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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga. Roman

Ken Follett

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2012

ISBN 9783838709079 , 1024 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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K A P I T E L  1


1933

Carla spürte, dass ein Streit zwischen ihren Eltern in der Luft lag. Kaum hatte sie die Küche betreten, fühlte sie die Feindseligkeit wie den bitterkalten Windhauch, der vor Ausbruch eines Februarsturms durch die Straßen von Berlin wehte. Beinahe hätte sie kehrtgemacht und die Flucht ergriffen.

Carlas Eltern stritten sich nur selten. Meist waren sie ein Herz und eine Seele. Manchmal zeigten sie ihre Zuneigung sogar ein wenig zu offen, zum Beispiel, wenn sie sich vor anderen Leuten küssten, was Carla jedes Mal verlegen machte. Besonders peinlich war es ihr, wenn ihre Freundinnen dabei waren, die diesen Austausch von Zärtlichkeiten befremdlich fanden; ihren Eltern, behaupteten sie, würde so etwas niemals in den Sinn kommen. Einmal hatte Carla sich ihrer Mutter anvertraut, aber die hatte nur gelacht und ihr zum x-ten Mal die alte Geschichte erzählt: »Am Tag nach unserer Hochzeit hat der Große Krieg deinen Vater und mich getrennt, das weißt du doch, nicht wahr? Ich bin in London geblieben, während er in die Heimat gefahren ist, nach Deutschland, und Soldat wurde.« Maud, Carlas Mutter, war geborene Engländerin, auch wenn man ihr das inzwischen kaum noch anhörte. »Wir glaubten damals, der Krieg würde nur ein paar Monate dauern, aber dann habe ich deinen Vater fünf Jahre nicht gesehen, und die ganze Zeit habe ich mich nach seinen Berührungen gesehnt. Seitdem kann ich gar nicht genug davon bekommen.«

Vater war genauso schlimm. »Deine Mutter ist die klügste Frau, der ich je begegnet bin«, hatte er Carla erst vor ein paar Tagen just in dieser Küche anvertraut. »Deshalb habe ich sie geheiratet. Natürlich fühlte ich mich auch körperlich von ihr angezogen …« Verlegen war er verstummt, und Mutter hatte verschämt gekichert, als hätte Carla mit ihren elf Jahren noch nie etwas von Sex gehört. Es war einfach nur peinlich.

Doch bei aller Liebe krachte es hin und wieder zwischen den beiden. Carla kannte die Vorzeichen. Deshalb wusste sie, dass nun ein neuer Sturm am Ehehimmel aufzog. Sie betrachtete ihren Vater. Er war adrett gekleidet: gestärktes weißes Hemd, schwarze Seidenkrawatte. Wie immer sah er schick aus, obwohl sein Haar schütter wurde und seine Weste unter der goldenen Uhrenkette ein wenig spannte. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck erzwungener Ruhe. Carla kannte diese Miene. Vater setzte sie jedes Mal auf, wenn er sich über jemanden ärgerte.

Er hielt ein Exemplar der Wochenzeitung in der Hand, für die Mutter arbeitete: Der Demokrat. Unter dem Namen »Lady Maud« schrieb sie dort eine Kolumne, in der sie sich über die neuesten Gerüchte aus der Welt der Politik und der Diplomatie ausließ. Nun las Vater laut vor: »Adolf Hitler, unser neuer Reichskanzler, gab auf einem Empfang des Reichspräsidenten Hindenburg sein Debüt in der diplomatischen Gesellschaft …«

Der Reichspräsident war das Staatsoberhaupt, wie Carla wusste. Er wurde vom Volk gewählt, stand aber über der Tagespolitik. Der Mann, der in der Politik das Sagen hatte, war der Reichskanzler. Obwohl Hitler zum Kanzler ernannt worden war, hatte seine NSDAP nicht die Mehrheit im Reichstag; deshalb konnten die anderen Parteien deren schlimmste Exzesse verhindern. Bis jetzt.

Walter war seine Abscheu deutlich anzuhören, als er den Namen Hitler aussprach, als hätte man ihn gezwungen, etwas Widerliches in den Mund zu nehmen. »Er schien sich in einem Frack sehr unwohl zu fühlen«, las er weiter vor.

Maud nippte an ihrem Kaffee und schaute aus dem Fenster, als interessiere sie sich mehr für die Leute, die in Schal und Handschuhen zur Arbeit eilten. Auch sie gab sich kühl, aber Carla wusste, dass sie nur auf den richtigen Augenblick wartete.

Die Zofe, Ada, stand in ihrer Schürze an der Anrichte und schnitt Käse. Sie stellte Walter einen Teller hin, aber der achtete gar nicht darauf, sondern fuhr fort: »Herr Hitler schien sehr angetan von Elisabeth Cerutti, der kultivierten Gattin des italienischen Botschafters, die in einem rosafarbenen, mit Zobel besetzten Samtkleid erschienen war …«

Maud schrieb immer, was die Leute trugen, weil es den Lesern half, sie sich vorzustellen. Auch sie selbst besaß elegante Kleider, aber die Zeiten waren hart, und sie alle hatten sich seit Jahren keine schicken Sachen mehr gekauft. An diesem Morgen jedoch wirkte Maud schlank und elegant in ihrem marineblauen Kaschmirkleid, auch wenn es vermutlich so alt war wie Carla.

»Signora Cerutti, wenngleich Jüdin, ist leidenschaftliche Faschistin. Sie und Herr Hitler haben lange miteinander gesprochen. Ob sie Herrn Hitler wohl gebeten hat, keinen Hass mehr gegen Juden zu schüren?« Vater knallte die Zeitung auf den Tisch.

