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Tête-à-Tête - Der vierzehnte Fall für Bruno, Chef de police

Tête-à-Tête - Der vierzehnte Fall für Bruno, Chef de police

Martin Walker

 

Verlag Diogenes, 2022

ISBN 9783257612813 , 400 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

Die drei Schädel zogen ihn in ihren Bann. Der eine war ein Originalschädel, rund 70000 Jahre alt, aber nicht ganz vollständig. Daneben befand sich eine Rekonstruktion, eine genaue Kopie, die man um die fehlenden Teile an Kiefer und Schädelkapsel nachträglich ergänzt hatte. Hinter den Exponaten, von der Beleuchtung raffiniert in Szene gesetzt, war ein künstlerischer Versuch einer Nachbildung des Gesichts, das zu dem Schädel gehört haben mochte. Es schimmerte schaurig. Vielleicht war es eine optische Täuschung, hervorgerufen durch das Licht, das das Gesicht größer erscheinen ließ. Zögernd richtete Bruno Courrèges den Blick zurück auf das Original, von dem es in einer Erklärung auf der Hinweistafel hieß, dass es sich um den besterhaltenen Neandertaler-Schädel handele. Er stammte aus der Felsgrotte La Ferrassie, an der Bruno tagtäglich auf dem Weg zur Arbeit im Bürgermeisteramt von Saint-Denis vorbeikam. Von dort aus übte er nun schon zehn Jahre seinen Dienst des chef de police für die Stadt und Umgebung aus.

Die Region verfügte über einen außergewöhnlichen Schatz an prähistorischen Zeugnissen wie Höhlenmalereien oder Stoßzähnen von Mammuten. Bruno begeisterte sich zunehmend dafür und wollte jetzt unbedingt alle bekannten Höhlen und abris im weiteren Umkreis mit eigenen Augen sehen. Außerdem war er regelmäßiger Besucher des Prähistorischen Museums von Les Eyzies, das ganz in der Nähe seines Zuhauses lag und in dem er gerade war. Das nachgebildete Gesicht brachte ihn ins Grübeln. Es ließ ihn an die seltsame Obsession seines Freundes Jean-Jacques hinsichtlich eines anderen, sehr viel jüngeren Schädels denken. Bruno kannte diesen Schädel, zumal eine vergrößerte Fotografie davon Jean-Jacques’ Aufstieg zum ersten Ermittler für das Departement Dordogne begleitet hatte. Seit mittlerweile dreißig Jahren wanderte das Bild in jedes neue Büro mit, das Jean-Jacques bezog. Jetzt hing es an der Tür; so hatte er von seinem imposanten Schreibtisch aus – dem Standardrequisit eines Beamten seines Ranges – den Schädel jederzeit im Blick. Seine Kollegen rätselten häufig, weshalb Jean-Jacques ständig an seinen ersten großen Fall erinnert werden wollte, den er als junger Polizist nicht hatte aufklären können.

Jean-Jacques behauptete, nicht mehr zu wissen, warum er den Schädel »Oscar« getauft hatte, dabei kannte jeder Polizist im Südwesten Frankreichs die Geschichte. Ein Trüffelsammler, der mit seinem Hund die Wälder in der Nähe von Saint-Denis durchstreift hatte, war auf einen Baum gestoßen, den ein Sturm gefällt und in einen Bach hatte stürzen lassen. Die vom Stamm umgelenkten Fluten hatten an einer Böschung Erde weggeschwemmt, unter der etwas freigespült worden war, das der Hund des Sammlers aufgespürt hatte: einen menschlichen Fuß, halb verwest und von Tieren angeknabbert. Der Sammler hatte Joe angerufen, Brunos Vorgänger als Stadtpolizist von Saint-Denis, worauf dieser nach Sichtung des Fundes die Police nationale in Périgueux eingeschaltet hatte. Jean-Jacques, ihr jüngster Beamter, wurde mit den Ermittlungen betraut.

Entschlossen, sich mit diesem unerwarteten Fall einen Namen zu machen, war Jean-Jacques zum Fundort geeilt, hatte ihn abgesperrt und Schaufeln, einen Fotografen der Mairie und die Hilfe der örtlichen Gendarmerie angefordert. Mit deren tatkräftiger Unterstützung barg er vorsichtig die Überreste eines jungen Mannes mit langen blonden Haaren und makellosen Zähnen. Er war mit einem T-Shirt bekleidet, auf dem immer noch das verblichene Logo einer vergessenen Rockband zu erkennen war. Körpereigene Bakterien, Insekten und Mikroben hatten etwa ein Jahr lang, wie die Rechtsmedizin vermutete, ganze Arbeit geleistet. Dass die Leiche offenbar gezielt versteckt worden war, hatte Jean-Jacques auf ein Tötungsdelikt schließen lassen.

Zum Schrecken der anwesenden Gendarmen hatte Jean-Jacques Latex-Handschuhe angezogen und die Leiche vorsichtig von der Erde befreit. Inzwischen war auf seine Veranlassung ein Gabelstapler von einem nahe gelegenen Betriebshof eingetroffen, der mithilfe eines ein mal zwei Meter großen Stahlblechs die Leiche auf vier bereitliegende Holzpfosten hob, worauf der Körper von acht Gendarmen abtransportiert und auf dem unterhalb gelegenen Campingplatz zwischengelagert wurde. Von dort brachte ein Transporter den Toten zur Autopsie ins Leichenschauhaus von Périgueux.

