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Ostseekreuz - Pia Korittkis siebzehnter Fall

Ostseekreuz - Pia Korittkis siebzehnter Fall

Eva Almstädt

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2022

ISBN 9783751720656 , 414 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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1. Kapitel


»Bist du bereit?« Broders löste den Anschnallgurt. Er klang besorgt, schien aber auch auf der Hut vor ihr zu sein. Zu Recht: Pia Korittki, Kriminalhauptkommissarin bei der Lübecker Bezirkskriminalinspektion, war kurz davor, ihm den Kopf abzureißen. Seit sie nach ihrer Entführung durch einen entflohenen Straftäter wieder im Dienst war, hatten ihre Kollegen nichts Besseres zu tun, als sich fortlaufend nach ihrem Befinden zu erkundigen. Das war nicht hilfreich.

»Klar bin ich das«, antwortete sie. »Los, komm. Nicht, dass der Tote dadrinnen es eilig hätte. Aber alle anderen warten sehnsüchtig auf uns.«

Pia stieg aus und legte den Kopf in den Nacken. Sie blickte an der Fassade des Hochhauses hinauf und zählte vierzehn Stockwerke. An diesem windigen, grauen Novembervormittag waren in der näheren Umgebung kaum Menschen zu sehen. Weder auf den Fußwegen noch auf dem Parkplatz oder in dem eingezäunten Areal des Spielplatzes. Dem Schaukelgerüst fehlten die Schaukeln, dafür parkte ein Einkaufswagen mit zwei leeren Bierflaschen darin neben der Sandkiste.

Auf dem Weg zum Hauseingang passierten Pia und Broders die Zufahrt zur Tiefgarage. Die rauen Betonwände fielen hinter einer Brüstung fast vier Meter in die Tiefe. Sie waren dunkelgrün von Algen, Moos und Flechten. Unkraut klammerte sich in Ritzen, Laub verrottete auf dem Fußweg in ausgedehnten Pfützen. Wie lange es wohl dauern würde, bis sich die Natur so ein Gebäude vollständig zurückerobert hatte? Bei toten Tieren und Menschen ging es schnell. Ein Leichnam begann schon nach wenigen Minuten, sich zu zersetzen.

Pia atmete tief durch. Ihre erste Leichensache nach der »Stunde null«, wie sie ihre Befreiung aus den Händen eines rachsüchtigen Straftäters im Stillen nannte. War sie schon wieder dafür bereit? Sie musste es sein. Das war nun mal ihr Job bei der Polizei.

Sie blickte in das blasse Gesicht eines jungen Uniformierten, der unter dem Vordach des Eingangs auf sie wartete. Das dunkelblonde Haar, das unter seiner Polizeimütze hervorguckte, war trotz der niedrigen Temperaturen nass geschwitzt.

Er führte sie ins Treppenhaus und dann eine Betontreppe hinunter in den Keller. Sie liefen einen Gang entlang. Die Mauern waren weiß getüncht, unterbrochen nur von Brettertüren mit einfachen Beschlägen und Vorhängeschlössern. Auf jeder Tür prangte eine Nummer, die jemand mit Schablone und hellblauer Farbe aufgesprüht hatte. Sparsam positionierte Kellerleuchten spendeten fahles Licht.

Sie folgten dem schwachen, aber ekelhaft süßlichen Geruch, der sich dezent mit dem normalen Kellergeruch mischte. Broders hinter ihr schnaufte.

»Wir sind gleich da.« Der junge Kollege stieß eine Tür auf, die wiederum in einen ähnlichen Gang mündete. Schlagartig wurde der Geruch stärker. »Teilweise sind die Häuser unterirdisch miteinander verbunden«, sagte der Streifenpolizist.

»Das ist ja ein richtiges Labyrinth«, kommentierte Broders. Ein Stück weiter, vor einer geöffneten Brettertür, stand ein etwas älterer Kollege in Uniform. Er winkte sie zu sich, als bestünde die Möglichkeit, dass sie sich in dem Gang verpassten.

