was da geschah. Dann hätten sie sich gegen ihn gewandt und ihn umgebracht. Und Haggons Worte hatten ihn verfolgt. So war die Gelegenheit ungenutzt verstrichen.

Nach der Schlacht hatten sich Tausende von ihnen durch den Wald geschleppt, hungrig, verängstigt und auf der Flucht vor dem Gemetzel, das an der Mauer über sie hereingebrochen war. Manche hatten darüber gesprochen, zu ihren verlassenen Häusern zurückzukehren, andere wollten sich für einen zweiten Angriff auf das Tor sammeln, doch die meisten irrten ziellos umher und wussten nicht, wohin sie gehen oder was sie tun sollten. Sie waren den Krähen in ihren schwarzen Röcken und den Rittern in ihrem grauen Stahl entgangen, doch nun wurden sie von unbarmherzigeren Feinden gejagt. Jeden Tag blieben mehr Leichen am Wegesrand zurück. Manche starben am Hunger, manche an der Kälte, manche an Krankheiten. Andere wurden von jenen erschlagen, die noch ihre Waffenbrüder gewesen waren, als sie mit Manke Rayder nach Süden gezogen waren, mit dem König-jenseits-der-Mauer.

Manke ist gefallen, erzählten sich die Überlebenden verzweifelt, Manke ist in Gefangenschaft, Manke ist tot. »Harma ist tot und Manke gefangen genommen, die anderen sind davongelaufen und haben uns im Stich gelassen«, hatte Distel behauptet, während sie seine Wunde nähte. »Tormund, der Weiner, Sechsleib, all diese tapfere Räuber. Wo sind sie hin?«

Sie erkennt mich nicht, hatte Varamyr da begriffen, und warum sollte sie auch? Ohne seine Tiere sah er nicht aus wie ein großer Mann. Ich war Varamyr Sechsleib, der Brot mit Manke Rayder gebrochen hat. Den Namen Varamyr hatte er sich mit zehn selbst gegeben. Ein Name, eines Herrn würdig, ein Name für die Lieder, ein mächtiger Name, der Furcht erregt. Trotzdem war er vor den Krähen davongerannt wie ein verängstigtes Kaninchen. Der schreckliche Herr Varamyr war zum Feigling geworden, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Speerfrau das erfuhr, deshalb hatte er sich ihr gegenüber Haggon genannt. Später hatte er sich gefragt, wie er ausgerechnet auf diesen Namen gekommen war, von all den Namen, die er hätte wählen können. Ich habe sein Herz gefressen und sein Blut getrunken, und dennoch sucht er mich weiter heim.

Eines Tages während der Flucht war ein Reiter auf einem weißen Pferd durch den Wald galoppiert gekommen und hatte geschrien, sie alle sollten zum Milchwasser kommen, wo der Weiner Krieger versammele, um die Schädelbrücke zu überqueren und den Schattenturm einzunehmen. Viele folgten ihm; die meisten nicht. Später ging ein Krieger in Fell und Bernstein von Feuer zu Feuer und beschwor die Überlebenden, nach Norden zu ziehen und Zuflucht im Tal der Thenns zu suchen. Warum er glaubte, dass sie dort in Sicherheit wären, wo doch die Thenns...