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Im Augenblick der Angst - Thriller

Marcus Sakey, Tamara Rapp

 

Verlag Heyne, 2012

ISBN 9783641053826 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

2


Vor lauter Regen und Akronymen konnte Tom Reed nicht schlafen.

Der Regen war nicht echt. Er kam aus dem kleinen Gerät auf Annas Nachttisch. Im Grunde klang es kaum nach Regen, eher wie statisches Rauschen, aber sie behauptete, dass sie damit besser schlafen konnte. Tom hatte nichts dagegen, obwohl er jedes Mal in sich hineinlächelte, wenn sie das Ding auch bei richtigem Regen einschaltete. Regen aus einer Maschine, um den Regen auf der Fensterscheibe zu übertönen, genau wie die dicken Vorhänge, die das Tageslicht aussperrten, damit der Wecker den Sonnenaufgang simulieren konnte. Wie hatten sie vor Jahren gelacht, als sie feststellten, dass sie den Kampf gegen die Yuppieexistenz aufgegeben hatten, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern.

Aber der Regen war nicht das eigentliche Problem. Sondern die Akronyme.

KW. SST. IUI. IVF. ICSI.

Zu Beginn waren sie ihnen amüsant erschienen, wenn auch etwas geziert: KW für Kinderwunsch, SST für Schwangerschaftstest. Anna hatte eine ganze Gemeinschaft im Netz aufgetan, Tausende Frauen, die sich auf Fruchtbarkeitsseiten über ihre Geschichten austauschten und in Foren intimste Details preisgaben. Da wurden Basaltemperaturen analysiert, da wurde die Konsistenz von Zervixschleim unter die Lupe genommen wie Teeblätter bei der Wahrsagerin. Durch diese Webseiten hatte sich Anna besser gefühlt – sie gaben ihr etwas, das Tom ihr offenbar nicht geben konnte. Damals tauchten die ersten Akronyme in ihrem Leben auf.

Die späteren kamen von den Ärzten – und sie waren weder amüsant noch geziert, sondern grausam und kostspielig. Tom rollte sich vorsichtig auf die Seite, um Anna nicht zu wecken. Früher hatten sie eng aneinandergeschmiegt geschlafen, die Hitze ihres Rückens an seiner Brust, der Geruch ihres Haars in seiner Nase. Zwei Körper, die zusammenpassten wie Legosteine. Manchmal hatte er das Gefühl, dass das lange, sehr lange her war.

IUI. Intrauterine Insemination.

Er versuchte, an die Arbeit zu denken, an ihre klar umrissene, todlangweilige Banalität. Vor seinem inneren Auge erschien sein Büro, zwei Komma fünf auf drei Meter, weißer Hängeboden unter der Decke, ein metallener Modul-Schreibtisch und ein schmales Fenster, in dem er bloß sein eigenes Spiegelbild sah, zurückgeworfen von der Glasfront des benachbarten Wolkenkratzers. Das Meeting um halb zehn fiel ihm ein, das er unweigerlich verpassen würde, und die Seufzer der anderen klangen ihm schon in den Ohren. Er versuchte abzuschätzen, wie viele E-Mails wohl auf ihn warten würden, wenn er es endlich in die Arbeit schaffte.

IVF. In-Vitro-Fertilisation.

Das schwache Licht, das sich an den Vorhängen vorbeizwängte, glänzte silbern. Die Uhr zeigte 4:12. Es gab wenig gute Gründe, um Viertel nach vier wach zu sein. Klar, mit Mitte zwanzig war das was anderes gewesen: Samstagabend, er und Anna und die alte Truppe, leuchtende Kerzen, das Bier längst alle, Leonard Cohen auf dem Plattenspieler, ein letzter Joint macht die Runde, während die anderen nach und nach aneinandersinken und einschlafen, auf den alten Sofas vom Flohmarkt. In Toms Jugend hatte Viertel nach vier noch einen Sinn ergeben.

Mit fünfunddreißig war Viertel nach vier ein Moment, den man lieber verschlafen sollte. Nur aus einem einzigen Grund konnten Leute seines Alters dazu tendieren, um Viertel nach vier wach zu sein.

WZ. Wartezeit. Zwei Wochen, die heute endeten.

 

Anna spürte, wie das Bett nachgab, als Tom sich auf die andere Seite rollte. Es knarrte leise, während er das Gesicht im Kissen vergrub und ein schwaches Stöhnen ausstieß. Wie konnte er jetzt nur schlafen? Ihre Gedanken waren laut genug, um den aufgenommenen Regen zu übertönen – Anna war erstaunt, dass er sie nicht hören konnte, dass er nicht antwortete, als ob sie laut gesprochen hätte.

Das ist es. Dieses Mal ist es so weit.

Ich werde Mutter sein.

Bitte, Gott, mach, dass es so weit ist.

Aber…

Diese Krämpfe kommen mir bekannt vor, schrecklich bekannt.

Bitte nicht PMS, bitte.

Ich schaff das nicht nochmal.

 

Das Schlimmste an IVF war, dass sie unbestreitbar schwanger war. Die Eizellen, die sie aus ihr gewonnen hatten, waren mit Toms Spermien kombiniert worden. Bei diesem letzten Zyklus hatten sie sogar auf intrazytoplasmatische Spermieninjektion zurückgegriffen, also ein einzelnes Spermium in jede Eizelle injiziert. Von den fünf Eizellen, die sie geerntet hatten, waren drei erfolgreich befruchtet worden. Drei mikroskopisch kleine Embryos. Drei Babys.

