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Beifang - Roman

Ulrich Ritzel

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641027902 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Sommertage
Tobruk war gefallen, und Kaufmann Hirrle hatte den Laden beflaggt, aber Weckgläser gab es keine. Marianne machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder, sie hatte zwei große Kannen Stachel- und Johannisbeeren gepflückt, was wollte sie nun damit! Hirrle hatte ihr noch einen Blick zugeworfen, kommen Sie doch später noch mal, hieß das, wenn sonst keine Kunden mehr da sind, aber sie mochte diese Angebote nicht.
Im Laden war es kühl gewesen, doch draußen auf der staubhellen Dorfstraße stand die Hitze wie eine Wand, und Marianne brach der Schweiß aus auf der Stirne, noch bevor sie auf ihr Rad gestiegen war. Am Lenker baumelten die Kannen voller Beeren, wie nutzlos doch ihre ganze Mühe gewesen war! Sie fuhr los, vornüber gebeugt und beide Hände am Lenker, den Schlaglöchern ausweichend, noch immer ärgerlich und enttäuscht.
Plötzlich schrak sie hoch, Kindergekreisch brach über sie herein, eine Horde von Schulbuben schoss über die Straße, die Ranzen auf dem Rücken, ein strohblonder Junge wäre ihr fast ins Vorderrad gerannt, sie musste abbremsen und kam gerade noch rechtzeitig mit dem Fuß auf den Boden, sonst wäre sie gestürzt. Der Junge warf ihr einen erschrockenen Blick zu und rannte der Horde nach. Marianne atmete tief durch, dann stieg sie wieder auf und fuhr weiter.
Die Kinder waren jetzt, johlend und schreiend, an der Straßenecke weiter vorne stehen geblieben, gegenüber dem Postamt, einige von ihnen sammelten Steine auf. Erst in diesem Augenblick entdeckte Marianne auf der anderen Straßenseite die grauhaarige Frau, die aus dem Postamt gekommen sein musste und die jetzt mit hastigen Schritten der Horde zu entkommen suchte, die Hände abwehrend erhoben.
Wieder sah Marianne den blonden Jungen, der gerade eben einen Schritt auf die Straße hinausgetreten war und mit der Hand ausholte. Marianne schrie noch ein: »Nicht!« oder wollte es schreien, als der Junge mit einer abgezirkelten Bewegung auch schon einen Stein eigentlich nicht warf, sondern fliegen ließ, der Stein traf die alte Frau am Kopf, Staub oder Erdreich lösten sich beim Aufprall und stiegen um den Kopf der Alten auf wie eine lustige kleine Wolke. Einen kurzen Moment verharrte die Getroffene regungslos, dann barg sie das Gesicht in den Händen und krümmte sich, bis sie in sich zusammensank.
Marianne ließ das Fahrrad samt den Kannen auf den Boden fallen und lief zu der Getroffenen, die nun mit angezogenen Knien auf dem Gehsteig hockte. Blut lief ihr über die Hand, mit der sie das Auge schützte. »Ganz ruhig«, sagte Marianne, kniete sich neben sie und überlegte, womit sie die Blutung stillen könnte. »Ich helfe Ihnen, es ist sicher nur eine Platzwunde.«
Beim Niederknien war ihr der Rock hochgerutscht, und der Unterrock lugte hervor. Sie warf einen Blick auf die andere Straßenseite, die Horde hatte zu kreischen aufgehört, plötzlich liefen die ersten Kinder weg. Nur der Steinewerfer starrte noch herüber, dann rannte auch er davon.
Marianne schob den Rock höher und packte mit beiden Händen den Unterrock – zerschlissen war er ohnehin – und riss eine aufgegangene Naht vollends auseinander, bis sie einen Fetzen weißes Baumwollgewebe in der Hand hielt. »Gleich«, sagte sie beruhigend, zog behutsam die Hand der Frau von der Platzwunde und legte den zusammengefalteten Lappen auf.
»Was ist nur geschehen?«, rief in diesem Augenblick eine klagende Stimme. Schritte näherten sich, Marianne blickte auf, ein Mann in einem abgewetzten Anzug hastete heran, am Sakko trug er den Judenstern, auch die Frau, die noch immer auf dem Boden hockte, trug den Stern, warum hatte Marianne nicht darauf geachtet? Dabei hatten die Kinder doch die ganze Zeit »Judensau« geschrien, jetzt, wo sie daran dachte, hatte sie es wieder im Ohr.
»Ein Steinwurf«, sagte sie und stand so rasch auf, dass ihr für einen Moment schwindlig wurde. Der Mann versuchte, die Frau vom Boden hochzuziehen; dabei warf er Marianne einen so hilflosen Blick zu, dass sie sich bückte und der anderen aufhalf.
»Danke«, sagte die alte Frau und stand, zunächst schwankend. Mit der einen Hand hielt sie den Stofflappen an ihre Schläfe. »Sie sind sehr freundlich...« Durch den Lappen drang ein kreisrunder Blutfleck.
Abwehrend schüttelte Marianne den Kopf. »Können Sie sie zu ihrer Wohnung bringen?«, fragte sie den Mann. Dann fiel ihr ein, dass die beiden in dem Altersheim oben an der Wippinger Steige untergebracht sein mussten, das war noch ein gutes Stück, vor allem ein gutes Stück bergauf, aber der Mann meinte, ja doch, das ginge wohl, und Marianne deutete ein Kopfnicken an, kehrte zu ihrem Rad zurück und kniete sich nieder, um wenigstens einen Teil der Beeren wieder aufzusammeln, die aus den Kannen gerollt waren. Sie hatte das Gefühl, das ganze Dorf würde ihr dabei zusehen und hätte vorher schon zugesehen...
Was erst wird Otto sagen, wenn er es erfährt?
Und wenn? Dieses Altersheim hatte doch sie nicht eingerichtet. Sie stieg auf und trat in die Pedale, so gut es eben geht, wenn einem die Knie zittern.
 
