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Das bisschen Kuchen - (K)ein Diät-Roman

Ellen Berg

 

Verlag Aufbau Verlag, 2012

ISBN 9783841203717 , 240 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

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9,99 EUR


 

»Tut mir leid. Ich fürchte, das Kleid ist einfach zu eng für Sie.«

Die Verkäuferin wirkte nicht so, als ob ihr diese Tatsache größeren Kummer bereitete. Abschätzig musterte sie ihre Kundin, die im gnadenlosen Licht der Umkleidekabine mit einem Stück Stoff kämpfte. Der Kopf war nicht zu sehen, nur zwei stämmige Beine und ein fleischiger Rücken, über dem der offene Reißverschluss auseinanderklaffte. Kein schöner Anblick.

»Aber das ist Größe achtundvierzig!«, japste Niki.

»Eine italienische achtundvierzig«, erwiderte die Verkäuferin schneidend. »Sie bräuchten mindestens eine achtundfünfzig, doch die gibt es nicht bei Dolce und Gabbana. Wir führen hier Designermode

»Verdammt, helfen Sie mir endlich aus dem Ding raus!«

Niki brach der Schweiß aus. Was für eine Schnapsidee, ausgerechnet in diese elegante Boutique zu stolpern. Sie hätte sich denken können, dass eine Frau wie sie hier nichts finden würde. Eine Frau, die seit Jahren ihre Füße nicht mehr sah, wenn sie an sich herabschaute. Hektisch riss sie an dem Kleid herum.

»Vorsicht! Das Teil kostet tausendzweihundert Euro!«

»Ist mir egal. Hauptsache, ich sehe vor heute Nachmittag das Tageslicht wieder«, giftete es aus dem Stoffknäuel.

In Wahrheit stand Niki unter Schock. Tausendzweihundert Euro für so einen winzigen Fetzen? Sie wagte nicht mehr, sich zu bewegen.

Mit spitzen Fingern zerrte die Verkäuferin an dem kostbaren Seidenkleid, bis Niki darunter zum Vorschein kam, hochrot und völlig verschwitzt. Sie trug ein hautfarbenes Mieder, das ihre üppigen Fleischmassen kaum zu bändigen vermochte. Der Körper schien an den Rändern förmlich überzuquellen, wie ein aufgepopptes Soufflé in einer zu kleinen Form.

Niki fuhr sich durch ihre dunklen Locken. Dann betrachtete sie hasserfüllt das elfenhaft schlanke Wesen, das vor ihr stand. »Sie denken wohl, dass Frauen mit ein paar Rundungen kein Recht auf Ihre sturzblöde Designermode haben, was?«, schrie sie. »Das ist diskriminierend! Ich werde mich über Sie beschweren! Und über Dolce und Gabbana!«

Eilig hängte die Verkäuferin das Kleid über einen Bügel und strich es glatt. »Bitte. Wie Sie wünschen.« Sie verzog ihre sorgfältig geschminkten Lippen zu einem schadenfrohen Lächeln. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Mir aus den Augen gehen, Sie elender Hungerhaken!«

Mit einem beherzten Ruck zog Niki den Vorhang der Umkleidekabine zu und ihr weiträumiges Mantelkleid in Eintopfbraun an. Wütend knöpfte sie es zu. Sie lebte einfach in der falschen Epoche. Vier Jahrhunderte früher, und man hätte sie als Muse von Rubens gefeiert. Als Vollweib. Als sinnliche Sensation. Aber in Zeiten von Size Zero blieb ihr nur die Rolle des Freaks. Das Leben war ungerecht.

Eine Minute später stürmte sie hocherhobenen Kopfes aus dem Laden. Sie war den Tränen nahe. »Kauf dir was Schönes«, hatte ihr Mann beim Frühstück gesagt und ihr seine Kreditkarte in die Hand gedrückt. Schließlich war es ihr fünfundzwanzigster Hochzeitstag. Doch es gab nichts Schönes. Nicht für Niki.

