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Wildwood - Roman

Colin Meloy, Carson Ellis

 

Verlag Heyne, 2012

ISBN 9783641082239 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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15,99 EUR


 

EINS


Ein Schwarm Krähen


Wie fünf Krähen es schafften, ein neun Kilo schweres Baby in die Lüfte zu heben, ging über Prues Verstand – aber das Wie war noch ihre geringste Sorge. Ja, hätte sie in eben diesem Moment, als sie ihren Bruder Mac in den Klauen von fünf schwarzen Vögeln davonschweben sah, ihre Sorgen auflisten müssen, wäre die Frage, wie das gelingen konnte, an allerletzter Stelle gelandet. Ganz oben auf der Liste: dass ihr kleiner Bruder, für den sie die Verantwortung trug, von Vögeln entführt wurde. Dicht gefolgt von: Was hatten sie mit ihm vor?

Dabei hatte der Tag so gut begonnen.

Zwar war es ein bisschen grau gewesen, als Prue an jenem Morgen aufgewacht war, aber welcher Septembertag in Portland war das nicht? Sie hatte die Jalousien in ihrem Zimmer hochgezogen und einen Moment innegehalten, um die Äste vor ihrem Fenster zu betrachten, umrahmt von einem dunstig weißgrauen Himmel. Es war Samstag, und der Geruch von Kaffee und Frühstück wehte von unten herauf. Ihre Eltern saßen bestimmt schon wie immer am Frühstückstisch: Paps, die Nase hinter der Zeitung vergraben, würde hin und wieder einen Becher lauwarmen Kaffee an die Lippen führen; Mama würde durch eine Hornbrille auf die wollige Masse ihres Strickzeugs starren, von dem niemand so recht wusste, was daraus werden sollte. Und ihr Bruder, ein stolzes Jahr alt, würde in seinem Hochstuhl fröhlich vor sich hin brabbeln und dabei die fernsten Grenzregionen der Unverständlichkeit erforschen: Da! Dada! Und genau so war es auch, als Prue in die Essecke neben der Küche kam. Ihr Vater murmelte eine Begrüßung, die Augen ihrer Mutter lächelten über den Rand ihrer Brille hinweg, und ihr Bruder quiekte: »Puuuh!« Prue schüttete sich Müsli in eine Schüssel.

»Ich habe Speck auf dem Herd«, sagte ihre Mutter, während sie sich wieder dem wuscheligen Knäuel in ihren Händen zuwandte (war es ein Pulli? Ein Kaffeewärmer? Oder eine Schlinge?).

»Aber Mama«, antwortete Prue, während sie sich Reismilch über ihr Müsli goss. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich Vegetarierin bin. Ergo: kein Speck.« Das Wort ergo hatte sie vor Kurzem in einem Roman gelesen und jetzt zum ersten Mal benutzt. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie es richtig verwendet hatte, aber es fühlte sich gut an. Sie setzte sich an den Küchentisch und zwinkerte Mac zu. Ihr Vater spähte kurz über seine Zeitung und lächelte.

»Na, was hast du heute vor?«, fragte er. »Denk dran, dass du auf Mac aufpasst.«

»Hmmm, weiß nicht«, entgegnete Prue. »Ich dachte mir, wir könnten ein bisschen um die Häuser ziehen. Ein paar alte Damen aufmischen. Vielleicht einen Haushaltswarenladen überfallen und die Beute versetzen. Ist auf jeden Fall spannender als ein Kunsthandwerkermarkt.«

Ihr Vater prustete los.

»Vergiss nicht, die Bücher in der Bücherei abzugeben. Sie liegen in dem Korb neben der Haustür«, erinnerte ihre Mutter sie über die klackernden Stricknadeln hinweg. »Bis zum Abendessen müssten wir zurück sein, aber du weißt ja, wie lange solche Sachen dauern können.«

»Alles klar«, sagte Prue.