Derweil hatte Jean-Jacques mehr als eine Stunde damit verbracht, den Fundort nach eventuellen Spuren abzusuchen, nach einem Geschoss etwa oder einer Patrone. Doch selbst die Hilfe von Freiwilligen vom örtlichen Jagdverein und Gendarmen mit Metalldetektoren blieb erfolglos. Gefunden wurden nur zwei kleine Feuerstellen, die kreisförmig mit Steinen umgeben waren, und aufgewühlte Erde an einer Stelle, die, wie sich herausstellte, als Latrine genutzt worden war. In der Nähe der Fundstelle befand sich ein wilder Campingplatz, das, was Franzosen le camping sauvage nannten und wo man für kurze Zeit kostenlos zelten konnte.

DNA-Analysen waren damals noch unbekannt, und so standen Jean-Jacques nur die herkömmlichen Ermittlungsmethoden zur Verfügung. Er stand mit am Seziertisch, als das, was von dem Toten übrig geblieben war, nach allen Regeln der forensischen Kunst untersucht wurde, und taxierte mit eigenen Augen jede Rippe, weil er hoffte, Spuren eines Messerangriffs oder dergleichen entdecken zu können. Letztlich blieb die Obduktion jedoch ergebnislos. Frustriert wandte sich Jean-Jacques an den mit diesem Fall betrauten Staatsanwalt und überredete ihn zu einer letzten, verzweifelten Maßnahme. Er kauf‌te einen großen Topf, den er aus eigener Tasche bezahlte, trennte den Kopf der Leiche ab und ging damit in die Küche des Präsidiums, wo er nach einem Campingkocher verlangte. Im Innenhof kochte er daraufhin den Schädel aus, bis alles Gewebe von ihm abgefallen war.

Das Ganze dauerte ziemlich lange, und der Geruch, der sich dabei entwickelte, griff schnell auf die umliegenden Gebäudeteile über. Anfangs nur neugierig, reagierten Kollegen und all diejenigen, die sich in der Nähe aufhielten, zunehmend entsetzt. Schließlich wurden auch zwei Reporter der Lokalpresse darauf aufmerksam, die ihr Büro neben dem Präsidium hatten. Der Gestank war durchdringend, blieb aber zum Glück auf die unmittelbare Nachbarschaft begrenzt. Gleichwohl beschwerten sich bald betroffene Ladenbesitzer, und schließlich verlangten der Bürgermeister und der Präfekt nach einer Erklärung. Beide trugen eine Mund-Nasen-Maske, die mit einer mentholhaltigen Flüssigkeit getränkt war. Als sie im Präsidium eintrafen, hatte sich über den Lokalsender bereits die Nachricht verbreitet, dass die Polizei eine Leiche kochen würde.

Während sich die Verärgerung unter den Kollegen hochschaukelte, wurde Jean-Jacques ins Büro des Polizeipräsidenten zitiert, wo er seine Vollmacht zur Präparierung des Schädels vorlegen konnte. Sie war unterzeichnet vom Staatsanwalt, der allerdings eine von langer Hand geplante Wochenendreise zu seinen Eltern in der Bretagne angetreten hatte, und weil es damals noch keine Handys gab, war es nicht möglich, ihn gleich zu erreichen. Der Polizeipräsident erklärte darauf hin, dass er dringenden Geschäften in der Polizeistation von Bergerac nachkommen müsse, und verabschiedete sich. Inzwischen waren Bürgermeister Gérard Mangin und der Präfekt mit dem Stellvertreter des Polizeipräsidenten zusammengekommen, der von der Vollmacht des Staatsanwalts Kenntnis hatte und den beiden gegenüber einräumen musste, dass er in dieser Angelegenheit nichts weiter tun könne. Sein jüngster Mitarbeiter sei nun einmal mit den Ermittlungen betraut worden und lasse nichts unversucht, um den Mord aufzuklären.

»Sie hätten wenigstens darauf bestehen sollen, dass diese unappetitliche Maßnahme in irgendeinem entlegenen Winkel vorgenommen wird und nicht hier, mitten in der Stadt«, sagte der Bürgermeister mit ausdrucksloser Miene, die so sehr im Widerspruch zur Schärfe seines Protests stand, dass der stellvertretende Amtsleiter des Präsidiums verunsichert um eine Wiederholung des Gesagten bitten musste. Schließlich führte er die beiden bedeutenden Herren – der eine repräsentierte die Stadt Périgueux, der andere die Französische Republik – in den Innenhof, in den auch Jean-Jacques zurückgekehrt war, wo er, umweht von dichten Dampfschwaden, aber vom Gestank offenbar unbeeindruckt, erneut in seinem Topf rührte.

Mangin ging auf ihn zu und drehte den Gashahn des Campingkochers ab. Im selben Augenblick zog Jean-Jacques den mittlerweile kahlgekochten Schädel mit einer großen Zange aus dem Topf und schwenkte ihn seinen Besuchern entgegen, die nervös zurückwichen. Mit stolzer Miene verkündete er: »Na bitte, hab ich’s mir doch gedacht. Sehen Sie selbst, Messieurs. Er wurde erschlagen. Wegen der starken Verwesung haben wir es auf den ersten Blick nicht sehen können.«

Der Bürgermeister, der Präfekt und der stellvertretende Polizeipräsident musterten die Bruchstellen im rechten Schläfenbein des weiß schimmernden Schädels, als zwei Nachrichtenreporter mit gezückten Notizbüchern den Hof betraten.

»Wir suchen einen Täter, der Linkshänder ist«, fuhr Jean-Jacques fort, der schon als Junge den detektivischen Spürsinn von Sherlock Holmes bewundert und beschlossen hatte, selbst Polizist zu werden. »Wie man an den Rissen im Knochen sehen kann, stand er seinem Opfer gegenüber und hat von der linken Seite zugeschlagen.«

»Hätte man das nicht auf elegantere Weise herausfinden können, vielleicht mithilfe von...