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Die Tränen der Maori-Göttin - Roman

Sarah Lark

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2012

ISBN 9783838715223 , 848 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Langsam senkte sich die Dämmerung über die Berge und die See. Die Sonne, die jetzt, im Winter, ohnehin nicht hoch am Himmel gestanden hatte, ließ sich gelassen ins Meer gleiten, während ihre letzten Strahlen den majestätischen Mount Taranaki in rotgoldenes Licht tauchten.

Die Spitze des Berges war schneebedeckt und bildete eine beeindruckende Kulisse für das Dorf Parihaka.

Wie ein Wächter, pflegte Atamaries Mutter zu sagen, wir freuen uns an seiner Schönheit und fühlen uns sicher in seinem Schatten.

Atamarie fand das manchmal ein bisschen befremdlich – schließlich lernte sie in der Schule, dass der Mount Taranaki ein Vulkan war und keineswegs ein friedlicher! Vor hundertfünfzig Jahren war er das letzte Mal ausgebrochen, und theoretisch konnte das jederzeit wieder passieren. Ihre Mutter winkte jedoch ab, wenn Atamarie ihr das vorhielt. Aber nein, Atamarie, die Götter werden jetzt Frieden halten, die Zeit der Kriege ist vorbei, sagte sie. Und dann erzählte sie Atamarie und den anderen Kindern die Legende rund um den Gott des Mount Taranaki, der sich mit einem anderen Berggott um die Liebe einer Waldgöttin stritt. Die Göttin Pihanga entschied sich schließlich für seinen Rivalen, und Taranaki zog sich nach dem Kampf mit den anderen Berggöttern verärgert an die Küste zurück. Damit kam der Krieg in ihre Welt und auch in die der Menschen. Aber es gab Hoffnung. Irgendwann würde Taranaki einlenken, und wenn die Götter sich dann wieder vertrugen, konnten auch die Menschen mit dauerhaftem Frieden rechnen.

Die meisten Kinder lauschten diesen Geschichten mit offenen Mündern und voller Ernst, aber Atamarie interessierte sich eigentlich mehr für die vulkanische Aktivität des Mount Taranaki und ihre Auswirkungen auf das Land. Ihre Lieblingsfächer in der Otago Girls’ School in Dunedin waren Mathematik, Physik und Geografie. Für romantische Geschichten war eher ihre Freundin Roberta zuständig.

Insofern hatte Atamarie auch an diesem Abend wenig Sinn für die Erzählungen und Lieder der alten Menschen in Parihaka, die den Kindern von der Sternkonstellation berichteten, die sich in dieser oder einer der nächsten Nächte am Himmel zeigen sollte: von Matariki – den Augen des Gottes Tawhirimatea – oder von einer Mutter mit sechs Töchtern, auf dem Weg, der erschöpften Sonne zu helfen, sich nach dem Winter erneut zu erheben … Für Atamarie waren es einfach die Plejaden, die jeden Winter um diese Zeit am Himmel über Neuseeland in Sicht kamen. Sehr nützlich zur Bestimmung der Wintersonnenwende und früher auch für die Navigation auf dem Meer zwischen Hawaiki, der ursprünglichen Heimat der Maori, und Aotearoa, dem Land, in dem sie heute lebten und das die Weißen Neuseeland nannten. Und sehr hübsch anzusehen natürlich am nächtlichen Himmel. Die Magie der Sterne erschloss sich Atamarie allerdings nicht, und den Sagen und Märchen rund um Matariki lauschte sie stets nur mit halbem Ohr.

Dafür interessierte sie sich umso mehr für die Funktion der Erdöfen, welche die Bewohner Parihakas zuvor mit Gemüse und Fleisch befüllt hatten. Dies gehörte zur Zeremonie des Neujahrsfestes, das die Maori beim Auftauchen der Plejaden Ende Mai oder Anfang Juni begingen.

Atamarie linste begeistert in die glühend heißen Höhlen, welche die Männer schon am Vormittag ausgehoben hatten. Hangi nutzten die vulkanische Aktivität des Taranaki zum Garen der Speisen. Man wickelte Fleisch und Gemüse in Blätter, legte sie in Körbe und stellte sie auf die kochend heißen Steine. Anschließend wurden sie mit nassen Tüchern bedeckt, und dann verschloss man die Grube mit Erde. Im Laufe der nächsten Stunden sollten die Speisen garen – und möglichst genau dann fertig sein, wenn das Sternbild Matariki am Himmel aufleuchtete.

Atamarie sah genauso begierig nach den Sternen aus wie die anderen Kinder. Sie freute sich auf das Fest, schließlich war sie extra dafür aus Dunedin auf die Nordinsel gekommen. Wobei natürlich nicht sicher war, dass die Plejaden sich wirklich während der kurzen Winterferien zeigen würden. Aber Matariki und Kupe, Atamaries Mutter und ihr Stiefvater, hatten es darauf ankommen lassen.

»Du musst das Neujahrsfest mal in Parihaka erleben!«, hatte Matariki, die nach dem Sternbild benannt worden war, geschrieben. Viele Maori-Namen bezeichneten ursprünglich Naturphänomene – Atamarie hieß nach dem Sonnenaufgang. »Es hat hier einen besonderen Zauber.«

Atamarie verdrehte ein bisschen die Augen. Für ihre Eltern hatte alles, was mit Parihaka zusammenhing, einen besonderen Zauber. Sie hatten schon lange vor Atamaries Geburt in dem berühmten Dorf gelebt, damals, als der Prophet Te Whiti hier noch den Frieden zwischen den Weißen, den pakeha, und den Maori gepredigt hatte. Kupe hatte im Gefängnis gesessen, nachdem das Dorf dann von den Engländern gestürmt und die Bewohner enteignet worden waren. Und Matariki war mit dem Mann fortgelaufen, der Atamaries Vater werden sollte.

