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'Zu keinem ein Wort!' - Überleben im Versteck

Lutz Dijk

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2009

ISBN 9783641031299 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR

  • Im Land der weißen Wolke - Roman
    Die Liegnitz-Trilogie - 3. Der Junge aus Liegnitz
    Dialog 500 Stufen über Leipzig
    Die lange Reise des Jakob Stern
    Um ein Haar - Überleben im Dritten Reich

     

     

     

     

 

 

DER VERLIEBTE NAZI
Musik, tanzende Menschen, irgendwo in einer kleinen Stadt in Osteuropa. Es ist ein besonderes Fest: eine Hochzeit. Eine jüdische Hochzeit mit Rabbi und verschleierter Braut und zertretenem Glas unter einem Tuch. Alle Blicke sind auf das junge Brautpaar gerichtet. Wie sehen sie aus? Ob sie glücklich sind? Oder ist es wieder nur eine Ehe, die die Eltern wollten, eine lang verabredete Sache aus praktischen Beweggründen, bei der das Mädchen und der Junge kaum nach ihrer Meinung, geschweige denn Liebe, gefragt worden sind?
Es ist so lange her, dieses Fest. Von denen, die da tanzten und lachten und durcheinander redeten, lebt kein Einziger mehr. Aber ohne diesen Tag hätte es mich nicht gegeben. Ohne diesen Tag wäre die Geschichte, die ich erzählen möchte, nicht geschehen. Und obwohl es auch eine dramatische und gefährliche und ernste und traurige Geschichte ist, beginnt sie doch mit etwas ganz Sanftem und Zärtlichem: mit Liebe. Oder besser gesagt, mit dem Anfang einer Liebe. Der ersten Verliebtheit.
Ob das Brautpaar verliebt war? Keine Ahnung. Die waren so aufgeregt, dass es keiner von den angereisten Verwandten genau herausbekam. Aber auf der Hochzeit waren noch zwei andere junge Leute, die einander hier begegneten und den ganzen Tag kaum noch die Blicke voneinander abwenden konnten. Die irgendwann gar nicht mehr auf das Brautpaar achteten, sondern nur noch darauf, wie sie zueinander kommen könnten, ohne dass sofort darüber getratscht würde. Sie wollten sich um Himmels willen nicht wieder aus den Augen verlieren, ohne wenigstens ein paar persönliche Worte gewechselt zu haben.
Der junge Mann war höchstens Mitte zwanzig, sah gut aus, hatte eine schlanke, sportliche Figur und trug einen modern rasierten Schnurrbart. Seine dunklen Haare waren glatt zurückgekämmt. Aufgefallen waren Regina zuerst seine vollen, weichen Lippen. Sie mochte keine Männer, die so militärisch verkniffen in die Welt schauten. Bei ihm aber glaubte sie, etwas Mutiges und Unangepasstes zu entdecken. Das gefiel ihr. Bislang wusste sie nur, dass er der älteste Bruder der Braut war.
Sie selbst war gerade achtzehn geworden. Zweimal schon hatte sie in ihrem bisherigen Leben geglaubt, verliebt zu sein. Aber es hatte sich beide Male als Irrtum herausgestellt. Eigentlich hatte sie gar nicht genau gewusst, wie das war, verliebt zu sein. Niemand sprach offen darüber. Angeblich geschah es einfach so – und für manche bedeutete es dann das größte Glück und für andere das größte Unglück. Sie hoffte natürlich, dass sie zur ersten Gruppe der glücklich Verliebten gehören möge. Deshalb hatte sie sich jedes Mal gefragt: Kann ich mit dem Mann wirklich glücklich werden? Darüber hatte sie sich dann so lange den Kopf zerbrochen, bis sie am Ende dachte, dass es wohl nicht Liebe sein könne, wenn man so schrecklich darüber nachgrübeln müsse.
Bei dem Bruder der Braut, von dem sie bisher so gut wie gar nichts wusste, dachte sie überhaupt nicht. Sie wollte ihn am liebsten immer nur anschauen. Und ihm nahe sein. Ihn vielleicht ein einziges Mal berühren. Einmal stieß ihre beste Freundin sie an und zischte ihr zu: »Ist dir schlecht? Du stehst nur rum und starrst vor dich hin.« Aber sie starrte gar nicht vor sich hin. Sie schaute, wenn auch so unauffällig wie möglich, unablässig zu dem jungen Mann hinüber.
Und dann geschah es: Der junge Mann, der schon ein paar Mal vorsichtig, aber ohne zu lächeln, zurückgeschaut hatte, unterbrach plötzlich das Gepräch mit einem älteren kahlköpfigen Herrn und kam direkt auf sie zu. Als er unmittelbar vor ihr stand, deutete er eine Verbeugung an und sagte mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme: »Darf ich Ihnen ein Getränk holen?«
Regina schluckte und bekam kein Wort heraus. Sie schaute ihn an und schluckte erneut. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und antwortete: »Ich möchte lieber tanzen. Und Sie?«
Sie tanzten den ganzen Abend. Geredet haben sie dabei nur wenig. Aber am nächsten Tag, als Regina mit ihrer Familie im Zug zurück nach Wien fahren musste, da wusste sie immerhin, dass er nicht Schneider werden wollte wie sein Vater und sein Großvater, sondern dass er am liebsten die Welt kennen lernen und in Berlin damit beginnen wollte. Während der langen Eisenbahnfahrt, als die anderen, noch müde vom Feiern, in ihren Sitzen dösten, war Regina hellwach. »Das ist er! Auf so einen Mann habe ich gewartet!«, dachte sie. In der Hand hielt sie einen kleinen Zettel mit seiner Anschrift. Das Papier war zerknittert und die Tinte an einer Stelle verlaufen, aber sie konnte noch deutlich die Worte lesen, die er unter der Adresse für sie notiert hatte: »Ich will dich unbedingt wieder sehen! Dein Nazi.«
 
