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Mord in Wien - Wahre Kriminalfälle

Helga Schimmer

 

Verlag Haymon, 2012

ISBN 9783852189116 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

Schleichendes Gift


Toxische Substanzen als Spiegel der Zeit: Eine verdrossene Ehefrau tastet sich an die erste Tötung mit Zelio heran. Wenig später perfektioniert eine verschlagene Schönheit die Anwendung der Rattenpaste am Menschen. Schließlich gibt kohlenmonoxidhältiges Stadtgas forensische Rätsel auf: einmal ist es ein vermeintlicher Mord, der sich als Selbstmord entpuppt, ein andermal die als Suizid getarnte Beseitigung der unliebsamen Gattin samt Schwiegermutter.

Poison à la mode

Wie Kleidung unterliegen die bevorzugten Werkzeuge der Giftmörderinnen modischen Strömungen: In den Goldenen Zwanzigern kam nicht nur der kniekurze Rock auf, sondern auch ein neuartiges Mittel zur Ratten- und Mäusevertilgung, das sich wegen seines dezenten Geschmacks bequem ins Gulasch für den lästigen Ehegatten mixen ließ. Die erste kriminelle Verwendung des Mittels ereignete sich in Wien zu einer Zeit, als die hiesige Gerichtsmedizin noch höchste Reputation genoss: Prof. Albin Haberda kam der Mutter aller Zelio-Mörderinnen auf die Schliche und publizierte den Fall, womit die von der Bayer AG auf den Markt gebrachte Rattenpaste erst recht zum Mode-Hit unter den Giftmischern und Giftmischerinnen avancierte.

Schmerzen in den Beinen

Die seltsame Erkrankung des 29-jährigen Metalldruckergehilfen Hermann Lichtenstein aus Wien-Ottakring beginnt in der letzten Juniwoche des Jahres 1925. Am 24. serviert seine Frau Leopoldine ihm Wurst mit Paradeissauce, wonach er erbricht. Auch den Milchkaffee am nächsten Morgen kann Lichtenstein nicht bei sich behalten. Noch sorgt er sich nicht und denkt an eine vorübergehende Magenverstimmung. Aber anstatt so jäh zu verschwinden wie sie gekommen sind, verschlimmern die Beschwerden sich in den nächsten Tagen zusehends, und es kommen auch neue Symptome hinzu: Durchfall, Magenkrämpfe und vor allem Schmerzen in den Beinen, die am 11. Juli so heftig sind, dass Lichtenstein nicht mehr gehen kann. Der herbeigerufene Arzt spricht von Gelenksrheumatismus und weist den Patienten ins Wilhelminenspital ein.

In den kommenden Wochen, die er im Krankenhaus verbringt, leidet der vormals kräftige Mann weiter­hin an Übelkeit, Erbrechen und ziehenden Schmerzen in den Waden sowie in den Endgliedern der Zehen und Finger. Die Durchfälle wandeln sich zur hartnäckigen Stuhlverstopfung, und zu allem Überfluss fallen Lichtenstein auch noch büschelweise die Haare aus. Besonders die Beinschmerzen lassen die Spitalsärzte an eine unnatürliche Ursache der Krankheit denken, denn das Symptom ist typisch für eine chronische Vergiftung mit Arsen, ein bis ins 19. Jahrhundert hinein äußerst beliebtes Mittel, sich unliebsamer Zeitgenossen zu entledigen.

Im Falle Hermann Lichtensteins wird der Verdacht auf eine absichtliche Vergiftung zwar den Behörden gemeldet, die polizeilichen Erhebungen aber führen zu keinem Ergebnis, denn Leopoldine Lichtenstein stellt jedes Verschulden ihrerseits in Abrede und der Kranke selbst sagt, er traue seiner Frau eine feindselige Handlung nicht zu. Im Laufe des Sommers bessern sich dann Lichtensteins Beschwerden, und am 1. September ist der Patient soweit wiederhergestellt, dass er nach Hause entlassen werden kann.