An diesem Abend kam Otto früh zurück, kurz vor sechs Uhr hörte sie den gleichmäßigen raschen Takt, mit dem die beiden Krücken und das eine Bein abwechselnd auf dem Gehsteig aufsetzten, eigentlich hörte man nur die Krücken. Marianne hatte einen Teil der Beeren mit Magermilch und Quark zusammengerührt, den löffelte er eilig, denn er wollte noch am Abend zu einer Rommelfeier der Ortsgruppe, »du weißt doch, Tobruk ist gefallen!«. Während er aß, erzählte sie von ihrem Ärger mit den Weckgläsern, einen ganzen freien Tag habe sie daran gehängt, was solle sie jetzt mit dem Rest der Beeren bloß tun!
»Es ist doch dumm, dass man die nirgendwo bekommt«, sagte sie, »das ist doch nur vernünftig, wenn man Vorräte anlegt, alle sollten das tun können.«
»Vernünftig wäre«, antwortete Otto und schluckte einen Mundvoll Beerenquark hinunter, »dass jeder an seinem Platz das tut, was ihm möglich ist. Nicht vernünftig ist es, wenn sich ständig irgendwo ein kleines Meckerlein meldet und von nichts anderem reden will als davon, dass es gerade das nicht gibt oder jenes nicht.«
 
Von der Rommelfeier kam er spät zurück, als Marianne schon im Bett lag, und obwohl sie jedes Mal aufwachte, wenn er mit seinen Krücken ins Schlafzimmer holperte, stellte sie sich diesmal schlafend.
 
Die Nacht brachte nur wenig Abkühlung, und als Marianne am nächsten Morgen zu den Zementwerken radelte, warf die Sonne schon wieder blauschwarze Schatten auf die Dorfstraße. Sie hatte nicht gut geschlafen, irgendwann in der Nacht war ihr eingefallen, dass sie womöglich eine Vorladung bekommen würde, nur wegen dieser alten Frau. Aber sie hatte den Stern nicht gesehen, wirklich nicht, hatte ihn gar nicht sehen können, die Alte lag doch halb auf dem Boden...
Als sie an der Post vorbeifuhr, trat sie rascher in die Pedale, bis das Fabriktor der Zementwerke in Sicht kam. An drei Tagen in der Woche arbeitete sie dort im Personalbüro, lange wollte sie sich das nicht mehr antun. Der Buchhalter hatte als junger Mann im flandrischen Gaskrieg einen Lungenflügel verloren und ertrug die vom Kalkstaub durchsetzte Luft der Zementwerke nicht oder kaum mehr, aber immer fand er jemanden, der ihm dafür büßen musste. An diesem Morgen war es der Lehrling Hannelore, sie hatte vergessen, die neuen Verpflegungssätze für die Polen an die Werkskantine durchzugeben, und stand jetzt mit rotem Kopf da und musste sich die fast ohne Atem geflüsterten Fragen anhören, ob und wann und wie sie diese Verschleuderung von Volksvermögen wiedergutmachen wolle.
Nach einer Weile wurde es Marianne zu viel. »Diese Verpflegungssätze«, sagte sie kühl, »die hab ich zurückgehalten. Da wird nämlich zwischen kriegswichtiger und sonstiger Produktion unterschieden.«
»Und?« Der Buchhalter starrte sie an, und sein Gesicht hatte eine rosa Tönung angenommen.
»Wer hat worauf Anspruch?«, fragte Marianne zurück. »Das muss doch zuerst geklärt werden...«
»Das müssen Sie doch wissen«, flüsterte der Buchhalter, »schon längst müssen Sie das wissen, für Polen gelten grundsätzlich und ausnahmslos die niedrigeren Sätze! Grundsätzlich! Immer!«
»Dann wissen wir es jetzt ja«, gab Marianne zurück, aber weil Otto stellvertretender Ortsgruppenleiter war, wandte sich der Buchhalter nur ab und sagte gar nichts mehr.
Danach war Ruhe, aber wegen der Einweisung zusätzlicher Arbeitskräfte aus dem Generalgouvernement fielen am Nachmittag Überstunden an, so dass Marianne erst am Abend nach Hause kam. Beim Radfahren merkte sie, dass der Tag anstrengender gewesen war als gewöhnlich, und an der Steige zur Siedlung über der Kleinen Lauter wäre sie fast abgestiegen, das war ihr...