Dieser verliebte junge Mann war mein Vater. Eigentlich hieß er Ignatz, aber alle Freunde nannten ihn Nazi. Das Wort hatte damals noch keine andere Bedeutung als die freundliche Abkürzung seines Vornamens. Regina war meine Mutter. Und ich erinnere mich, wie stolz sie später zu mir gesagt hat: »Dein Vater und ich – wir haben aus Liebe geheiratet!«
Bis ich Abschied nehmen musste von ihr, 1938, nach der Pogromnacht der Nazis in Deutschland, hat sie die ersten Liebesbriefe von meinem Vater bewahrt, alle unterschrieben mit: »In Liebe, dein Nazi.« Erst nachdem die deutschen Nazis unser Waisenhaus in Frankfurt gestürmt hatten, las sie mir einige der Briefe vor. In einem stand: »Ich soll das reichste Mädchen aus unserer Stadt heiraten. Aber das werde ich auf keinen Fall. Ich liebe nur dich!« Wenig später hat sie alle Briefe von ihrem geliebten Mann vernichtet. Sie sollten nicht den Nazis in die Hände fallen. Im November 1938 war das, ein Monat nach meinem dreizehnten Geburtstag.
Meine Eltern waren sehr glücklich miteinander. Mein Vater verwirklichte noch als junger Mann seinen Traum und reiste nach Berlin, wo er sich einen Strohhut kaufte, mit dem er sich später stolz fotografieren ließ. Meine Mutter mochte dieses Foto sehr. Aber der Rest der Weltreise hat nie mehr stattgefunden.
Ignatz Levitus (27) und seine Frau Regina (20) in Frankfurt am Main 1922, drei Jahre vor Cillys Geburt.
Nach ihrer Heirat verließen sie ihre kleine Stadt in jenem Teil des Landes, das 1918 zur Tschechoslowakei geworden war. Sie zogen nach Frankfurt am Main, um dort ihr Glück zu suchen. Doch behielten sie ihre tschechische Staatsangehörigkeit, sodass auch wir vier Kinder als Ausländer in Deutschland geboren wurden. 1924 kam zuerst meine ältere Schwester Hanna auf die Welt und 1925 folgte ich. Jutta wurde 1928 in Straßburg geboren, wo meine Eltern vorübergehend eine koschere Pension führten. Unser kleiner Bruder Josef kam 1930 wieder in Frankfurt zur Welt, wohin unsere Familie inzwischen zurückgekehrt war.
Cilly (links), ein Jahr alt, und Hanna (rechts) 1926 in Frankfurt am Main.
In den ersten Jahren hatten meine Eltern keine finanziellen Sorgen. Mein Vater konnte mit den mitgebrachten tschechischen Kronen, die gut im Kurs standen, sogar mehrere Häuser in Frankfurt kaufen. Deren Verwaltung ermöglichte zunächst richtigen Wohlstand. Aber er war leider kein guter Geschäftsmann. Er begann, mit Aktien zu spekulieren. Nach dem großen Börsenkrach am ›Schwarzen Freitag‹ 1929 verlor er über Nacht allen Besitz. Plötzlich herrschte große Not bei uns daheim. Aus dem großen Haus mussten wir in eine kleine Wohnung umziehen.
Als meine Mutter auch noch mit Josef schwanger wurde, schickten meine Eltern mich für eine Weile zu den Großeltern, die im ungarisch sprechenden Teil der Tschechoslowakei lebten. Dort gefiel es mir sehr. Ich war das einzige Kind und Oma und Opa verwöhnten mich von morgens bis abends. Am schönsten waren die Schabbat-Feiern am Freitagabend. Die ganze Woche bereiteten wir uns darauf vor. Im Garten gab es eine kleine Laube, die für mich zum großen Puppenhaus wurde. Dort schmückte ich ebenso wie im Wohnzimmer der Großeltern alles für den Schabbat, deckte einen kleinen Tisch und durfte sogar zwei Kerzen anzünden.
Ich war fünf, als ich 1930 zu meinen Eltern und Geschwistern nach Frankfurt zurückgeschickt wurde, und sprach nur noch Ungarisch. Die deutsche Sprache hatte ich so gut wie vergessen. Alles hier erschien mir auf einmal fremd und kalt, meine Mutter und meine ältere Schwester Hanna blieben eigenartig distanziert. Zuerst habe ich nur geheult und wäre am liebsten sofort zurück zu Oma und Opa gegangen. Aber dann kam mein Vater nach Hause, nahm mich auf den Arm und rief strahlend: »Wie schön, dass du wieder bei uns bist!« Und auf einmal kam es mir schon weniger schlimm vor. Ich hatte keine Ahnung, dass er zu der Zeit bereits sehr krank war. Doch dann war er plötzlich nicht mehr daheim und Mutter, die kurz vor der Geburt mit dem kleinen Josef stand, nahm meine beiden Schwestern und mich mit ins jüdische Spital in der Gagernstraße.
Ich fand, dass es eigenartig roch in diesem Krankenhaus. Und wir Kinder mussten ganz leise sein, weil alle Menschen in Betten lagen und sehr schwach waren. Auch Vater.
Ein paar Mal brachten wir ihm kandierte Früchte mit, die er sonst immer so gern gegessen hatte. Aber er rührte sie kaum an, sah schrecklich abgemagert aus...