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Ein Engel über deinem Grab - Ein Fall für Tamara Hayle

Ein Engel über deinem Grab - Ein Fall für Tamara Hayle

Valerie Wilson Wesley

 

Verlag Diogenes, 2021

ISBN 9783257612288 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

13,99 EUR


 

»Bist du das, Tamara?«, fragte die Stimme am Telefon. Ich hatte ihn sofort erkannt, gab aber keine Antwort. DeWayne Curtis war der allerletzte Mensch, mit dem ich an diesem Sonntagmorgen reden wollte, zumal ich noch gar nicht aufgestanden war.

»Bist du das?«, fragte er noch einmal.

»Wer soll es denn sonst sein? Du hast doch meine Nummer gewählt, oder nicht?«, sagte ich schließlich.

»Ich muss mit dir reden, Tamara. Es ist dringend. Ich bin in einer Telefonzelle unten am Parkway.«

»Was?!«, schrie ich entsetzt in den Hörer und stützte mich im Kissen auf. Dass DeWayne Curtis nach wie vor meinte, ich hätte mich stets nach seinen Bedürfnissen zu richten, machte mich nach wie vor wütend. Als ich ihn vor fünfzehn Jahren kennengelernt und geheiratet hatte, war ich jung und dumm genug, seine überhebliche Selbstsucht für Charakterstärke zu halten. Inzwischen war ich klüger geworden. »Was willst du von mir?«, fragte ich, ohne Höf‌lichkeit vorzutäuschen. Unser Sohn Jamal war in seinem Zimmer und schlief vermutlich noch, da brauchte ich meine wahren Gefühle nicht zu verbergen; ich konnte mit DeWayne reden, wie es mir passte. »Sag, was du von mir willst, und lass mich ansonsten in Ruhe.« Ich wollte mir ganz in Gedanken eine Zigarette aus der Nachttischschublade nehmen, wo sie früher immer lagen, dabei hatte ich doch vor einem halben Jahr aufgehört. Alles nur wegen DeWayne.

»Ich muss mit dir reden«, wiederholte er, diesmal noch dringlicher. »Es ist etwas passiert, und ich muss mit irgendwem darüber sprechen. Ich muss zu dir kommen, Tammy.«

Aha, jetzt bin ich wieder Tammy, dachte ich. Also ist es ernst. Er hatte mich nicht mehr Tammy genannt, seit ich ihn verlassen hatte. Eine Weile sagte ich gar nichts; ich wollte ihn warten lassen. Draußen regnete es; ich hatte noch nicht die Augen geöffnet, als ich schon hörte, wie die Tropfen gegen die Scheibe des Dachfensters schlugen, das ich letzten Sommer einbauen ließ. Irgendwie freute mich der Gedanke, dass DeWayne Curtis da draußen im Regen stand und wartete, bis ich zu einem Entschluss kam. Eigentlich hatte ich an diesem Morgen zu nichts richtig Lust gehabt, als – friedlich und ungestört – im Bett zu bleiben und mir höchstens den Kopf zu zerbrechen, ob ich eine Kanne von dem Blue-Mountain-Kaffee aufsetzen sollte, den ich von meinem alljährlichen großkotzigen Ausflug nach Negril mitgebracht hatte, oder ob ich mal von meiner Koffeinsucht lassen und mir eine Tasse Red-Zinger-Tee aufbrühen sollte.

»Tammy«, sagte DeWayne noch einmal. Ich stieß einen Seufzer aus. »Tammy, Terrence ist gestern gestorben. Terrence ist tot.«

»Grundgütiger Himmel.« Ich setzte mich auf. »Lass mir ein paar Minuten Zeit, damit ich mir was anziehen kann, DeWayne, und dann komm her.«

Ich legte auf, blieb noch einen Moment so sitzen und dachte darüber nach, was er mir da eben erzählt hatte. Bei dem Leben, das der Junge führte, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, dass er zu Tode kam, aber ich konnte mir auch vorstellen, wie DeWayne jetzt zumute war. Was Frauen anging, war er ja ein verdammtes Schwein, aber seine Söhne liebte er und sorgte auch für sie. Der einzige Zug an ihm, den ich wirklich achtete. Nichts hätte ihn schlimmer treffen können, das wusste ich.

