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Die verlorene Geschichte - Roman

Rebecca Martin

 

Verlag Diana Verlag, 2012

ISBN 9783641086244 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Zweites Kapitel

Deutschland, bei Bad Kreuznach

Die nächste Kurve nahm Lea viel zu schnell. Mit knirschenden Reifen schoss der kleine Polo hinüber auf den Seitenstreifen, schleuderte und schlitterte über den Kies, während sie verzweifelt gegenlenkte. In rasender Geschwindigkeit näherte sich der steile Abhang, dahinter folgten nur noch Weinstöcke, Reihen um Reihen von Weinstöcken. Lea trat auf die Bremse, bis sie glaubte, ihr Fuß müsse durch den Boden brechen. Der Wagen scherte zur Seite aus, rutschte noch einige Meter weiter und kam endlich zu einem abrupten Halt. Lea schleuderte nach vorne. Kurz war ihr, als setze ihr Herz aus, bevor es nur noch lauter und schneller weiterhämmerte und kaum noch Luft durch die auf einmal zu enge Kehle dringen wollte. Als sie den nächsten Atemzug nahm, explodierte dieser fast in ihrer Lunge. Wie erstarrt blieb sie sitzen, dann kreuzte sie die Arme vor sich auf dem Lenkrad und presste die Stirn darauf. Ihre Haut glühte. In schnellen, kurzen Stößen konnte sie den eigenen Atem hören, ganz so, als sei sie eben noch gerannt. Ihr Mund war staubtrocken. Von einem Moment auf den anderen zitterte sie. Gleich, das wusste sie, würde sie zu weinen beginnen, dabei hatte sie doch nicht weinen wollen. Lea presste den Rücken gegen den Sitz, legte den Kopf gegen die Kopfstütze und schloss die Augen.

Ich hätte tot sein können.

Sie würgte.

Ich hätte tot sein können.

Die erste Träne rann über ihre linke Wange. Leas Unterlippe bebte, als sie gegen das Weinen ankämpfte. Sie hatte die Kurve viel zu schnell genommen, und das nur, weil sie mit den Gedanken woanders gewesen war. Bei Marc, der ihr an diesem Morgen unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass ihr Lebensplan nicht der seine war.

Ab heute würden sie getrennte Wege gehen. Es ist aus und vorbei. Ich will keinen Nachwuchs, hatte er gesagt, und ich lasse mich damit auch nicht erpressen.

Vorbei. Kein gemeinsames Kind.

Die Worte waren nicht überraschend gekommen. Es war nicht das erste Mal, dass sie beide sich über das Thema gestritten hatten. Es war auch nicht das erste Mal, dass Lea sich eingestehen musste, wie wenig sie gemein hatten. Und das nach sieben Jahren.

Sie schluckte, doch trotz aller Mühe konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Natürlich hatte sie angenommen, dass Marc anders auf den positiven Test reagieren würde, nicht so kalt, nicht so geschäftsmäßig. Und sie hatte dagestanden mit diesem dämlichen Lächeln auf dem Gesicht, während er den Test in ihrer Hand angestarrt hatte, als halte sie etwas Unappetitliches zwischen den Fingern.

Das kann doch nicht dein Ernst sein, hatte er gesagt, du arbeitest in einem Café, Lea. Du hattest noch nie eine ordentliche Arbeitsstelle, du hast nach deinem Studium nichts zustande gebracht, noch nie eine wirklich wichtige Entscheidung getroffen. Was willst ausgerechnet du mit einem Kind?

Es ist auch dein Kind, hatte sie unsicher aufbegehrt, und die beiden Striche, die sie früher am Morgen in einen Freudentaumel versetzt hatten, hatten mit einem Mal ihren Zauber verloren.

Ärgerlich fuhr Lea sich mit dem Ärmel ihrer hellen Bluse über die Augen. Heute Morgen, als sie mit dem zaghaft heller werdenden Himmel Marcs Haus verlassen hatte, hatte sie nicht geweint. Da war sie stark gewesen – und stolz darauf.

Sie setzte sich gerader auf.

Verdammt, jetzt lief auch noch ihre Nase. Und den Schluckauf spürte sie auch schon.

Lea hasste das. Sie fühlte sich dann wie ein kleines, hilfloses Kind. Tränenblind suchte sie in ihrer Tasche nach Taschentüchern, fand eines und schnäuzte sich heftig, bevor sie es zusammenknüllte und zurück in die Tasche pfefferte. Plötzlich war es ihr zu eng im Auto. Die Luft war schrecklich stickig. Sie betätigte den Türöffner, stieß ungehalten gegen die Tür, als diese sich nicht gleich öffnen wollte, und stieg mit weichen Knien aus.

Die Kälte biss an ihrer Haut. Lea stapfte die wenigen letzten Schritte bis zum Rand des Abhangs hin, wandte langsam den Blick in Richtung Senke. Die kaum aufgegangene Sonne tauchte eben erst die gegenüberliegenden Hügelkuppen in Schlieren aus Rot, Blau und Lila, während die Talsohle noch im morgendlichen Grau dalag und Nebelschwaden vom Boden aufstiegen. Von irgendwoher hörte sie einen Bus. Marc tauchte vor ihrem inneren Auge auf, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt, den Mund zu einer schmalen Linie verzogen: Ich bin kein Vater, und ich will auch keiner sein. Du kannst mich nicht zwingen.