Mit einem Schluchzer in der Kehle ging sie an den spiegelnden Schaufenstern entlang. Sie war fünfundvierzig, und sie war kein schlechter Mensch, aber sie musste zugeben, dass sie aussah wie Moby Dick im Trockendock. Was war bloß mit ihr passiert? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie sich wie schon so oft in ein Kaufhaus schleichen würde, in die Abteilung für Umstandskleider. Dort wurde sie zuweilen fündig. Auch wenn sie aufpassen musste, dass sie nicht wieder ein rosa Hängerchen mit Bärchenaufdruck erwischte.

Schniefend rieb sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Wenigstens Wolfgang hielt zu ihr. Ihr Mann liebte sie, so wie sie war. Mit jedem Kilo. Das nannte man wahre Liebe. So was kannte die Verkäuferin bestimmt nicht, dieses mickrige Häuflein Haut und Knochen, dass sich vermutlich dreimal am Tag erbrach und ihre einsamen Abende mit einem Salatblatt teilte.

Als Niki den Duft von frisch gebackenem Kuchen erschnupperte, blieb sie unwillkürlich stehen. Hmm. Es roch buttrig und süß. Wie von einer geheimen Macht gesteuert, betrat sie das Café, dem der Duft entströmte. Mit seinen verstaubten Seidenblumengestecken und den dunklen, schweren Eichenmöbeln schien es eher ein Tortenfriedhof für alte Damen zu sein, doch das war Niki egal. Sie atmete schwer. Die entwürdigende Szene in der Boutique saß ihr noch in den Gliedern. Gut, sie warf inzwischen einen Schatten, der an eine Mondfinsternis grenzte. Aber hatte sie nicht auf den Schreck eine kleine Belohnung verdient? Das bisschen Kuchen.

Am Tresen wählte sie ein Stück Cappuccinotorte und zwei Mandelhörnchen aus. Dazu bestellte sie einen extragroßen Latte Macchiato. Dann verzog sie sich in eine ruhige Ecke. Sobald das herrlich sündige Zeug vor ihr stand, waren alle Bedenken verflogen. Was gab es Besseres als den sahnigen Geschmack von Cappuccinotorte auf der Zunge? Was konnte befriedigender sein als das tiefe Behagen, die letzten Krümel eines Mandelhörnchens mit einem großzügig gesüßten Schluck Latte macchiato runterzuspülen?

Essen ist der neue Sex, sagte Niki immer. Allerdings verschwieg sie lieber, dass es die einzige Variante von Sex war, die ihr geblieben war. Wolfgang hatte sie seit Jahren nicht mehr angerührt. Aber war das nicht normal, nach zweieinhalb Jahrzehnten Ehe und einer erwachsenen Tochter? Es war doch viel wichtiger, dass sie eine wunderbare Freundschaft verband. Wenn sie zusammen im Bett lagen und fernsahen, Niki mit einer Tafel Schokolade und ihr Mann mit seinem Laptop, fehlte ihnen nichts zum Glück. Wirklich nicht.

Sie schob die leeren Teller von sich. Lecker. Doch richtig rund war die Sache noch nicht. Sie dachte kurz nach, dann orderte sie eine Mousse-au-Chocolat-Schnitte. Das Zeug war köstlich. Sogar eindeutig besser als Sex, wenn sie sich an die zwar angenehmen, aber auch schweißtreibenden Leibesübungen am Anfang ihrer Ehe erinnerte. Echte Leidenschaft spürte sie mittlerweile nur, wenn die Geschmacksknospen ihrer Zunge stimuliert wurden. Zum Beispiel von den feinen Aromen einer Käsesahnetorte.

Sie leckte sich die Lippen. O ja. Eigentlich konnte sie noch ein Stückchen Käsesahne vertragen. Kalorien hin oder her, darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Eilig winkte sie die Kellnerin heran und bestellte Nachschub.