Da sie sich schon im vierten IVF-Zyklus befanden, hatten die Ärzte alle drei transferiert. Anna war also nicht einfach schwanger, sondern gleich dreifach schwanger. Echte Babys lebten in ihr. Aber sie würden nur am Leben bleiben, wenn sie sich in ihre Gebärmutter einnisteten.

Falls sie starben, war es ihre Schuld.

Hör auf, dachte sie, doch die Reaktion war selbst schon zum Mantra geworden. Eigentlich wusste sie ja, dass es nichts mit Schuld zu tun hatte. Schließlich hatte sie wirklich alles versucht: die speziellen Diäten, die Übungen, die Stellungen nach dem Sex, die Vitamine, die Hormone, die Gebete. Nichts davon beeindruckte die Stimme in ihrem Kopf, die immer weiterflüsterte, dass es für keine andere Frau der Welt ein Problem war, dass es die einfachste, grundlegendste Sache überhaupt war, dass man genauso gut beim Atmen versagen konnte, wenn man dabei versagte. Frauen wurden schwanger und bekamen Kinder. Dadurch wurden sie erst zu richtigen Frauen.

Hör auf! Dieses Mal ist es so weit. Du wirst Mutter sein.

Bitte, Gott, mach, dass es endlich so weit ist.

 

Um kurz nach sechs gab er auf. Tom schlich über den knarrenden Fußboden zum Bad und schaltete WBEZ ein, während die Dusche warmlief: Neuigkeiten vom Krieg, vom Prozess gegen den CEO eines Telekommunikationsgiganten, eine Vorschau auf Eight Forty-Eight – Steve Edwards kündigte an, über die neuesten Steuerpläne des Gouverneurs zu berichten und einen Dichter aus der Gegend zu interviewen. Alles wie immer, die vertrauten Geräusche aus den vertrauten, blechernen Lautsprechern, das stockend sprudelnde Wasser, der leicht saure Geschmack ungeputzter Zähne.

Aber heute könnte der letzte Tag deines bisherigen Lebens sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen rieb Tom sich das Shampoo ins Haar.

Nach dem Duschen rubbelte er sich schnell ab und schlug sich das Handtuch um die Hüfte. Anna lag noch immer im Bett. Auf dem Rücken, das Laken bis zum Kinn gezogen, die Hände auf dem Bauch, starrte sie auf den bewegungslosen Ventilator an der Decke.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

»Dick.«

Tom lachte. »Dick ist gut, oder?«

»Ich glaub schon.« Sie schob die Laken beiseite und setzte sich halb auf, sank aber gleich wieder mit einem Ächzen zurück.

»Bist du okay?« Sofort war er neben dem Bett, ohne überhaupt zu merken, dass er sich bewegt hatte.

Sie nickte und stützte sich mit der Hand auf. »Bloß Krämpfe.«

»Krämpfe?« Wenn sie ihre Tage hatte, stand Anna jedes Mal heftige Krämpfe aus – Tom hatte nie gedacht, dass er jemals so detailliert darüber Bescheid wissen würde, genauso wenig wie über ihre Körpertemperatur auf zwei Stellen nach dem Komma. Er sah, wie verängstigt sie war, und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das sind die Hormone.«

Anna atmete heftig durch die Nase aus und nickte. »Hast Recht.« Langsam erhob sie sich und ging Richtung Badezimmer. »Eins kann ich dir sagen, ich bin froh, wenn ich nicht mehr jeden Tag dieses Ding in mich reinstecken muss!«

Tom wartete, bis er das Wasser laufen hörte, bevor er seine Hosen und den grauen Kaschmir-Sweater anzog, den Anna ihm vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Den Wasserkocher angestellt, die Eier in die Pfanne gehauen, den Toast in den Toaster gesteckt. Alles war am Laufen, als er die Wohnungstür aufschloss, die Treppe hinunterging und hinaus in den frischen Frühlingsmorgen trat. Ein leichter Wolkenschleier schimmerte vor dem blauen Himmel, der auf einen wahrhaft strahlenden Tag hoffen ließ. Er bückte sich, um die neue Tribune aufzuheben – und erblickte Bill Samuelson, der ihn unverwandt anstarrte. Fast wäre Tom rückwärts von der Veranda gefallen.

»Großer Gott!« Tom legte die Hand auf sein klopfendes Herz. »Haben Sie mir einen Schrecken eingejagt.«

»Ist ja auch nicht allzu schwer.« Der Untermieter zog an seiner Zigarette und hielt inne, um einen Krümel Tabak auszuspucken. »Schauen Sie sich eigentlich nie um?« Seine Stimme war tief, voluminös und seidig weich, ein echter Kontrast zu seiner ansonsten ätzenden Art.

»Bin heute wohl etwas nervös.« Tom trat von einem Bein aufs andere, seine nackten Füße froren auf dem kalten Beton. Wie gern hätte er sich jetzt eine Kippe geschnorrt, aber er erinnerte sich selbst rechtzeitig daran, dass er aufgehört hatte. »War ’ne lange Nacht.«

Die Art Bemerkung, die die meisten Menschen zum Nachfragen aufgefordert hätte, zu einem ›Echt?‹ oder ›Warum? ‹. Nicht so Bill Samuelson – der sah einfach weg. Seit er in die Wohnung im Erdgeschoss ihres Hauses eingezogen war, hatten sie kaum ein Wort gewechselt. Er lebte sehr zurückgezogen, hatte anscheinend niemals Gäste und verschwand immer wieder für lange Zeit. Und jedes Mal, wenn sie sich doch zufällig begegneten, wurde er beinahe ausfallend. Aber sein Scheck landete jeden Monat pünktlich im Briefkasten, und das war für Tom das Wichtigste.

Zurück in der Küche legte Tom die...