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Jesus in schlechter Gesellschaft

Adolf Holl

 

Verlag Haymon, 2012

ISBN 9783852189123 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

Ungesetzliches Verhalten


Auf die Frage nach dem eigentlichen Grund der Hinrichtung Jesu antwortet heute allbereits eine ganze Bibliothek von einschlägigen Abhandlungen, und der Prozeß Jesu hat sehr viel Scharfsinn bemüht. Sogar für ein Mißverständnis ist die Kreuzigung Jesu gehalten worden – Jesus hätte den Tod eines politischen Verbrechers aufgrund eines Mißverständnisses seines Wirkens als eines politischen erlitten. Tatsächlich gibt es in den von allen vier Evangelien ausführlich geschilderten Leidensgeschichten eine ganze Reihe von Akteuren: Hohepriester, der jüdische Hohe Rat, Pontius Pilatus, brüllendes Volk; sogar ein jovialer Marionettenkönig tritt auf; sie alle wirken zusammen, um Jesus zu verderben. Schließlich wird, einigermaßen unbestimmt, eine Notiz verfaßt und auf dem Kreuz angebracht: Jesus von Nazaret, Judenkönig. Enttäuschte Messiaserwartung, politischer Aufruhr, Gotteslästerung, Rebellentum schlechthin, ein Putschversuch gar – diese und noch andere Gründe stehen für die Hinrichtung Jesu zur Debatte. Als historisch gesichert darf lediglich gelten die nächtliche Verhaftung, die Verurteilung durch Pilatus, der Gang zur Hinrichtung, die Kreuzigung. Und freilich auch – für unseren Zweck entscheidend – der grundlegende Tatbestand, von Lukas beziehungsvoll aus dem Propheten Jesaja zitiert: Zu den Übeltätern wurde er gezählt.

Womit ein Stichwort fällt, das im griechischen Originaltext noch prägnanter wird. Dort nämlich steht anomos (= ungesetzlich; Frevler, Übeltäter), wofür heute eine allgemein übliche Bezeichnung bereitsteht – die des Kriminellen.

Nach Lukas war Jesus in den Augen seiner Umgebung ein Krimineller, und dementsprechend wurde er auch behandelt. Die Bibel allerdings verteidigt Jesus gegen seine Verfolger: Wie ein Lamm wird er zur Schlacht­bank geführt.

Auch die Gründe für dieses Unrecht an Jesus werden von der Bibel genannt – schuldhafte Bosheit oder Unwissenheit. Das letztere vertritt Petrus in einer Ansprache an das Volk: Aber ich weiß, Brüder, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, wie auch eure Führer. Ersteres wird in der von Matthäus angeführten Selbstverfluchung der Juden vernehmlich: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.

Die faktische Entscheidung der Christenheit für die Bosheitserklärung hat vielen Juden das Leben gekostet, obwohl – oder vielleicht sogar weil – sie keinerlei erklärenden Wert besitzt. Aber auch die mildere Interpretation für die schuldlose Hinrichtung Jesu – die Annahme der Unwissenheit gegenüber den wahren Absichten Christi seitens der Gesellschaft – vermag ein sachliches Interesse an den Vorgängen kaum zu befriedigen, ebenso wenig wie jene Formulierung, derzufolge die Exekution Jesu auf einem Mißverständnis beruht habe. Selbst fatale Mißverständnisse lassen sich mit einiger Geduld aufklären, wenn auch – wie in unserem Fall – mit einiger Verspätung. Und dann wird Jesus zu einem im Grunde harmlosen Menschen, dem ohne sein Zutun Arges widerfuhr. Die – immer noch fehlende – Erklärung mag dann durch triviale Redewendungen ersetzt werden, etwa durch jene von der unseligen Verkettung der Umstände.

Damit jedoch ist die für den Interessierten unbefriedigende und – noch einmal – für jeden Juden bis heute gefährliche Debatte keineswegs erledigt; die anstehenden Fragen sind allenfalls beschwichtigt, und das ist zuwenig.

Die Kriminalität Jesu

In unserem Fall ist der soziologische Tatbestand darin zu sehen, daß eine bestimmte Gesellschaft (nämlich die jüdische um 30 n. Chr.) durch ihre Führungsschicht eines ihrer Mitglieder (nämlich Jesus) mit schweren Sanktionen belegt hat; dabei darf nicht vergessen werden, daß das damalige politische System unter dem maßgeblichen Einfluß Roms stand – dessen Interessen sich keineswegs mit denen der Juden deckten.

Beide Systeme – das jüdische durch den Hohen Rat, das römische durch den Statthalter Pilatus – haben im Fall Jesu zusammengearbeitet, wobei die näheren Umstände durchaus strittig sind. Wahrscheinlich war es so, daß der Hohe Rat Jesus dem Pilatus übergeben hat, und der verhängte das Todesurteil. Jedenfalls wurde das Verhalten Jesu von beiden Instanzen als kriminell beurteilt, so viel steht fest. Was aber heißt kriminell?

Wie jedes abweichende Verhalten wird auch das kriminelle als Verletzung von Erwartungen definiert, die in einer Gesellschaft als legitim anerkannt sind. Die sozusagen stärkste Form solch legitimer Erwartungen stellt das geltende Recht dar, sei es in der Form geheiligter mündlicher Überlieferung – wie in den schriftlosen Kulturen –, sei es in der Form von schriftlich fixierten Gesetzen. Wer also solche Rechtsnormen verletzt, wird als Krimineller eingestuft und mittels der vorhandenen sozialen Kontrollen bestraft.

