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Das Science Fiction Jahr 2011

Sascha Mamczak, Sebastian Pirling, Wolfgang Jeschke

 

Verlag Heyne, 2012

ISBN 9783641085308 , 1312 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR


 

Von der Entstehung der Zukunft


Future Histories in Literatur und Film


von Stephen Baxter

 

 

 

 

Meine eigene Future History, der Xeelee-Zyklus, entstand durch Zufall.

Die erste Kurzgeschichte, die ich veröffentlicht habe, »Die Xeelee-Blume« (The Xeelee-Flower, Interzone, 19, 1987), führte die rätselhafte und mächtige Spezies der Xeelee eher im Nachsatz ein. Für die Handlung dieser Abenteuergeschichte aus der nahen Zukunft benötigte ich mächtige Aliens, die sich im Hintergrund hielten, und so wurden die Xeelee geboren. Ein paar Monate später kam mir die Idee zu einer Geschichte, die später den Titel »Schale« erhielt (Shell, erschienen in: Vacuum Diagrams, 1997, Vakuumdiagramme, 2001). »Schale« spielte in der fernen Zukunft, doch auch hier brauchte ich mächtige Außerirdische im Hintergrund. Nachdem ich die Xeelee in beiden Texten hatte auftreten lassen und dadurch eine Verbindung zwischen den Geschichten geschaffen hatte, wurde mir klar, dass diese Anfang und Ende einer Future History darstellten.

Während meiner weiteren Arbeit stellte ich fest, dass ich neue Story-Ideen verbessern konnte, indem ich sie vor dem bereits skizzierten Hintergrund ansiedelte. Das Xeelee-Universum mitsamt seiner Zukunft nahm langsam Gestalt an, was für mich ebenso überraschend war wie für meine Leser. Allerdings haben mich die Future Histories von Robert A. Heinlein und Larry Niven seit jeher stark beeinflusst: So etwas wollte ich auch schreiben.

1991 hatte ich dann – in Form von Kurzgeschichten mit einer Gesamtlänge von 70 000 Worten – eine zusammenhängende Geschichte der Xeelee entwickelt. Letztlich behandelt der Zyklus die Ausbreitung der Menschheit über das Sonnensystem hinaus und ihre Interaktionen mit einer vielfältigen Gemeinschaft außersolarer Spezies, in der die rätselhaften Xeelee die Vorherrschaft innehaben; schließlich wird klar, was der zentrale Konflikt unseres Universums ist und welches Schicksal die Menschheit erwartet. Das Herzstück der Serie habe ich später noch einmal überarbeitet: Meine Romane »Das Geflecht der Unendlichkeit« (Timelike Infinity, 1992) und »Ring« (Ring, 1996) bilden zusammen den Kern des Zyklus, während »Das Floß« (Raft, 1991) und »Flux« (Flux, 1993) Episoden vor demselben Hintergrund darstellen. Hinzu kam »Vakuumdiagramme« (Vacuum Diagrams, 1997), eine Sammlung der in diesem Universum angesiedelten Kurzgeschichten, die bis dahin erschienen waren. Seitdem habe ich noch mehrere kurze Texte veröffentlicht, die auf demselben Zeitstrang verortet sind, sowie die drei Romane der Nebenreihe »Kinder des Schicksals« »Der Orden« (Coalescent, 2003), »Sternenkinder« (Exultant, 2004) und »Transzendenz« (Transcendent, 2005). Dazu kam eine weitere Story-Sammlung mit dem Titel »Resplendent« (2006). In Letztgenannter wird vom Aufstieg der Menschheit zu einer Spezies berichtet, die in der gesamten Galaxis zu Hause ist und mit den Xeelee auf Augenhöhe steht, aber auch von ihrem anschließenden Niedergang: eine Episode von nur etwa einer Million Jahre auf einem Zeitstrang, der die gesamte Lebensdauer und den Tod des Universums umfasst.

In gewissem Maße wusste ich von Anfang an, was ich tat. Ich sehe mich als Autor, der fest in der Genretradition der Future History verankert ist. Aber was sind Future Histories eigentlich? Welchen Reiz üben sie aus, welche Probleme werfen sie für Leser und Autoren auf?

Obwohl die Technik der Future History einigen der beliebtesten und beständigsten Werke der Science Fiction zugrunde liegt, findet sich in der »Encyclopedia of Science Fiction« von John Clute und Peter Nicholls keine entsprechende Definition. Allerdings taucht in John Clutes »Science Fiction: The Illustrated Encyclopedia« (1995) eine brauchbare Beschreibung auf, illustriert durch eine gute Grafik. Clute sagt: »In der modernen Science Fiction bezeichnet der Begriff Future History einen kohärenten Zeitrahmen, der bestimmte bedeutsame historische Momente festlegt und in dem einzelne Geschichten angesiedelt werden können.« Ich würde noch hinzufügen, dass eine Reihe von Werken, damit sie als Future History bezeichnet werden kann, Elemente aufweisen sollte, die in verschiedenen Zeitabschnitten der übergreifenden Chronologie spielen; die Chronologie sollte also nicht bloß als Hintergrundgeschichte für in einem einzelnen Zeitabschnitt spielende Werke dienen.

Eine einfachere Definition wäre vielleicht die, in deren Sinne Robert A. Heinlein praktische Pionierarbeit geleistet hat: Wenn etwas einen zusammenhängenden Zeitstrang aufweist, dann ist es eine Future History.