Sehr viel später war Te Whiti allerdings nach Parihaka zurückgekehrt und mit ihm viele seiner treuen Anhänger. Sie hatten das Dorf wieder aufgebaut und waren dabei, es erneut zu einem spirituellen Zentrum der ersten Siedler Neuseelands werden zu lassen. Diesmal allerdings weniger von Träumen getragen als von Verträgen und sicheren Absprachen. Kupe und Matariki hatten ihr Stück Land von der Regierung Taranakis gekauft – auch wenn sie es nach wie vor nicht richtig fanden, den Weißen Geld für ihr eigenes Stammland zu geben. Kupe, inzwischen Rechtsanwalt, hatte einige Klagen angestrengt. Es war recht wahrscheinlich, dass Te Whiti und sein Stamm Entschädigungszahlungen erhalten und auf Dauer ihr Land zurückbekommen würden.

Die Menschen jedenfalls kamen wieder, und es gab auch erneut Kinder in Parihaka, die Matariki in einer neuen Schule unterrichtete. An eine High School war vorerst allerdings nicht zu denken. Atamarie besuchte deshalb eine renommierte Mädchenschule in Dunedin und verbrachte die Wochenenden abwechselnd bei ihren Großeltern und in der Familie ihrer Freundin Roberta.

Parihaka konnte Atamarie nur in den Ferien besuchen, was sie wunderbar fand. Sie freute sich auf ihre Eltern und das freie Leben im Maori-Dorf, in dem es sehr viel weniger Regeln und Verbote gab als in der Otago Girls’ School. Einige Wochen Flachsweben, Tanzen und Spielen der traditionellen Maori-Musikinstrumente, Fischen und Arbeit auf den Feldern genügten ihr aber stets. Das Motto von Parihaka Wir wollen die Welt zu einem besseren Ort machen! kam Atamaries Neigungen zwar entgegen, allerdings hatte sie völlig andere Vorstellungen als die Leute, die in Parihaka die traditionellen Künste des Maori-Volkes unterrichteten. Immer wenn das Mädchen Anstrengungen machte, etwas konkret zu verbessern – den Webrahmen zum Beispiel, an dem sie Flachs weben sollte, oder die Reuse zum Fischefangen –, lehnte man seine Vorschläge empört ab. Und manchmal fielen sogar unfreundliche Worte über Atamaries pakeha-Abstammung, worüber sich Matariki mehr aufregte als ihre Tochter. Atamarie war es gänzlich egal, wie viele ihrer Vorfahren aus dem einen oder dem anderen Volk stammten. Sie wollte nur nicht mehr Stunden mit Webarbeiten verbringen als unbedingt nötig, und sie hatte keine Lust, Fische zu verlieren, weil die Reuse nicht richtig schloss.

Am Ende der Ferien würde sie froh sein, Parihaka wieder verlassen und nach Dunedin zurückkehren zu können. Die Otago Girls’ School war eine äußerst moderne Einrichtung, und die Lehrerinnen unterstützten Erfindungsreichtum bei ihren Schülerinnen.

Jetzt aber stand das Neujahrsfest der Maori bevor, und irgendwann mussten die Plejaden erscheinen. Die alten Leute wachten bereits die dritte Nacht in Folge, obwohl das eigentlich sinnlos war. Wenn die Sterne in Sicht kamen, so in der Regel gleich nach Sonnenuntergang.

»Es ist eine Zeit des Wartens und des Sicherinnerns, Atamarie«, erklärte Matariki. »Die alten Leute denken über das Gestern, Heute und Morgen nach, über das alte Jahr und das neue … Da ist es gar nicht so wichtig, ob die Sterne an diesem Tag erscheinen oder an einem anderen.«

Atamarie verstand das zwar nicht, aber es zwang sie natürlich auch keiner dazu, wach zu bleiben. Wenn das Essen gar und verspeist war und die Erwachsenen noch Musik machten und redeten, verzogen sich die Kinder schon in die Schlafhäuser, kuschelten sich aneinander und erzählten Geschichten. Für Atamarie war das dann fast wie im Internat in Dunedin – nur dass hier nicht mit dem Auftauchen einer Lehrerin zu rechnen war, die ihre Zöglinge energisch zur Ordnung rief.

Nun sah sie gemeinsam mit den anderen Kindern zu, wie die Sonne in der Tasmansee versank. Das Licht über dem Ackerland rund um Parihaka wurde diffus, und nur der Schnee vom kegelförmigen Gipfel des Berges leuchtete noch ein wenig golden. Der Himmel verdunkelte sich rasch – und plötzlich sah Atamarie die Sterne! Strahlend hell und klar stiegen die Plejaden auf über dem Meer, angeführt von dem größten der sieben Sterne: Whanui.

Die Kinder begannen sofort, die Sternformation mit dem traditionellen Lied zu begrüßen, das ihre Lehrerin Matariki ihnen beigebracht hatte:

»Ka puta Matariki ka rere Whanui.

Ko te tohu tena o te tau e!«

Matariki ist zurück! Whanui beginnt seinen Flug.

Das Zeichen für ein neues Jahr!

»Und ein gutes Zeichen!«, freute sich Atamaries Mutter und nahm ihren Mann und ihre Tochter in die Arme. Kupe war extra von Wellington nach Parihaka gekommen, um das Neujahrsfest mit ihnen zu...