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Die Lady im See

Die Lady im See

Raymond Chandler

 

Verlag Diogenes, 2021

ISBN 9783257611922 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

Das Chefzimmer hatte alles, was ein Chefzimmer haben sollte. Es war langgestreckt, dämmrig und still, mit Klimaanlage, geschlossenen Fenstern und gegen die grelle Julisonne halb heruntergelassenen grauen Jalousien. Die grauen Vorhänge waren auf den grauen Teppich abgestimmt. In einer Ecke stand ein großer Panzerschrank in Schwarz und Silber, an der Wand gab es eine Reihe dazu passender niedriger Aktenschränke. Dort hing auch hinter Glas die riesige getönte Photographie eines älteren Herrn mit scharf geschnittener Nase, Koteletten und Vatermörder. Der Adamsapfel, der sich durch den Kragen drängte, sah härter aus als das Kinn bei den meisten Menschen. Auf dem Schild unter der Photographie stand: Mr. Matthew Gillerlain 18601934.

Derace Kingsley marschierte zackig hinter seinen zirka achthundert Dollar schweren Chef-Schreibtisch und pflanzte sich in seinen hochlehnigen Ledersessel. Aus einer kupferbeschlagenen Mahagonikiste nahm er eine Panatela, schnitt die Spitze ab und zündete sie sich mit einem fetten kupfernen Tischfeuerzeug an. Dabei ließ er sich Zeit. Auf meine Zeit kam es ihm nicht an. Als er so weit war, lehnte er sich zurück, paffte eine kleine Rauchwolke in die Luft und sagte: »Ich bin Geschäftsmann. Bei mir gibt es keine Fisimatenten. Sie sind Privatdetektiv mit Lizenz, steht auf Ihrer Karte. Zeigen Sie mir mal einen Beleg dafür.«

Ich zog meine Brief‌tasche heraus und zeigte ihm einen Beleg dafür. Er sah ihn sich an und warf ihn dann wieder über den Tisch. Dabei fiel die Zelluloidhülle mit der Photostat-Kopie meiner Lizenz zu Boden. Es war ihm keine Entschuldigung wert.

»M’Gee kenne ich nicht«, sagte er. »Ich kenne Sherif‌f Petersen. Ich habe ihn gebeten, mir einen verlässlichen Mann für einen Job zu empfehlen. Das werden wohl Sie sein.«

»M’Gee sitzt in der Außenstelle des Sheriffs in Hollywood«, sagte ich. »Können Sie überprüfen.«

»Nicht nötig. Sie werden schon was taugen, aber kommen Sie mir bloß nicht komisch. Und nie vergessen, wenn ich einen Mann einstelle, ist er mein Mann. Er tut genau, was ich sage, und hält die Klappe. Sonst ist er ganz schnell wieder draußen. Ist das klar? Ich bin doch hoffentlich nicht zu taff für Sie?«

»Die Frage können wir erst einmal offenlassen«, sagte ich.

Er verzog das Gesicht. Mit schneidender Stimme fragte er: »Was berechnen Sie?«

»Fünfundzwanzig am Tag plus Spesen. Fahrtkosten: acht Cent pro Meile.«

»Absurd«, sagte er. »Viel zu teuer. Fünfzehn pro Tag, pauschal. Das ist üppig. Die Fahrtkosten zahle ich, in vernünftigem Rahmen, so wie die Dinge stehen. Aber keine Extratouren.«

Ich blies ein kleines Wölkchen grauen Zigarettenrauch in die Luft und wedelte mit der Hand. Ich sagte nichts. Er schien ein wenig überrascht zu sein, dass ich nichts sagte.