Jetzt geht’s los, dachte Carla.

»Dir ist doch klar, dass du die Nazis damit in Rage bringst?«, sagte er.

»Ich hoffe es«, erwiderte Maud kühl. »An dem Tag, an dem den Nazis gefällt, was ich schreibe, kündige ich.«

»Die Nazis sind gefährlich«, mahnte Walter.

Mauds Augen funkelten vor Wut. »Das weiß ich. Deshalb stelle ich mich ja gegen sie.«

»Ich sehe nur keinen Sinn darin, sie wütend zu machen.«

»Du greifst sie doch auch im Reichstag an«, sagte Maud. Walter war Abgeordneter der SPD.

»Ja, aber im Rahmen politischer Debatten.«

Typisch Vater, dachte Carla. Er war nüchtern und bodenständig, Mutter hingegen humorvoll und weltgewandt. Vater erreichte seine Ziele mit Ruhe und Hartnäckigkeit, Mutter mit Charme und spitzer Zunge. Die beiden kamen nie auf einen Nenner.

»Mit den Nazis kann man nicht debattieren«, sagte Maud.

»Ich mache sie jedenfalls nicht wütend auf mich.«

»Wie denn auch? Du tust ja kaum etwas, um sie aufzuhalten.«

Walter ärgerte sich über diese spitze Bemerkung. Seine Stimme wurde lauter. »Glaubst du vielleicht, du könntest ihnen mit deinen Scherzen etwas anhaben?«

»Mit Spott und Ironie, jawohl.«

»Was wir brauchen, Maud, ist eine sachliche Auseinandersetzung.«

»Was wir brauchen, sind mutige Männer«, rutschte ihr heraus.

Walters Zorn wuchs. »Siehst du denn nicht, dass du dich und deine Familie in Gefahr bringst?«

»Die wahre Gefahr ist, die Nazis zu unterschätzen. Sollen unsere Kinder in einem faschistischen Staat aufwachsen?«

Solche Diskussionen machten Carla jedes Mal Angst. Die Vorstellung, ihre Familie könne in Gefahr sein, war ihr unerträglich. Konnte das Leben nicht einfach so weitergehen wie bisher? Konnte sie nicht ewig morgens hier am Küchentisch sitzen, mit ihren Eltern, während Ada an der Anrichte stand und Erik, ihr Bruder, oben herumpolterte, weil er wieder mal spät dran war?

Carla war mit politischen Diskussionen beim Frühstück aufgewachsen. Sie glaubte zu verstehen, was ihre Eltern taten und wie sie Deutschland zu einem besseren Land machen wollten. Doch in letzter Zeit waren die Diskussionen ernster und düsterer geworden. Offenbar glaubten ihre Eltern, dass irgendeine schreckliche Gefahr drohte, und Carla wusste nicht, wie diese Gefahr aussah.

»Gott weiß, dass ich alles Menschenmögliche tue, um Hitler und seinen Pöbel aufzuhalten«, sagte Walter.

»Das tue ich auch«, erwiderte Maud. »Nur hältst du deinen Weg für den einzig vernünftigen. Bei mir heißt es immer gleich, ich bringe die Familie in Gefahr.«

»Das stimmt doch auch!«

In diesem Augenblick kam Erik nach unten. Lautstark polterte er die Stufen hinunter und schlurfte in die Küche, den Ranzen über der Schulter. Er war dreizehn, zwei Jahre älter als Carla; über seiner Oberlippe zeigte sich bereits der erste dunkle Flaum. Früher hatten die Geschwister oft miteinander gespielt, aber das war vorbei. In letzter Zeit tat Erik so, als hielte er seine Schwester für dumm und kindisch. Dabei war sie in Wirklichkeit klüger als er. Carla wusste über Dinge Bescheid, von denen Erik keine Ahnung hatte, zum Beispiel über den Zyklus einer Frau.

»Was hast du da vorhin zuletzt gespielt?«, wollte Erik von seiner Mutter wissen.

Morgens wurde die Familie oft vom Klavier geweckt, einem Steinway-Flügel, ein Erbstück von Walters Eltern. Maud spielte frühmorgens, weil sie nach eigenem Bekunden tagsüber zu beschäftigt und abends zu müde war. An diesem Morgen hatte sie eine Sonate von Mozart gespielt, dann ein paar Takte Jazz.

»Es heißt Tiger Rag«, beantwortete sie Eriks Frage. »Ein Jazzstück.«

»Jazz ist dekadent«, verkündete Erik.

»Was redest du für einen Quatsch?«

Ada stellte Erik einen Teller mit Wurstbroten hin, die er heißhungrig herunterschlang. Carla fand seine Tischmanieren grauenhaft.

Walter musterte seinen Sohn mit strengem Blick. »Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt?«

»Wieso Unsinn? Hermann Braun sagt, Jazz ist keine Musik, sondern Negerlärm.« Hermann, dessen Vater NSDAP-Mitglied war, war Eriks bester Freund.

»Dann sollte Hermann mal versuchen, das Stück zu spielen.« Walter schaute zu Maud, und seine Züge wurden weicher. Sie lächelte ihn an. »Vor vielen Jahren«, fuhr er dann fort, »hat deine Mutter versucht, mir Ragtime beizubringen, aber ich kam mit dem Rhythmus nicht zurecht.«

Maud lachte. »Es war so, als wollte man einer Giraffe das Rollschuhfahren beibringen.«

Die düsteren Wolken des Streits verzogen sich, wie Carla erleichtert erkannte. Sie fühlte sich gleich besser, nahm sich eine Schrippe und tunkte sie in Milch.

Doch Erik war auf Streit aus. »Neger sind eine minderwertige Rasse«, sagte er...