Mac rief: »Puuuh!«, fuchtelte wild mit einem Löffel herum und nieste.

»Übrigens glauben wir, dass dein Bruder sich erkältet hat«, sagte ihr Vater. »Also achte bitte darauf, dass er warm eingepackt ist, egal was ihr unternehmt.«

(Und während die Krähen ihren Bruder jetzt immer höher in den bewölkten Himmel hinauf trugen, fiel Prue plötzlich noch eine weitere Sorge ein: Er hat vielleicht eine Erkältung!)

Das war also der Morgen gewesen. Ziemlich unspektakulär. Prue aß ihr Müsli auf, überflog die Comics in der Zeitung, ergänzte ein paar einfache Wörter im Kreuzworträtsel ihres Vaters und machte sich dann daran, den roten Radio-Flyer-Anhänger an ihrem Fahrrad zu befestigen. Der Himmel war immer noch von einem gleichmäßigen Grau bedeckt, doch es sah nicht nach Regen aus. Also steckte sie den weiter vor sich hin brabbelnden Mac in einen gefütterten Cordstrampler, wickelte ihn in eine Steppdecke und setzte ihn in den Anhänger. Dann befreite sie einen Arm aus diesem Kleidungskokon und drückte ihm sein Lieblingsspielzeug in die Hand: eine Holzschlange. Er schüttelte sie dankbar.

Prue schwang sich auf den Sattel, trat kräftig in die Pedale und setzte das Fahrrad in Bewegung. Der Anhänger hüpfte geräuschvoll hinter ihr her, und bei jedem Ruck kreischte Mac glücklich auf. Sie rasten durch die Siedlung mit den adretten Schindelhäusern dahin, polterten über Bordsteinkanten und schlingerten um Pfützen herum, sodass Macs Wägelchen beinahe umkippte. Die Reifen gaben ein zufriedenes Schschschsch von sich, als sie über den nassen Asphalt pflügten.

Der Vormittag war mit den verschiedensten Erledigungen im Nu verflogen – eine Levi’s Jeans von nicht ganz der richtigen Farbe wurde umgetauscht, ein Blick in den Secondhand-Plattenladen um die Ecke geworfen, und in einem mexikanischen Imbiss teilten sich die Geschwister unter viel Geklecker eine vegetarische Tostada. Der Nachmittag war angenehm warm, und so saß Prue draußen vor dem Café auf der Hauptstraße, während Mac friedlich in seinem roten Anhänger schlummerte. Behaglich schlürfte sie heiße Milch und beobachtete durch das Fenster die Angestellten des Cafés, die sich ungeschickt damit abmühten, einen Elchkopf vom Flohmarkt an der Wand aufzuhängen. Auf der Lombard Street brummten die Autos vor sich hin, als erste Vorboten des bald einsetzenden Abendverkehrs in diesem gemächlichen Stadtviertel. Einige Passanten gurrten dem schlafenden Kind im Anhänger zu, und Prue lächelte schief, etwas genervt davon, zusammen mit ihrem Bruder so was wie ein Bilderbuch-Geschwisterpaar abzugeben. Gedankenlos kritzelte sie in ihr Skizzenbuch: den von Laub verstopften Gully vor dem Café, Macs stilles Gesichtchen, zwar etwas unscharf, dafür mit extra Augenmerk auf den dünnen Rotzfaden, der aus seinem linken Nasenloch tropfte. So war der Nachmittag vor sich hingeplätschert – bis Mac aufwachte und Prue aus ihrer Trance riss. »Also gut«, sagte sie und nahm ihren Bruder auf den Schoß, der sich den Schlaf aus den Augen rieb. »Machen wir uns wieder auf den Weg. Zur Bücherei?« Mac schob verständnislos die Lippen vor.