Exakt eine Woche später jedoch, am 8. September, wird der in der Rankgasse 29 wohnhafte Ottakringer erneut ins Wilhelminenspital eingeliefert – mit denselben Beschwerden wie ursprünglich und einer zusätzlichen akuten Entzündung der Gesichtshaut. Allmählich verschlechtert sich auch die Sehkraft des Mannes, seine körperlichen und geistigen Kräfte schwinden rapide, und am 27. September 1925 ist Hermann Lichtenstein tot.

Schwierige Ursachensuche

Sein Leichnam gelangt auf den Seziertisch von Prof. Albin Haberda – zum Glück, ist man versucht zu sagen, denn der aus Galizien stammende Gerichtsmediziner gilt als ein besonders gründlicher Gelehrter. Er führt das Wiener Institut seit 1916 und ist in jenen Tagen gerade dabei, das Lehrbuch seines berühmten Vorgängers Eduard von Hofmann vollständig zu überarbeiten. Noch Jahrzehnte später werden Sachverständige auf der ganzen Welt sich in strittigen Fragen auf dieses Standardwerk aus Haberdas Feder berufen.

Der energische Professor, der bis über seinen frühen Tod im Jahre 1933 hinaus auch international im Fach Gerichtsmedizin den Ton angibt, öffnet also am 29. Oktober 1925 den stark abgemagerten, bleichen Leib Hermann Lichtensteins. Er registriert den bis auf einige weiße Nackenhaare völlig kahlen Kopf des jungen Mannes und hält in seinem ersten Gutachten als Todesursache ein Hirnödem bei fettiger Entartung des Herzfleisches und der Nieren fest. Was die anatomischen Veränderungen bewirkt hat, kann Haberda nicht erkennen. Er weist jedoch auf die Möglichkeit einer langsam verlaufenden Metallvergiftung hin.

Um Klarheit zu schaffen, ordnet der Gerichtsmediziner eine chemische Untersuchung der aufbewahrten Leichenteile an. Mit den althergebrachten, materialintensiven und langwierigen Analyseverfahren wird auf die damals üblichen „Verdächtigen“ getestet: Arsen, Blei und Barium. Tatsächlich weisen die Institutschemiker in einem Stück Nackenhaut mit dem spärlichen, unpigmentierten Haarbewuchs geringe Arsenkonzentrationen nach. In den Knochen finden sie sogar erhebliche Mengen des giftigen Halbmetalls. Aus der Leber, den Nieren, dem Dünndarm und dem Harn können dagegen nur Spuren einer Substanz abgeschieden werden, die zwar einzelne Reaktionen des Arsens zeigt, sich aber nicht als solches bestimmen lässt.

Aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse kann Prof. Haberda eine wiederholte Zufuhr kleinerer Arsenmengen nicht ganz ausschließen, sei sie nun zufällig oder absichtlich erfolgt. Die bei einer Hausdurchsuchung in der Rankgasse 29 sichergestellten Medikamente erweisen sich jedenfalls nicht als Krankheitsursache, denn es handelt sich durchwegs um harmlose Substanzen. Unstimmig erscheint auch, dass Hermann Lichtenstein sich oft schon nach dem ersten Bissen übergab, auch wenn er außerhalb seiner Wohnung beziehungsweise im Spital gegessen hat – was eigentlich gegen eine chronische Vergiftung spräche.

Nun ist abermals die Polizei am Zug, es müssen nähere Informationen zu den Lebensumständen Hermann Lichtensteins zusammengetragen werden. Und diesmal lassen die Beamten nicht locker. Über ein Jahr nach dem Tod des Mannes verhören sie dessen Witwe, bei der bereits ein neuer Liebhaber eingezogen ist.