In der soziologischen Betrachtungsweise ist Kriminalität nicht ein Schimpfwort, sondern eine bestimmte Form gesellschaftlichen Verhaltens. Man kennt sogar Umstände, unter denen ein kriminelles Verhalten normal ist – beispielsweise der Genuß von Rauschgift unter farbigen Jugendlichen in bestimmten städtischen Slums in Amerika; wer in diesem Milieu niemals Rauschgift probiert hätte, wäre dort ein Außenseiter und würde von seinen Altersgenossen verachtet. Auch weiß man längst, daß ein von einer bestimmten Gesellschaft als kriminell geahndetes Verhalten in einer anderen als lobenswert gilt; Kriminalität schlechthin und überhaupt gibt es nicht.

Die Frage nach der Kriminalität Jesu kann also sachlich nur im Hinblick auf die geltenden Rechtsnormen jener Gesellschaft beantwortet werden, in der er gelebt hat. Wenn er sie verletzt hat, dann verhielt er sich kriminell, wenn nicht, dann ist seine Verurteilung despotischer Willkür entsprungen oder dem schon erwähnten Mißverständnis, oder sie ist auf einen Justizirrtum zurückzuführen.

Die Möglichkeit eines Justizirrtums wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen dürfen. Daß Jesus als sozial wohlangepaßte Persönlichkeit das Opfer einer politisch gerade opportun erscheinenden Intrige geworden wäre, liegt zwar im Bereich des Möglichen. Die Öffentlichkeit seines Auftretens jedoch – wodurch seine Lehren publik wurden –, vornehmlich aber sein freiwilliger Gang nach Jerusalem, der demonstrativen Charakter hatte und vielleicht sogar eine Entscheidung herbeiführen wollte, sprechen gegen diese Erklärung.

Die Möglichkeit einer eher willkürlichen Verurteilung Jesu durch Pilatus ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Pilatus stand nämlich – aufgrund außerchristlicher Dokumente wissen wir das – durchaus im Ruf einer gewissen Härte. Es wäre ihm zuzutrauen, daß er mit einem lästigen und möglicherweise gefährlichen Schwarmgeist kurzen Prozeß gemacht hätte. Dagegen jedoch spricht immer noch die Tatsache, daß Jesus dem Pilatus erst aufgrund seiner Auslieferung von seiten der jüdischen Behörde in die Hände fiel; und diese hat den Fall Jesus freilich nach anderen Gesichtspunkten beurteilt, nämlich nach den vorhandenen Normen der jüdischen Gesellschaft – wodurch Willkür ausgeschlossen bleibt.

Somit bleibt als wahrscheinlichste Möglichkeit, daß der Grund des Konfliktes, der zur Anklage führte, im ganzen des Auftretens Jesu zu suchen ist, und zwar in der Weise, wie er sich über das Gesetz hinwegsetzte und die Autorität Gottes für sich in Anspruch nahm.

Jesu Verhalten, so dürfen wir schließen, war (nach den Normen seiner Gesellschaft) kriminell. Pilatus war der Exekutor eines Konflikts, in den Jesus mit seiner Gesellschaft geraten war; und freilich nicht ohne sein Zutun.

Eine Gesellschaft – in unserem Fall die jüdische zur Zeit Christi – deswegen moralisch schuldig zu sprechen, weil sie ihr geltendes Normengefüge gegen einen einzelnen Menschen verteidigte – in unserem Fall gegen Jesus –, mutet heute einigermaßen skurril an. Erklärbar wird diese moralische Verurteilung der Juden von seiten der Christen gleichwohl. Denn allmählich setzte sich im Abendland mehrheitlich ein neues Normensystem durch, das dem alten jüdischen in manchem widersprach. Was zuerst nur in den christlichen Subkulturen des ersten Jahrhunderts n. Chr. als Anspruch gegen das Judentum geltend gemacht wurde, geriet später zum Gesetz gegen die jüdische Minderheit in Europa. Jesus – nunmehr bereits der Gott – mußte dann allgemein zu dem werden, als was ihn bereits die Evangelien zeichneten – zum unschuldigen Opfer eines verstockten Volkes. Der historische und soziologische Tatbestand freilich sieht anders aus. Jesu Verhalten war kriminell, und dafür hat man ihn bestraft.

Er ist von Sinnen

Umstritten war Jesus schon zu seinen Lebzeiten. Manche scheinen ihn für den wiederum auf die Erde zurückgekehrten Propheten Elija gehalten zu haben, andere priesen ihn als den ersehnten Messias. Jedoch fand sich auch noch eine weitere Erklärung. Sie wird im Johannesevangelium berichtet: er ist wahnsinnig.

Im Markusevangelium sind es die Verwandten Jesu, die sich wegen des von Jesus erregten Aufsehens aufmachen, um sich seiner zu bemächtigen; sie sagen: Er ist von Sinnen. Tatsächlich ist die Versuchung groß, die Außenseiterposition Jesu einfachhin damit zu erklären, daß er geistesgestört war; zumindest eine milde Neurose, so...