DeWayne hatte vier Söhne von verschiedenen Frauen, darunter Jamal, den ich ihm geschenkt hatte. Der sechzehnjährige Hakim stand Jamal altersmäßig am nächsten, und ich hatte ihn in den fünf Jahren, die wir zusammen waren, mit großgezogen, aber die beiden anderen kannte ich im Grunde gar nicht. Gerard war ich ein paarmal begegnet; das war der, den DeWayne mit seiner weißen Frau Emma hatte. Terrence, den gerade verstorbenen Sohn von seiner ersten Frau, hatte ich noch seltener gesehen. Soweit ich das beurteilen konnte, waren Terrence wie Gerard die typischen Verlierer: Terrence hatte sich mit Crack eingelassen, und Gerard hatte immer etwas Bösartiges an sich und so ein verrücktes Glitzern in den Augen, als wollte er lieber eine Uzi rausziehen und einen abknallen, als anständig Guten Tag zu sagen. Mit fortschreitendem Alter waren DeWaynes Gene offenbar besser geworden; Jamal und Hakim machten sich beide gut.

Ich versuchte mich zu besinnen, wann ich Terrence das letzte Mal gesehen hatte, aber es wollte mir nicht einfallen. Ich hatte ihn nur als Kind in Erinnerung. Bei unserer ersten Begegnung kam er uns besuchen, als ich mit Jamal aus dem Krankenhaus heimkehrte. Da war er ein achtjähriger Junge mit großen Augen und wusste genau, dass seine Mama Delores mich aus tiefster Seele hasste, aber er brachte seinem neuen Brüderchen trotzdem ein Album von Grandmaster Flash and the Furious Five und eine Flasche Apfelsaft mit. Er war linkisch und dürr, und ich konnte weder eine Ähnlichkeit mit seinem Daddy bei ihm erkennen noch mir vorstellen, ob mein Sohn ihm in irgendeiner Weise gleichen würde. Wer weiß schon, was einem Kind im Laufe des Lebens alles widerfahren wird. Ich habe keine Ahnung, wann Terrence auf die schiefe Bahn geraten ist und sich mit Crack eingelassen hat und warum er im Leben so viel mitmachen musste. Aber mit zweiundzwanzig zu sterben, das hatte er nicht verdient – kein Mensch hat das verdient.

»Hey, Ma, kannst du mir ein paar Dollar geben?« Mit dieser Frage durchbrach Jamal meine Gedankengänge; er war mit einem Satz in meinem Zimmer und ließ sich zu mir aufs Bett plumpsen. Allem Anschein nach war er im Laufe des Sommers ganze dreißig Zentimeter in die Höhe geschossen, aber noch nicht recht in seinen Körper hineingewachsen. Er lief herum wie ein Giraffenbaby, bestand praktisch nur aus langen staksigen Beinen, hatte aber immer noch ein Kindergesicht, woran auch der Anflug eines Schnurrbarts nichts ändern konnte. Wenn ich ihn anschaute, sah ich immer meinen toten Bruder Johnny vor mir.

»Ich muss mit dir reden«, sagte ich. Er sah mir in die Augen, und der Ausdruck von Angst huschte über sein Gesicht.