Er lehnte sich über den Schreibtisch und zeigte mit der Zigarre auf mich. »Sie sind noch nicht engagiert«, sagte er, »aber falls Sie es werden, dieser Auf‌trag ist streng vertraulich. Sie werden Ihren Freunden bei der Polizei nichts ausplaudern. Ist das klar?«

»Worum geht es eigentlich, Mr. Kingsley?«

»Das kann Ihnen doch egal sein. Als Detektiv machen Sie doch alles, oder?«

»Alles nicht. Es muss schon einigermaßen anständig sein.«

Er blickte mich ungerührt an, mit angespanntem Kiefer. Seine grauen Augen waren stumpf.

»Scheidungsangelegenheiten übernehme ich zum Beispiel nicht«, sagte ich. »Und von Fremden bekomme ich hundert Dollar Vorschuss auf die Hand.«

»Verstehe«, sagte er, plötzlich kleinlaut. »Verstehe.«

»Und was die Frage angeht, ob Sie zu taff für mich sind«, sagte ich, »meistens weinen meine Klienten mir zu Anfang das Hemd voll, oder sie brüllen mich nieder, weil sie zeigen wollen, wer hier der Boss ist. Aber am Ende sind sie ganz vernünftig – wenn sie noch leben.«

»Verstehe«, wiederholte er, immer noch kleinlaut, und starrte mich unverwandt an. »Sterben Ihnen viele weg?«, fragte er.

»Nicht, wenn sie mich gut behandeln«, sagte ich.

»Zigarre?«, fragte er.

Ich nahm mir eine und steckte sie ein.

»Ich möchte, dass Sie meine Frau finden«, sagte er. »Sie wird seit einem Monat vermisst.«

»Okay«, sagte ich. »Ich finde Ihnen Ihre Frau.«

Er tätschelte mit beiden Händen seinen Schreibtisch und starrte mich fest an. »Das traue ich Ihnen sogar zu«, sagte er. Dann grinste er. »So ist mir schon seit vier Jahren keiner mehr gekommen«, sagte er.

Ich sagte nichts.

»Was soll’s«, sagte er. »Hat mir richtig Eindruck gemacht.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein volles schwarzes Haar. »Sie ist schon einen ganzen Monat verschwunden«, wiederholte er. »Aus dem kleinen Haus, das wir in den Bergen haben. In der Nähe von Puma Point. Wissen Sie, wo das ist?«

Ich bestätigte ihm, dass ich wusste, wo das war.

»Die Hütte steht drei Meilen vom Dorf entfernt«, sagte er, »ein Teil des Wegs ist Privatstraße. Es liegt an einem Privatsee. Little Fawn Lake. Wir haben dort zu dritt einen Damm aufschütten lassen. Ich teile mir das Gelände mit zwei anderen. Es ist recht groß, aber nicht erschlossen, und wird es jetzt natürlich auf absehbare Zeit auch nicht mehr werden. Meine Freunde haben ein kleines Haus, ich habe eines, und in einem weiteren lebt mietfrei mit seiner Frau ein gewisser Bill Chess, der dort nach dem Rechten sieht. Kriegsversehrt, mit Invalidenrente. Mehr gibt es da oben nicht. Meine Frau ist Mitte Mai raufgefahren, war übers Wochenende zweimal wieder hier unten, hätte am 12. Juni auf eine Party kommen sollen, ist aber nie aufgetaucht. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Was haben Sie unternommen?«, fragte ich.

»Nichts. Überhaupt nichts. Ich bin nicht mal raufgefahren.« Er schwieg und wartete, dass ich Warum fragte.

»Warum?«, fragte ich.