Pia nickte dem Beamten zu und betrat entschlossen den Kellerraum. Je eher sie es hinter sich brachte, desto besser. Sie blieb mitten im Raum stehen. Im ersten Moment schien noch alles in Ordnung zu sein. Es war ein normaler Kellerverschlag, beinahe leer bis auf ein paar Umzugskartons … und den leblosen Körper, der hinten in einer Ecke auf einer alten Matratze zusammengekrümmt lag. Der Geruch nach Tod und Verwesung war noch auszuhalten. Der Tote befand sich offenbar noch nicht allzu lange in diesem Verschlag. Seine Kleidung war zusammengewürfelt, zu groß für ihn und schäbig, das graue Haar strähnig. Sein Gesicht sah bereits aufgedunsen und bläulich geädert aus. Die milchigen Augen blickten starr zu der nackten Glühbirne an der Decke.

Der Anblick der Leiche war nicht angenehm, aber damit hatte Pia gerechnet. Das kannte sie. Nicht gerechnet hatte sie mit den Dimensionen, der frappierenden Ähnlichkeit des Kellerraumes mit einem anderen. Es waren die Abmessungen, die kahlen Wände, die dünne Matratze, die sie schlagartig an jenen Raum in dem Container auf dem Schiff erinnerten, in dem sie von Albrecht Lohse gefangen gehalten worden war.

»Wem gehört dieser Verschlag?«, hörte Pia Broders fragen.

Sie zwang sich, ruhig zu atmen.

»Das wissen wir noch nicht.«

»Und wo ist der Hausmeister?« Broders klang ungeduldig. Er stand jetzt direkt hinter ihr.

»Dem ist schlecht geworden, aber er kommt bald wieder runter. Er sieht gerade nach, welchem Mieter dieses Abteil gehört.«

Die Wände des schmalen Raumes bewegten sich langsam auf Pia zu.

»Und wer hat den Toten gefunden?«, hakte Broders nach.

Pia blickte sich zu ihm um. Auch die Decke schien sich auf sie herabzusenken. Gleichzeitig wichen die beiden Männer wie von unsichtbaren Seilen gezogen vor ihr zurück. Das bildete sie sich doch nur ein, oder? Sie kniff die Augen zusammen.

»Der Hausmeister hat den Raum aufgeschlossen, weil er etwas gerochen hat«, sagte der ältere Uniformierte.

»Besser spät als nie«, antwortete Broders. Die Stimmen der beiden Männer klangen wie aus weiter Ferne.

Neben der Matratze, auf der die Leiche lag, stand eine Mineralwasserflasche. Genau wie … Pia riss sich von dem Anblick los und wandte sich um. Broders schien immer noch vor ihr zurückzuweichen. Pia brach der Schweiß aus.

»Halt!« Sie konnte nicht allein in diesem Raum bleiben! »Warte doch, Broders!« Pia wollte in Richtung Tür gehen, doch es fühlte sich so an, als watete sie durch Schlamm. Das helle Rechteck, der noch offene Ausgang, verkleinerte sich. Die Männer waren schon weit weg. Sie starrten sie verblüfft an. Die niedrige Kellerdecke und der Boden bewegten sich nun wellenartig auf Pia zu. Sie gab sich einen Ruck und stolperte aus dem Verschlag und hinaus in den Gang. Nur raus hier!

Pia stützte sich an der Wand ab. Die Tür eines weiteren Kellerabteils schlug auf. Ein Mann trat heraus und starrte sie an. Er war groß und dünn, mit kantigem Gesicht und dunkelblonden Haaren. Sein Gesicht verzog sich spöttisch. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief weg.

»Stopp! Bleiben Sie stehen!«

Pia rannte los. Floh sie, oder verfolgte sie ihn? Die Anspannung, die sich in ihr aufgestaut hatte, ließ sie förmlich vorwärtsfliegen. Der Boden bewegte sich unter ihr wie auf einem Schiff bei starkem Seegang.

