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Drachenlord - Die Legenden des Raben 5 - Roman

James Barclay, Rainer Michael Rahn

 

Verlag Heyne, 2012

ISBN 9783641087074 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

Erstes Kapitel


»Noch einmal!« Tessaya ließ den Arm sinken. »Noch einmal!«

Abermals griffen die Wesmen die Mauern von Xetesk an. Ihre Stammesbanner flatterten in der Brise, und ihre Stimmen mischten sich zu einem einzigen Brüllen. Die Krieger brachten die Sturmleitern in Position und kletterten die groben Sprossen empor. Gleichzeitig versuchten die unter ihnen postierten Bogenschützen, die Verteidiger von den Wällen zu vertreiben, was angesichts der Entfernung jedoch keine leichte Aufgabe war.

In den tiefen Schatten der Nacht setzten die Kämpfer der Stämme unter den Mauern von Xetesk immer neue Leitern an, auf einer Breite von vierhundert Schritt. Die besten Leitern waren grob behauen und mit Seilen verzurrt, die schlechtesten waren kaum mehr als die geschälten Stämme der höchsten Bäume, die sie hatten finden können. Bei früheren Angriffen waren einige Leitern nicht lang genug gewesen.

Jetzt sah Tessaya, wie das Licht der Fackeln auf den Wällen die Leitern erfasste, ehe sie mit einem Knall gegen die Mauern prallten, damit die Krieger, immer zwei auf einmal, hinaufsteigen konnten.

Dieses Mal stand der Feind mit dem Rücken zur Wand. Dieses Mal würden die Wesmen die Verteidigung durchbrechen. Daran gab es keinen Zweifel. Bei Tageslicht waren viele gestorben. Sprüche und Pfeile hatten Holz und Fleisch zerfetzt. Brennende Krieger waren kreischend zu Boden gesunken. Verkohlte oder vereiste Leitern waren geborsten und binnen weniger Herzschläge zusammengebrochen.

Dennoch hatten die Stämme nicht aufgegeben. Angetrieben von ihren Lords, die den Sieg zum Greifen nahe wähnten, hatten sie den Angriff fortgesetzt. Hunderte suchten im Hinterland nach Bäumen, aus denen sie neue Leitern bauen konnten, und Hunderte starben an den Mauern, während sie taten, was getan werden musste. Sie laugten die Sprüchewirker aus.

Tessaya sah Männer auf den Mauern laufen und die Verteidigung organisieren. Unter ihnen, die Schilde über die Köpfe haltend, stießen seine Krieger vor. Es war der vierte Angriff binnen eines Tages. Die Nacht war gerade zur Hälfte vorbei, und die Wucht der Sprüche ließ nach.

Planlos erfasste hin und wieder ein Spruch die Spitze einer Leiter und die kletternden Männer, doch das war schon alles. Tessaya hatte diesen Moment kommen sehen und den größten Teil seiner Streitmacht zurückgehalten. Xetesk verfügte nicht mehr über die magische Kraft, um sie aufzuhalten. Jetzt kam es darauf an, wer mit Schwert, Axt und Speer der Stärkere war. Das war ein Kampf, den die Wesmen nicht verlieren konnten.

Er sah noch einen Augenblick zu. Immer noch prasselten Pfeile auf die Krieger nieder, die die Leitern emporstiegen. Immer noch fielen seine Leute zu Dutzenden. Tief atmete er die Nachtluft ein. Die Gerüche von Asche und Furcht mischten sich mit dem Duft von frischem Gras, den die Brise herantrug. Er hörte die Stimmen der Wesmen, ihre Stammeslieder, zwischen den Mauern von Xetesk hallen. Von Kraft und Sieg erzählten die Hymnen und schwollen mit jedem Herzschlag an.

Er wandte sich an Lord Riasu. Die kleinen Augen des Mannes funkelten in der Dunkelheit, und sein kantiges Gesicht war vor Erregung rot angelaufen.