Er schob seinen Sessel zurück und schloss eine Schublade auf. Er holte ein gefaltetes Blatt Papier heraus und reichte es mir. Es war ein Telegramm, aufgegeben in El Paso, am 14. Juni um 9:19 Uhr. Adressiert an Derace Kingsley, 965 Carson Drive, Beverly Hills. Es lautete:

»GEHE ÜBER DIE GRENZE FÜR MEXIKANISCHE SCHEIDUNG STOP HEIRATE CHRIS STOP ADIEU UND ALLES GUTE CRYSTAL«

Ich legte das Telegramm auf meiner Seite des Schreibtischs ab, während er mir einen großen und sehr scharfen Abzug von einem Mann und einer Frau am Strand reichte, die unter einem Sonnenschirm im Sand saßen. Der Mann trug eine Badehose, und die Frau etwas, das wie ein sehr gewagter weißer Sharkskin-Badeanzug aussah. Eine schlanke Blondine, jung, wohlgeformt und lächelnd. Der Mann war ein saftiger dunkler Schönling mit kräftigen Schultern und Beinen, glänzenden schwarzen Haaren und weißen Zähnen. Die Ein-Meter-achtzig-Standard-Abrissbirne für Ehen und Familien. Gut für eine kräftige Umarmung, und sein Gesicht war schon alles, was er an Grips besaß. Er hatte eine Sonnenbrille in der Hand und lächelte gekonnt und lässig in die Kamera.

»Dies ist Crystal«, sagte Kingsley, »und das ist Chris Lavery. Sie kann ihn haben, und er kann sie haben, mir piepegal.«

Ich legte das Photo auf das Telegramm. »Okay, wo ist dann der Haken?«, fragte ich.

»Da oben gibt es kein Telefon«, sagte er, »und der Termin, zu dem sie nicht erschienen ist, war nicht wichtig. Deshalb habe ich an die Sache kaum einen Gedanken verschwendet, bis das Telegramm kam. Das war keine große Überraschung. Unsere Beziehung hat sich schon vor Jahren totgelaufen. Sie lebt ihr Leben, und ich lebe meins. Sie hat ihr eigenes Geld, und zwar reichlich. Zirka zwanzigtausend pro Jahr, aus einem Familienunternehmen, dem in Texas kostbare Bohrlizenzen gehören. Sie macht herum, und ich wusste, dass sie auch mit Lavery herummacht. Dass sie ihn heiraten will, hätte mich ein wenig überraschen können, der Mann ist einfach nur ein Gigolo. Aber bis dahin war das Gesamtbild stimmig, verstehen Sie?«

»Und dann?«

»Zwei Wochen lang nichts. Dann hat sich das Prescott Hotel aus San Bernardino bei mir gemeldet, bei ihnen in der Garage stehe ein auf Crystal Grace Kingsley unter meiner Adresse eingetragener Packard Clipper und werde nicht abgeholt, was damit wäre? Ich habe ihnen gesagt, den könnten sie behalten, und ihnen einen Scheck geschickt. Da fand ich auch nichts weiter dabei. Ich dachte, sie wäre noch nicht wieder im Lande, und wenn sie ein Auto genommen hatten, dann bestimmt das von Lavery. Vorgestern ist Lavery mir dann allerdings hier unten an der Ecke vor dem Athletic Club begegnet. Er wisse nicht, wo Crystal sei, hat er gesagt.«

Kingsley warf mir einen schnellen Blick zu und wuchtete eine Flasche und zwei Rauchglas-Gläser auf den Tisch. Er schenkte zwei Drinks ein und schob mir einen hin. Er hielt seinen gegen das Licht und sagte langsam: »Lavery hat gesagt, er sei nicht mit ihr auf und davon, habe sie zwei Monate nicht mehr gesehen, habe mit ihr nicht den leisesten Kontakt gehabt.«

Ich sagte: »Und Sie haben ihm geglaubt?«

Er nickte, runzelte die Stirn, trank und schob das Glas zur Seite. Ich nahm einen Schluck aus meinem. Es war Scotch. Kein besonders guter.

»Wenn ich ihm geglaubt habe«, sagte Kingsley, »– was vermutlich ein Fehler war –, dann nicht, weil er besonders vertrauenswürdig ist. Ganz im Gegenteil. Sondern gerade weil er ein charakterloses Arschloch ist, der es schick findet, anderer...