Die Käsesahne war eine Offenbarung. Ein Hauch von Creme auf federleichtem Biskuit, abgeschmeckt mit einem Spritzer Zitrone. Der Wahnsinn. Zufrieden lehnte sie sich zurück. Was sich Wolfgang wohl für den Abend ausgedacht hatte? Ob er sie in ihr Lieblingsrestaurant ausführen würde? Ja, ganz bestimmt. Ihr herzensguter Gatte wusste doch, was sie wollte: schlemmen bis zum Pupillenstillstand, eine Flasche Wein und zum Dessert ein, zwei Amaretto. Diese Vorstellung hob ihre Stimmung weiter an. Nur, dass sie immer noch nichts anzuziehen hatte.

Niki zahlte und machte sich auf zum Kaufhaus ihres Vertrauens. Es lag in einer etwas heruntergekommenen Fußgängerzone, jenseits der glamourösen Einkaufsmeile. Das Pflaster war vermüllt, und die Leute, die an ihr vorbeihasteten, sahen nicht so aus, als ob sie Designermode in Übergrößen vermissten.

Sie wollte gerade das Kaufhaus betreten, als sie wie vom Blitz getroffen stehenblieb. Starr vor Entsetzen blinzelte sie in die Morgensonne. Was war das? Es dauerte ein wenig, bis ihr Verstand begriff, was ihre Augen sahen. Dort drüben schlenderte Wolfgang entlang – und er war nicht allein. Nun traf es sie mit der Wucht eines Erdbebens, sie taumelte einen Schritt rückwärts. Wolfgangs Hand lag auf der Schulter einer Frau, die ihn verzückt anlächelte. Sie war jung. Sie war hübsch. Sie war DÜNN!

Nikis Beine knickten ein. Instinktiv klammerte sie sich an den nächstbesten Arm. Er gehörte einem älteren Herrn in einem steingrauen Popelinemantel, dessen spärliches weißes Haar nach allen Seiten abstand.

»So früh am Morgen, und schon betrunken!«, schimpfte er. »Lassen Sie mich gefälligst los!«

Doch Niki musste sich festhalten, sonst wäre sie mit Getöse zu Boden gegangen. Verzweifelt krallte sie ihre Finger in den Mantelstoff und schloss die Augen. Sie hatte genug gesehen. Oder war es nur eine Halluzination gewesen? Als sie die Augen wieder öffnete, schmolz ihre letzte Hoffnung dahin wie ein Nougat-Eclair in der Mikrowelle. Wolfgang war stehengeblieben und küsste die junge Frau. Eng presste sie sich an ihn, während seine Hände zu ihrem kleinen, runden Po wanderten.

Niki dagegen presste sich an einen wildfremden Herrn aus der Abteilung rüstiger Rentner. Vergeblich versuchte er, die schwergewichtige Frau abzuschütteln, die an ihm hing wie ein Koala am Eukalyptusbaum.

»Haben Sie eigentlich noch einen letzten Rest Selbstachtung?«, blaffte er.

»Ist mir gerade abhandengekommen«, schluchzte Niki.

Dann ließ sie den älteren Herrn los und rannte davon, so schnell sie konnte. Blind vor Tränen erreichte sie ihren Wagen. Es war alles aus.

 

Wie durch ein Wunder landete Niki unfallfrei im Carport ihres adretten Einfamilienhauses. Sie hatte ein paar rote Ampeln überfahren und nur um Haaresbreite eine antriebsschwache Rentnerin verfehlt, die in Zeitlupe einen Zebrastreifen überquerte. Wie sie alles hasste! Wolfgang. Seine Geliebte. Am meisten aber sich selbst.

Nachdem sie ausgestiegen war, blieb sie einen Moment lang stehen. Voller Bitterkeit betrachtete sie das Haus, das so viele Jahre ihr Daheim gewesen war, ihre Burg, ihr warmes Nest. Der zweistöckige Bau lag auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von einem anmutig verwilderten Garten mit blühenden Büschen und alten Obstbäumen. Die grüngestrichenen...