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Das Spiel (Gerald's Game) - Roman

Stephen King

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641032852 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

2
 
 
Sie schien in einem langen, kalten Korridor voll weißem Nebel zu sein, einem Korridor, der deutlich zur Seite geneigt war wie die Flure, die die Leute in Filmen wie Nightmare – Mörderische Träume oder Fernsehserien wie Twilight Zone immer entlangzugehen schienen. Sie war nackt, und die Kälte setzte ihr echt zu und tat ihr in den Muskeln weh – besonders in den Rücken-, Hals- und Schultermuskeln.
Ich muss hier raus, sonst werde ich krank, dachte sie. Ich bekomme schon Krämpfe vom Nebel und der Feuchtigkeit.
(Aber sie wusste, es lag nicht an Nebel und Feuchtigkeit.)
Außerdem stimmt etwas mit Gerald nicht. Ich kann mich nicht genau erinnern, was es ist, aber ich glaube, er ist krank.
(Aber sie wusste, krank war nicht das richtige Wort.)
Jedoch, und das war seltsam, ein anderer Teil ihres Verstands wollte gar nicht aus diesem schiefen, nebligen Korridor entkommen. Dieser Teil deutete an, dass es viel besser war, wenn sie hierblieb. Dass es ihr leidtun würde, wenn sie ging. Und so blieb sie noch eine Weile.
Was sie schließlich wieder aus ihrer Erstarrung riss, war der bellende Hund. Es war ein über die Maßen hässliches Bellen, tief, aber in den oberen Registern mit schrillen Gicksern. Jedes Mal, wenn das Tier eines ertönen ließ, hörte es sich an, als würde es eine Handvoll scharfer Splitter kotzen. Sie hatte dieses Bellen schon einmal gehört, aber es konnte besser sein – sogar viel besser -, wenn es ihr gelang, sich nicht daran zu erinnern, wann das war oder wo, oder was zu der Zeit geschehen war.
Aber immerhin setzte es sie in Bewegung – linker Fuß, rechter Fuß, guter Fuß, schlimmer Fuß – und plötzlich fiel ihr ein, sie könnte besser durch den Nebel sehen, wenn sie die Augen aufschlug, daher tat sie es. Sie sah keinen unheimlichen Flur aus Twilight Zone vor sich, sondern das Elternschlafzimmer ihres Sommerhauses am nördlichen Ende des Kashwakamak Lake – dem Gebiet, das als Notch Bay bekannt war. Sie vermutete, dass sie nur deshalb gefroren hatte, weil sie nur ein Bikiniunterteil anhatte, und ihr Hals und die Schultern taten weh, weil sie mit Handschellen an die Bettpfosten gefesselt und in ihrer Bewusstlosigkeit mit dem Hinterteil vom Bett gerutscht war. Kein schiefer Korridor; keine neblige Feuchtigkeit. Nur der Hund war echt, er bellte sich immer noch die verdammte Lunge aus dem Hals. Es hörte sich an, als wäre er jetzt nahe am Haus. Wenn Gerald das hörte …
Beim Gedanken an Gerald zuckte sie zusammen, und dieses Zusammenzucken jagte komplexe Spiralfunken von Schmerzen durch ihre verkrampften Bizeps und Trizeps. Das Kribbeln verlor sich an den Ellbogen im Nichts, und Jessie stellte voll zähem, halbwachem Missfallen fest, dass ihre Unterarme fast völlig gefühllos waren und ihre Hände ebenso gut Handschuhe voll geronnenem Kartoffelpüree sein konnten.
Das wird wehtun, dachte sie, und dann fiel ihr alles wieder ein … besonders das Bild von Gerald, wie er den Kopfsprung vom Bett machte. Ihr Mann lag auf dem Boden, entweder tot oder bewusstlos, und sie lag hier oben auf dem Bett und dachte, was für ein Verdruss es war, dass ihre Arme und Hände eingeschlafen waren. Wie egoistisch und egozentrisch konnte man eigentlich werden?
Wenn er tot ist, ist er selber schuld, sagte die Ohne-Scheiß-Stimme. Sie versuchte, noch ein paar Binsenweisheiten loszuwerden, aber Jessie brachte sie zum Schweigen. In ihrem halbwachen Zustand besaß sie einen klareren Einblick in die tieferen Archive ihrer Speicherbänke, und plötzlich wurde ihr klar, wessen Stimme – etwas näselnd, abgehackt, immer am Rand eines sarkastischen Lachens – das war. Sie gehörte Ruth Neary, ihrer Zimmergenossin am College. Nachdem Jessie es nun wusste, war sie kein bisschen überrascht. Ruth hatte ihre guten Ratschläge stets verschwenderisch um sich geworfen, und ihr Rat hatte die neunzehnjährige, hinter den Ohren noch grüne Zimmergenossin aus Falmouth Foreside häufig in Verlegenheit gebracht … was zweifellos Absicht war, jedenfalls teilweise; Ruth hatte das Herz immer am rechten Fleck gehabt, und Jessie hatte nie daran gezweifelt, dass Ruth sechzig Prozent von dem glaubte, was sie von sich gab, und vierzig Prozent von allem, was sie angeblich schon erlebt haben wollte, tatsächlich erlebt hatte. Wenn es um sexuelle Dinge ging, lag der Prozentsatz wahrscheinlich noch höher. Ruth Neary, die erste Frau, die Jessie kennengelernt hatte, die sich strikt