Wie Clute in der »Illustrated Encyclopedia« bemerkt, gilt Heinleins als solche betitelte Future History als Erste, die überhaupt innerhalb des Genres erschienen ist, und zwar im Februar 1941 in Astounding Science Fiction. Tatsächlich scheint Astounding-Herausgeber John W. Campbell den Begriff Future History in jener Februarausgabe geprägt zu haben. Die meisten der Geschichten wurden im Laufe der vierziger Jahre geschrieben, doch gegen Ende seines Lebens wandte Heinlein sich erneut dem Projekt zu. Die Hauptära seines Zeitstrangs (der, wie nicht zu vergessen ist, vom Jahr 1941 ausging) sind die »verrückten Jahre« technologischen Fortschritts und gesellschaftlichen Verfalls, die bis 1975 andauern und auf die ein bis 2000 währendes Zeitalter des »interplanetaren Imperialismus« folgt. Danach kommt eine Zeit des Puritanismus und der »sozialen Kontrolle« und ab 2075 ein Zeitalter, in dem die menschliche Zivilisation langsam erwachsen wird. Heinlein war der Meinung, dass die Eroberung der Weiten des Alls und der Zukunft selbst essenziell sei für den menschlichen Geist; seine Chronologie war eine Art Leiter, auf der die Menschheit emporsteigen konnte, um als Spezies zu reifen.

Wie alle darauffolgenden Future Histories – vermute ich zumindest  – enthält Heinleins Werk Elemente von zweifelhafter Konsistenz, und die Kenner streiten sich bei einigen Geschichten darüber, ob sie überhaupt ins Gesamtbild passen. Doch manche schöpferischen Werke entstehen nun mal über einen gewissen Zeitraum hinweg, Inkonsistenzen sind dabei unvermeidlich. Und Heinleins selbstverständlich von der Realität überholte Ausgangsdaten verdeutlichen ein Problem, das jede Science Fiction hat, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft spielt: nämlich dass sie mit der Zeit zur Alternativweltgeschichte wird. (Wenn man, wie ich, mit kosmologischen Zeitmaßstäben arbeitet, macht man sich das Leben sogar noch schwerer, da die werten Kosmologen ständig ihre Meinung über unsere Aussichten für die ferne Zukunft ändern.)

Das Manuskript der ersten Future-History-Geschichten von Heinlein entstand 1939, Campbell veröffentlichte eine frühe Fassung von Heinleins Zeitstrang im März 1941 in Astounding. Im Gegensatz zu meiner allmählichen Entdeckung der Xeelee-Geschichte hatte Heinlein seine Zukunft im Verlauf seines Projekts anscheinend schon sehr früh konzipiert. Aber ein noch früheres Beispiel für eine Future History, die beinahe zufällig als Werk eines Autors entstand, der klar und schlüssig über mögliche Zukünfte nachdachte, stammt von H.G. Wells.

Nach der Veröffentlichung von »Die Zeitmaschine« (The Time Machine, 1895) kehrte Wells nie wieder in die eindrückliche ferne Zukunft der Eloi und Morlocks zurück, doch immerhin spekuliert der Zeitreisende darüber, wie diese Zukunft aus seiner eigenen Gegenwart hervorgegangen sein könnte. Und in der Erzählung »A Story of the Days to Come« (Pall Mall Magazine, 1897), einem Werk, das eng mit Wells’ dystopischem Roman »Wenn der Schläfer erwacht« (When the Sleeper Awakes, 1899) verknüpft ist, besuchen wir eine nahe Zukunft, in der London zu einem gewaltigen, kristallenen Gebäude geworden ist, einer »Arkologie«, wie wir heute sagen würden. In dieser von der Außenwelt abgeschlossenen Stadt gibt es Spannungen zwischen den lichtdurchströmten oberen Ebenen, in denen die Aristokratie ein bequemes Leben führt, und den unteren Ebenen, in denen blau uniformierte Vorläufer der Orwell’schen Proleten leben – als wollte Wells jenen Zeitpunkt in der Entwicklung der Eloi-Morlock-Dichotomie ausführlicher beleuchten, an dem die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse der Menschheit eine Trennung in Besitzende und Habenichtse aufzwingen. Eine Trennung, die sich im Zeitalter von »Die Zeitmaschine« bereits auf die Evolution der menschlichen Spezies ausgewirkt hat. »A Dream of Armageddon« (1903) könnte man ebenfalls als triste Vision aus einer anderen Ecke derselben Future History betrachten. Ich bezweifle, dass Wells eine explizite Zusammenführung im Sinn hatte – aber wie das Auge manchmal Bilder in den Wolken entdeckt, beschwört der Verstand des Lesers anhand solcher Bruchstücke oft einen in sich geschlossenen zukunftshistorischen Hintergrund herauf.

Eine der beliebtesten Future Histories, die Heinleins Modell folgt, ist wohl Larry Nivens Known-Space-Reihe, begonnen im Jahre 1964, die ihren schöpferischen Höhepunkt wahrscheinlich mit dem eindrucksvollen Roman »Ringwelt« (Ringworld, 1970) erreicht hat und bis heute Shared-World-Abenteuer im Zeitabschnitt der Kzin-Kriege und Prequels zu »Ringwelt« hervorbringt. Genau wie Heinleins Future History deckt auch Nivens Bauplan einen relativ kurzen Zeitraum ab, etwa von 1975 an, als das Sonnensystem mittels bemannter Raumfahrt erforscht wird, über erste Kontakte mit außerirdischem Leben ab 2100 bis ins Jahr 2800 und darüber hinaus, als die Ringwelt erforscht wird. Seine Geschichten sprudeln über vor Einfallsreichtum, plausiblen Außerirdischen und technischen Spielereien. Trotz des...