»Ihr spürt es auch.«

»Ich spüre es, Lord Tessaya«, bestätigte Riasu. »Wir haben das Ziel fast erreicht.«

»Und was wünscht Ihr jetzt?«

Riasu nickte zu den Mauern hin. Die Wesmen stiegen auf den Leitern höher und höher, die Pfeile konnten sie nicht mehr abhalten, und Sprüche schlugen kaum noch ein. Ein dunkelblauer Blitz auf der linken Seite war eine letzte Erinnerung an die schwindende Bedrohung.

»Meine Männer sind auf den Leitern«, sagte er. »Ich will mich ihnen anschließen. Führe uns auf die Mauern.«

Tessaya versetzte Riasu einen festen Schlag gegen die Schulter. »Diesen Wunsch teile ich.«

Er sah sich rasch um. Sechs weitere Stammesfürsten standen bei ihnen. Ihre Krieger, tausend oder mehr, waren bereit, jederzeit anzugreifen. Unterdessen stärkten sie denjenigen, die schon vor den Mauern in Kämpfe verwickelt waren, mit aufmunternden Rufen den Rücken. Hinter ihnen brannten die Lagerfeuer, und die Wächter der Paleon-Stämme beschützten die Schamanen, die mit ihren Gebeten Anleitung und Kraft von den Göttern erflehten. Ihre Gebete waren ganz gewiss erhört worden.

Die Lords standen in der Nähe in einer Gruppe beisammen, alle wollten das Gleiche, doch sie warteten noch auf Tessayas Kommando. Der Ruhm, der Erste zu sein, der die Mauern erklomm, überwog die Todesangst.

»Es wird Zeit«, sagte Tessaya. Er löste die Axt vom Gürtel. »Meine Lords, wir wollen dem Gegner den vernichtenden Schlag versetzen.«

Er hob die Axt hoch über den Kopf, stieß den Kriegsschrei der Paleon-Stämme aus und leitete den Angriff auf die Mauern ein. Die Lords beschworen ihre Stammesgeister und folgten ihm. Ihnen wiederum folgten tausend Krieger und stimmten ein ohrenbetäubendes Gebrüll an.

Tessaya rannte. Seine grauen Zöpfe flatterten über seinen Schultern, er bewegte Arme und Beine rasend schnell und spürte den Luftzug im Gesicht. Er konnte sich nicht erinnern, sich schon einmal so lebendig gefühlt zu haben. Nicht einmal die Begeisterung, mit der er die Wesmen aus dem Schatten des Understone-Passes geführt hatte, war diesem Gefühl gleichgekommen. Damals hatten sie sich so viel vorgenommen und waren gescheitert. Jetzt war der Sieg in Reichweite.

Seine vergessene Jugend strömte in die nicht mehr jungen Adern zurück. Sein Herz pumpte die Lebenskraft durch seinen Körper. Sein Kopf war klar, sein Auge scharf. Die Geister waren bei ihm und in ihm. Nichts konnte ihn aufhalten. Er lachte laut und beschleunigte seine Schritte.

Unter Xetesks Mauern vertiefte sich die Dunkelheit. Siebzig Fuß hoch waren sie und leicht nach außen geneigt. Beeindruckend, drohend und noch nie überwunden. Hier waren auch die Kampfgeräusche lauter. Tessaya hörte das Summen der Bogensehnen, das Krachen der primitiven Leitern, die Rufe der Wesmen über ihm, die sich als schwarze Schatten vor den grellen Fackeln abhoben.

Wie er befohlen hatte, drängten sich die Wesmen nicht um die unteren Enden der Leitern. Alle, die nicht schon kletterten oder sich darauf vorbereiteten, hatten sich auf dem Feld verteilt und warteten auf den Ruf, ehe sie sich näherten. So gab es keine dicht gedrängt stehenden Gruppen, die den feindlichen Magiern und Bogenschützen ein bequemes Ziel boten.