Drei Tuben Zelio

Am 8. November 1926 wird die Frau in Polizeihaft genommen, wo sie nach und nach die Vergiftung ihres Ehemannes gesteht: Das Präparat Zelio sei in einer Drogerie als absolut sicheres Mittel zur Vertilgung von Ratten ausgestellt gewesen, gibt Leopoldine Lichtenstein zu Protokoll. Sie habe eine Tube davon gekauft und etwa den halben Inhalt am 24. Juni 1925 erstmals in eine für Hermann bestimmte Speise gemischt. Zwar habe die Paste eine grünblaue Färbung, die aber, mit der Paradeissauce verrührt, gar nicht aufgefallen sei. Die Speise hätte wie gewohnt gerochen und – Hermanns fehlender Klage zufolge – auch ganz normal geschmeckt. Dass ihr Mann sofort nach dem Essen erbrach, habe sie allerdings dazu bewogen, die künftige Dosis stark zu reduzieren.

Während der zwei Folgewochen kannte Leopoldines Eifer am Küchenherd keine Grenzen. Sie rührte die Rattenpaste kaffeelöffelweise in Hermanns Gulasch, in Hermanns Gemüse sowie in seinen Kaffee und Tee. Bis zum 11. Juli, dem Beginn seines Spitalsaufenthaltes, hatte die Frau ihm insgesamt fast drei Tuben Zelio beigebracht.

Durch ihr Geständnis erfahren die Gerichtschemiker endlich, wonach sie konkret suchen müssen: Zelio enthält als Wirkstoff 2,5 Prozent Thallium in schwefelsaurer Verbindung. Prof. Jansch und Prof. Zaribnitzky testen die noch aufbewahrten Reste der Leichenteile nun ausschließlich auf das stark giftige Schwermetall. Dabei gelingt es ihnen, aus 3095 Gramm Untersuchungsmaterial 17,3 Milligramm Thalliumsulfat abzuscheiden.

Die ärztlichen Aufzeichnungen zum Verlauf von Hermann Lichtensteins Krankheit lassen darauf schließen, dass Leopoldine ihm auch noch bei ihren Besuchen im Spital mehrmals mit dem Rattengift versetzte Getränke eingeflößt hat. Insbesondere verdächtigen die Ermittler sie, dass sie ihm in der ersten Septemberwoche, in der er sich daheim aufhielt, erneut Gift ins Essen mischte, was ein Wiederaufflammen der Erkrankung und schließlich den Tod des Mannes zur Folge hatte. Genau das allerdings leugnet Leopoldine Lichtenstein vehement.

Selbst Prof. Haberda kann mit den Methoden, die ihm in den 1920er-Jahren zur Verfügung stehen, nicht beweisen, dass die Frau lügt, denn der menschliche Körper scheidet Thallium nur sehr langsam aus. Deshalb ist es durchaus denkbar, dass die knapp drei Tuben Zelio, die Leopoldine ihrem Mann von Ende Juni bis Anfang Juli verabreicht hat, letztlich tödlich gewesen sind. Die bei der ersten chemischen Untersuchung nachgewiesenen geringen Arsenmengen spielten höchstwahrscheinlich keine Rolle, denn dieses Gift war hauptsächlich in den Knochen als Depot eingelagert und dadurch für den übrigen Körper unschädlich.

Mildes Urteil

Weil die Medizin in diesen Tagen noch kaum Erfahrung mit Thallium-Vergiftungen gemacht hat, lässt Haberdas Gutachten auf sich warten. Erst 1926, während die Untersuchungen in der Strafsache Lichtenstein laufen, wird der Fall einer akuten Intoxikation mit dem Schwermetall bekannt: Ein Buchdrucker trinkt irrtümlich in Wasser gelöstes Thalliumnitrat, das er zu technischen Zwecken verwenden will. Bei dem Betroffenen zeigen sich dieselben Symptome wie bei Hermann Lichtenstein: die ziehenden Schmerzen in den Beinen, die heftigen...