Lea kniff die Augen zusammen.

Alleinerziehend, deine Mutter wird sich freuen, schoss es ihr durch den Kopf. Rike, die selbst keine einfache Kindheit gehabt hatte – nach dem Tod der eigenen Mutter war sie bei den äußerst strengen Großeltern aufgewachsen –, war stets auf Sicherheit bedacht. Eine ledige Mutter gehörte ganz gewiss nicht in ihre Vorstellungswelt.

Da wird sie mir aber einiges zu sagen haben, dachte Lea.

Vorerst konnte sie die Sache natürlich für sich behalten, musste als Nächstes nur einen Termin beim Frauenarzt ausmachen.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Noch einmal stahl sich Marc in ihre Gedanken, dieser Sonnyboy mit den dichten, dunkelblonden Haaren und den blaugrünen Augen, der doch eigentlich gar nicht ihr Typ war und mit dem sie doch lange gemeinsame Jahre verbracht hatte.

Sie wusste selbst nicht genau, wie das hatte geschehen können.

Leas Blick fiel wieder auf den Polo, wie er da so kurz vor dem Abgrund des Weinbergs stand.

Das war knapp, dachte sie, so verdammt knapp.

Unwillkürlich strich sie sich mit der rechten Hand über ihren noch flachen Bauch.

Wie groß dieses Wesen in ihr wohl war? So groß wie eine Erbse vielleicht, oder sah es aus wie eine kleine Bohne? Sie meinte, einmal ein solches Bild in einem Buch über Schwangerschaft gesehen zu haben.

Meine kleine Bohne.

Wieder strich Lea über ihren Bauch. Sie musste dieses Wesen schützen. Sie hatte sich doch immer Kinder gewünscht, natürlich im Rahmen einer ganz normalen Familie, aber … Ein neuer Gedanke durchströmte sie und gab ihr Kraft. Sie würde ein Kind haben, und sie würde ihm Geborgenheit schenken. Die Geborgenheit, die sie selbst als Kind vermisst hatte.

Das Morgenlicht wurde nun zunehmend kräftiger, leckte an den Spitzen der ersten Weinstöcke. Es würde langsam auch die Senke ausfüllen und mit der zunehmenden Wärme den Nebel vertreiben. Mit einem Seufzer ließ sich Lea ins Gras fallen und sah zu, wie die Sonnenstrahlen mehr und mehr von der Umgebung in Besitz nahmen. Ihre Tränen waren getrocknet. Die Taunässe kroch durch ihre Jeans. Auch ihre Füße in den grauen Wildlederballerinas waren längst feucht, aber sie schenkte dem keine Beachtung.

Es ist schön hier, dachte sie.

Sie zog die Knie an, legte die Arme darum und starrte in das Blättergewirr der Weinreben. Hinter ihr war Motorenlärm zu hören, das charakteristische Brummen eines VW Käfers. Lea blieb auch sitzen, als hinter ihr Reifen knirschten und der Motorenlärm verstummte. Im nächsten Moment wurde eine Tür geöffnet und wieder zugeschlagen. Lea hörte rasche Schritte, dann eine Stimme.

Erst in diesem Moment kam ihr in den Sinn, welches Bild sie hier abgab: ein Wagen am Rand des Weinbergs, eine offene Tür, eine Frau am Boden. Lea sprang auf. Der Autoschlüssel bohrte sich in ihre Handfläche, so fest schloss sie die Finger darum. Etwas von ihr entfernt stand ein dunkelhaariger Mann vor einem grell orangefarbenen VW Käfer. Lea registrierte ein braun kariertes Hemd und beige, ausgebeulte Cordhosen, dazu ungebärdiges Lockenhaar, fast schulterlang, und ein Vollbart. Jesus, mit einem Zollstock in der Seitentasche seiner Hose.

»Geht es Ihnen gut?«

»Danke, ja.« Lea steuerte entschlossenen Schrittes auf ihr Auto zu. »Ich habe nur angehalten.«

Der Fremde sagte nichts, musterte sie aber einen Moment länger und lächelte dann. Lea blieb ernst. Als sie in ihrem Auto saß, zitterte ihre Hand so stark, dass sie den Schlüssel zuerst nicht ins Zündschloss bekam. Der Fremde stand immer noch abwartend neben seinem Käfer. Lea hob grüßend die Hand, drehte den Schlüssel und legte den Rückwärtsgang ein. Als sie wieder parallel zur Straße stand, ließ sie das Fenster herunter.

»Vielen Dank noch einmal, aber es geht mir wirklich gut.«

Der Mann nickte nur. »Ist klar«, sagte er dann, »ich wollte nur noch den Rest des Sonnenaufgangs bewundern. Man hat heute selten Zeit für so was. Gut, dass ich stehen geblieben...