Tessaya rannte an den wartenden Kriegern vorbei, die seinen Namen riefen. Schneller als ein Buschfeuer breitete sich der Ruf auf dem Schlachtfeld aus. Als er an den wartenden Kriegern vorbei war und die Leiter fast erreicht hatte, wurde ringsum sein Name gesungen.

Er setzte den Fuß auf die unterste Sprosse und trieb alle in der Nähe und über ihm an, sich noch schärfer ins Zeug zu legen. Riasu war direkt hinter ihm und rief etwas in einem Stammesdialekt, den Tessaya kaum verstehen konnte. Das war auch nicht nötig, denn die Botschaft war klar.

Tessaya kletterte schnell, das Holz gab unter seinem Gewicht nach, und die Leiter schwankte und bog sich durch. Die Bindungen waren aber fest und würden halten. Links und rechts eilten andere Wesmen die Leitern hoch. Jetzt, da Tessaya sich eingeschaltet hatte, bekam der Angriff neuen Schwung. Diejenigen, die schon kämpften, waren sich ihres Sieges sicher.

»Drückt euch dicht an die Sprossen«, befahl Tessaya. »Bietet ihnen kein Ziel.«

Eine Schande, dass nicht alle Männer seinen Rat befolgten. Immer noch flogen ihnen Pfeile um die Ohren. Einer traf den ungeschützten Hals eines Kriegers, der es riskierte, nach oben zu schauen, um zu sehen, wie weit er noch klettern musste. Schreiend stürzte er an Tessaya vorbei und schlug tot unten auf.

»Weiter!«, rief er.

Direkt über ihm war ein Mann, den Tessaya schamlos als Schild benutzte. Die Nähe der Wand hinter der Leiter verriet ihm, wie hoch sie schon geklettert waren. Es war nicht mehr weit.

Wieder zuckte ein Spruch über den Nachthimmel. Links schlug ein Eiswind in Fleisch und Holz, ließ es aufplatzen und zerfetzte Bindungen und Sprossen. Die Leiter fiel auseinander, und die Überlebenden stürzten in den Tod. Tessaya fluchte. Doch über ihm nahm das Gebrüll zu, und er vernahm das wundervolle Klirren von Metall auf Metall, als seine Krieger endlich von Angesicht zu Angesicht gegen die xeteskianischen Verteidiger kämpften. Er lächelte humorlos.

»Bist du noch hinter mir, Riasu?«, rief er.

»Ich bin da, Mylord«, kam die etwas atemlose Antwort. »Ich rieche schon ihre Angst.«

»Dann will ich dich nicht davon abhalten, ihnen auch in die Augen zu sehen«, sagte Tessaya. »Angriff!«

Jetzt schaute Tessaya nach oben. Er war höchstens noch zehn Fuß von der Mauerkrone entfernt. Der Pfeilhagel hatte aufgehört. Seine Männer kletterten schneller, und er hielt Schritt. Sie mussten unbedingt den Wehrgang erreichen, ehe der kleine Brückenkopf wieder aufgerieben wurde. Ein Toter fiel rechts neben ihm herab. Funken flogen, als die Waffen aufeinanderprallten, und die Wesmen sangen lauter denn je und weckten mit ihrem Gesang in allen Kämpfern die Lust, noch härter zu kämpfen. Für die Stämme, für sich selbst und für all jene, die gestorben waren, damit sie so weit kommen konnten.

Die Männer über ihm bewegten sich für seinen Geschmack immer noch zu langsam. Er hielt die Axt rechts neben der Leiter, beugte sich hinüber, so weit er es wagte, und rief den Kriegern über ihm zu, sie sollten ihm Platz machen.

»Nach links, geht nach links. Lasst mich durch. Los doch, los!«

Er spürte Riasu hinter sich. Mit der linken Hand hielt Tessaya sich fest und stieg eilig die Sprossen hinauf. Auf der schräg...