weigerte, Beine und Achselhöhlen zu rasieren; Ruth, die einmal den Kissenbezug einer unangenehmen Etagenaufsicht mit Erdbeerschaumbad gefüllt hatte; Ruth, die zu jeder Studentenveranstaltung ging und schon aus Prinzip jede experimentelle Studentenaufführung besuchte. Wenn alle Stricke reißen, Süße, ist bestimmt ein gut aussehender Typ dabei, der sich nackt auszieht, hatte sie einer erstaunten, aber faszinierten Jessie erzählt, als sie von einer Studentenvorführung von etwas mit dem Titel »Der Sohn von Noahs Papagei« nach Hause gekommen war. Ich meine, das passiert nicht immer, aber normalerweise – ich glaube, Theaterstücke von Studenten sind nur dazu da – damit Jungs und Mädchen sich nackt ausziehen und es in aller Öffentlichkeit treiben können.
Sie hatte seit Jahren nicht mehr an Ruth gedacht, und jetzt war Ruth plötzlich in ihrem Kopf und verteilte kleine Perlen der Weisheit, ganz wie in einstigen Tagen. Nun, warum nicht? Wer konnte besser geeignet sein, die geistig Verwirrten und emotional Gestörten zu beraten als Ruth Neary, die nach der Universität von New Hampshire drei Ehen, zwei Selbstmordversuche und vier Drogen- und Alkoholentziehungskuren hinter sich gebracht hatte? Die gute alte Ruth, ein weiteres prächtiges Beispiel dafür, wie gut die einstige »Love Generation« damit fertigwurde, dass sie in die mittleren Jahre kamen.
»Herrgott, genau das kann ich jetzt brauchen, Dear Abby aus der Hölle«, sagte sie, und ihre belegte, nuschelnde Stimme machte ihr mehr Angst als die Gefühllosigkeit in Händen und Unterarmen.
Sie versuchte, sich wieder in die weitgehend sitzende Haltung zu ziehen, die sie vor Geralds kleinem Kopfsprung innegehabt hatte (war dieses grässliche Geräusch wie von einem aufgeschlagenen Ei Teil des Traums gewesen? Sie betete, dass es so war), und die Gedanken an Ruth wurden von einem plötzlichen Ausbruch von Panik verschlungen, als sie bemerkte, dass sie sich überhaupt nicht bewegen konnte. Das mangelnde und schmerzhafte Kribbeln bohrte sich wieder durch ihre Muskeln, aber sonst passierte nichts. Ihre Arme hingen einfach weiter seitlich über ihr, reglos und taub wie Ofenscheite aus Ahornholz. Das Gefühl der Benommenheit verschwand aus ihrem Kopf – sie stellte fest, dass Panik Riechsalz haushoch überlegen war -, und ihr Herz legte einen Zahn zu, aber das war auch alles. Ein lebhaftes Bild aus einer längst vergangenen Geschichtsstunde flackerte einen Moment lang vor ihrem geistigen Auge: ein Kreis lachender, deutender Leute, die um eine junge Frau herumstanden, die Kopf und Hände im Pranger hatte. Die Frau war gebückt wie die Hexe im Märchen, das Haar hing ihr ins Gesicht wie ein Bußschleier.
Sie heißt Goodwife Burlingame und wird bestraft, weil sie ihren Mann verletzt hat, dachte sie. Sie bestrafen Goodwife, weil sie die wahre Schuldige nicht bekommen können … diejenige, die sich anhört wie meine alte Zimmergenossin vom College.
Aber war verletzt das richtige Wort? War es nicht wahrscheinlicher, dass sie dieses Schlafzimmer mit einem Toten teilte? War es nicht darüber hinaus wahrscheinlich, dass – Hund hin oder her -, die Gegend um Notch Bay vollkommen verlassen war? Dass nur der Eistaucher ihr antworten würde, sollte sie anfangen zu schreien? Nur er, sonst niemand?
Überwiegend lag es an diesem Gedanken mit seinen seltsamen Anklängen an Poes »Der Rabe«, der sie plötzlich zur Erkenntnis dessen brachte, was hier eigentlich ablief, in welche Lage sie sich gebracht hatte, und da überkam sie mit einem Mal ausgewachsenes, namenloses Grauen wie ein Raubvogel, der Klauen voran aus der Sonne gestürzt kam. Zwanzig Sekunden oder so (hätte man sie gefragt, wie lange dieser Anflug von Panik gedauert hatte, hätte sie drei Minuten geschätzt, wahrscheinlich eher fünf) wand sie sich hilflos in seinem Griff. Ein kleiner Rest vernünftigen Bewusstseins blieb tief in ihr erhalten, aber der war hilflos – nur ein betroffener Zuschauer, der beobachtete, wie sich die Frau auf dem Bett hin und her warf und dabei den Kopf in einer Geste der Verneinung drehte, und der ihre heiseren, ängstlichen Schreie hörte.
Ein tiefer, glasklarer Schmerz am Halsansatz, unmittelbar über der linken Schulter, machte dem ein Ende. Es war ein Muskelkrampf, ein schlimmer – Charleypferd sagten die Jockeys dazu.
Jessie ließ den Kopf stöhnend gegen die zweigeteilten Mahagonibretter sinken, die das Kopfende des Bettes bildeten. Der Muskel, den sie belastet hatte, war in der angestrengt überdehnten Position erstarrt und schien hart wie Stein zu sein. Die Tatsache, dass nach ihrer Anstrengung Nadelstiche des Empfindens bis in die Unterarme und...