»Was ist denn?«

»Dein Daddy hat eben angerufen. Terrence ist gestern gestorben.«

Er sagte nichts, doch seine Augen füllten sich mit Tränen, und er schaute rasch weg, damit ich sie nicht bemerkte. Er sah seine beiden älteren Brüder nur etwa ein, zwei Mal im Jahr, sprach aber immer liebevoll von ihnen – er stellte sich wohl vor, sie hätten eine Beziehung miteinander, wie er sie sich wünschte. DeWaynes Frauen und die Kinder, die er mit ihnen hatte, lebten in einer anderen Welt als wir, doch für Jamal waren diese Welten anscheinend miteinander verbunden. Für ihn waren die nicht vorhandenen Blutsbande zwischen ihm und seinen Brüdern ganz besonders stark.

»Wie ist er gestorben?«, fragte er, ohne mich anzusehen.

»Crack«, sagte ich. Genau wusste ich es nicht, nahm jedoch an, dass ihn das umgebracht hatte. »Hat dein Daddy dir erzählt, dass Terrence Crack nimmt?«

Jamal nickte. Ich hatte keine Ahnung, was DeWayne ihm erzählte und was nicht, und ich fragte nur selten. Ihre Erziehung war ihre Sache, ich hielt mich da möglichst heraus. DeWayne war ein Schwein, und ich konnte nur hoffen, dass diese schlichte Wahrheit Jamal, wenn er sie schließlich entdeckte, nicht so nahegehen würde wie mir damals.

Ich nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an mich, und er versuchte sich nicht loszureißen. Körperlich war er jetzt erwachsen, und der Unterschied zu dem kindlichen Körper von vor einem Jahr versetzte mir einen kurzen Schock. Mit seinen vierzehn Jahren hielt er sich für einen Mann und trat bisweilen auch so auf, doch ich sah noch immer den kleinen Jungen in ihm. Einen Augenblick später machte er sich los.

»Ist es noch lang bis zu … zu der Beerdigung? Ich möchte mich von ihm verabschieden.« Seine Stimme überschlug sich, jetzt kam das Kind zum Vorschein.

»Dein Daddy kommt in ein paar Minuten vorbei, da kannst du ihn fragen, was er arrangiert hat.« Er nickte und ging in sein Zimmer, und ein paar Minuten später dröhnte die Stimme von Ice Cube hinter der geschlossenen Tür hervor.

Ich zog Jeans und das T-Shirt von der Howard University an, das ich mir letztes Mal in Washington gekauft hatte, ging in die Küche und machte mir eine Kanne mit starkem jamaikanischem Kaffee. Dann setzte ich mich an den Küchentisch und schaute hinaus in den Regen.

 

Drei Dinge im Leben liegen mir am Herzen: meine Unabhängigkeit, mein Sohn Jamal und mein Seelenfrieden. DeWayne Curtis hatte die Macht, mir zwei davon zu versauen. In den letzten Jahren habe ich einige seelische Belastungen aus meinem Leben verbannen können: Ich war nämlich mal bei der Polizei. Der eine oder andere würde vielleicht sagen, dass ich den Unverschämtheiten nicht gewachsen war, die ich mir da – als Schwarze, als Frau – gefallen lassen sollte, und da mag durchaus etwas dran sein. Ich wusste, wer ich bin, und wollte mich denen zuliebe nicht ändern. Vor fünf Jahren habe ich gekündigt, und die Detektei Hayle Investigative Services, Inc., wurde geboren. Seither mache ich vieles anders. Früher habe ich geraucht; jetzt kaue ich Kaugummi. Ich esse kein Schweinefleisch mehr (außer den Grillrippchen am Nationalfeiertag) und halte mich nach Möglichkeit von DeWayne Curtis fern. Doch Blut ist dicker als Wasser, wie mein Bruder Johnny zu sagen pflegte. Als der starb, war ich zwanzig, und darum hab ich wohl auch mit einundzwanzig DeWayne geheiratet. Alles nur aus lauter Kummer.

Jetzt bin ich über dreißig und damit zu alt, es einfach hinzunehmen, wenn mir etwas oder jemand den ganzen Tag verderben will. Und doch taucht DeWayne wie ein Stehaufmännchen immer wieder in meinem Leben auf, und ich kann auch gar...