Nach wenigen Metern hatte sie den Flüchtigen eingeholt. Pia bekam seine Kapuze zu fassen. Er strauchelte und versuchte, sich des Kleidungsstücks zu entledigen. Pia packte erneut zu, riss ihn herum. Er stieß sie von sich, doch sie hielt ihn fest. Er durfte ihr nicht entkommen, nicht ein zweites Mal! Sie kämpfte verbissen. In ihren Ohren rauschte es. Dann verlor sie das Gleichgewicht und riss den Flüchtenden mit sich. Sie landeten hart auf dem Betonboden.

Er war nah, viel zu nah. Sie roch den Atem des Mannes, spürte seine Hände auf ihren Armen, sein Gewicht auf ihrem Körper. Es schüttelte sie. Pia bekam seinen Arm zu fassen und drehte ihn herum.

»Pia! Lass ihn los!«, rief Broders nah an ihrem Ohr. Starke Hände zogen sie weg, zerrten sie hoch und drückten sie gegen die Wand.

Pia schloss kurz die Augen, riss sie wieder auf. Der Mann, den sie überwältigt hatte, hielt sich stöhnend und jammernd den Arm.

Ihre Kollegen standen bei ihr und sahen sie ratlos an. Sie schüttelte irritiert den Kopf.

Der Mann, den sie verfolgt und festgesetzt hatte, war ein ihr vollkommen Unbekannter. Er war um die zwanzig Jahre alt, ein eher schwächlicher Typ, der sicher keine sechzig Kilo wog. Aus seiner Nase flossen Rotz und Blut. Er wischte beides weg. Dann betrachtete er seinen Handrücken und sah sie anschließend von unten herauf an. »Was sollte das?« Er schien mehr verwundert als empört zu sein. Dann wandte er sich an Broders: »Ist die verrückt, oder was?«

»Du kannst froh sein, dass du keine Anzeige wegen Körperverletzung bekommst.« Pias Vorgesetzter, Manfred Rist, bedachte sie mit einem besorgten Blick. »Was ist denn da bloß in dich gefahren?«

»Ich habe einen Tatverdächtigen verfolgt, der sich in einer Leichensache einer Befragung entziehen wollte.« Sie saßen sich in Rists Büro im K1 der Lübecker Bezirkskriminalinspektion gegenüber. »Er ist vor mir weggelaufen«, ergänzte sie schwach.

»Tatverdächtig? Der Tote, wegen dem ihr dort wart, lag seit mehreren Tagen da unten. Höchstwahrscheinlich hatte er nur dort Unterschlupf gesucht und dann einen Herzinfarkt bekommen. Und als dir im Kellergang ein harmloser Mieter entgegenkommt, rennst du ihm hinterher, wirfst ihn zu Boden und kugelst ihm beinahe den Arm aus?«

»Harmloser Mieter? Er hat sich meinem Zugriff massiv widersetzt. Warum?«

»Mein Gott, Pia! Du bist ihn massiv angegangen.«

»Okay. Ich hatte mich getäuscht. Die Situation ist kurzzeitig außer Kontrolle geraten. Das wird nicht noch einmal vorkommen.« Shit! Selbst in ihren eigenen Ohren klang das nicht gut.

»Nein. Das wird es nicht.« Rist betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf. Er hielt einen Kugelschreiber in der Rechten. Mit dem Daumen drückte er die Mine rein und raus. Das war eine nervende Angewohnheit von ihm, die Pia samt dem klickernden Geräusch wohlvertraut war. Heute jedoch kostete es sie beinahe übermenschliche Kraft, ihm den Stift nicht aus der Hand zu reißen. »Mein Gott, was ist denn da bloß in dich gefahren, Pia?«, wiederholte Rist seine Frage.

In dem...