»Na dann, zur Bücherei.«

Mit quietschenden Reifen kam Prue vor der Stadtteilbibliothek von St. Johns zum Stehen und schwang sich vom Fahrradsattel. »Lauf nicht weg«, sagte sie zu Mac und griff sich den kleinen Bücherstapel aus dem Anhänger. Dann trabte sie in die Eingangshalle, stellte sich vor den Rückgabeschlitz und sah die Bücher in ihrer Hand durch. Plötzlich hielt sie inne und seufzte: der Vogelführer von David Sibley. Trotz aller Mahnungen und Drohbriefe der Bibliothekare hatte sie ihn seit mittlerweile drei Monaten ausgeliehen, ehe sie sich schließlich dazu durchringen konnte, ihn zurückzugeben. Betrübt blätterte Prue durch die Seiten. Sie hatte Stunden damit verbracht, die wunderschönen Illustrationen abzuzeichnen, während sie gleichzeitig die fantastischen, exotischen Vogelnamen wie leise Zauberformeln vor sich hin flüsterte: Kieferntangare. Nachtschwalbe. Graubauchsegler. Die Namen beschworen Bilder von erhabenen Landstrichen und weit entfernten Orten herauf, von stillen Sonnenaufgängen in der Prärie und Vogelnestern in dunstigen Baumwipfeln. Ihr Blick wanderte von dem Buch in ihrer Hand zur Dunkelheit des Rückgabeschlitzes und zurück. Sie zog den Kopf ein, murmelte: »Ach, was soll’s«, und schob das Buch wieder in ihre Jacke. Dann würde sie den Zorn der Bibliothekare eben noch eine weitere Woche aushalten.

Mittlerweile war draußen eine alte Frau vor dem Anhänger stehen geblieben, die mit gerunzelter Stirn angestrengt nach dessen Besitzer Ausschau hielt. Mac kaute zufrieden auf dem Kopf der Holzschlange herum. Prue verdrehte die Augen, holte tief Luft und stieß die Tür der Bücherei auf. Als die Frau sie entdeckte, wedelte sie mit einem knotigen Finger in ihre Richtung und polterte los: »Entschuldigung, junges Fräulein! Das ist sehr gefährlich! Ein kleines Kind ganz allein zu lassen! Wissen seine Eltern, wie auf den Jungen aufgepasst wird?«

»Was, der da?«, fragte Prue, während sie aufs Fahrrad stieg. »Der arme Wurm hat keine Eltern. Ich hab ihn in der Zu-verschenken-Kiste der Bücherei gefunden.« Mit einem breiten Lächeln stieß sie sich vom Bürgersteig ab und fuhr los.

Der Spielplatz war leer, als sie ankamen. Prue wickelte Mac aus seinen vielen Schichten und setzte ihn neben den abgekoppelten Anhänger. Er fing gerade an zu laufen und nutzte fröhlich jede Gelegenheit, sein Gleichgewicht zu trainieren. Glucksend und grinsend klammerte er sich an dem Wägelchen fest und schob es langsam watschelnd über den Spielplatz. »Tob dich aus«, sagte Prue, setzte sich auf die Parkbank, zog Sibleys Vogelführer aus der Jacke und schlug die Seite über Lerchenstärlinge auf, die sie mit einem Eselsohr markiert hatte. Allmählich wurden die Schatten auf dem Asphalt länger, und der späte Nachmittag ging in den frühen Abend über.

Da bemerkte Prue zum ersten Mal die Krähen.

Anfangs waren es nur wenige, die am wolkenbedeckten Himmel ihre Kreise zogen. Aus den Augenwinkeln sah Prue, wie sie durch die Luft schossen, und blickte auf. Corvus brachyrhynchos; erst am Abend zuvor hatte sie von ihnen gelesen. Selbst aus dieser Entfernung staunte Prue über ihre Größe und die Kraft eines jeden Flügelschlags. Ein paar weitere stießen zu der Gruppe, und jetzt kreisten und flatterten mehrere auch über dem verlassenen...