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Eine Frage der Schuld - Roman - Mit der 'Kurzen Autobiographie der Gräfin S. A. Tolstaja'

Sofja Tolstaja

 

Verlag Manesse, 2009

ISBN 9783641033880 , 320 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

ZWEITER TEIL

I


Zehn Jahre waren vergangen. Anna lebte nach wie vor mit ihrer Familie auf dem Lande. Die einzige Veränderung in ihrem Leben war der drei Jahre zurückliegende Tod der alten Fürstin, der sie in Trauer das beste Andenken bewahrte.
Sie selbst hatte sich sehr verändert. Aus dem schmächtigen jungen Mädchen war eine stattliche, energische Frau von berückender Schönheit geworden. Unermüdlich rege und tätig, umringt von vier prächtigen gesunden Kindern, schien sie glücklich und mit ihrem Leben vollauf zufrieden. Der Fürst, leicht ergraut, aber noch genauso elegant, schön und gesittet, hatte dem Anschein nach ein unverändert gutes Verhältnis zu seiner Frau. Doch war im seelischen Leben der Ehegatten kaum mehr etwas Gemeinsames geblieben, und dies hatte Auswirkungen auch auf ihr äußeres Leben. Die Liebe des Fürsten, die ihn bewogen hatte, Anna zu heiraten, hatte nicht lange andauern können. Er war ein Mann des Erfolgs, er brauchte vielfältige Gefühlsregungen, so war er es gewohnt! Ein stilles Familienleben auf dem Lande langweilte ihn, und Anna fühlte, daß er nichts dafür konnte. Seine Langeweile indessen ängstigte sie. Sie liebte ihren Mann, sie war eifersüchtig und befürchtete, auch den Rest an Liebe zu verlieren, den er ihr dank ihrer Schönheit, ihrem Frohsinn und ihrer blühenden Gesundheit noch nicht entzogen hatte. Sie fühlte, daß diese Liebe nicht das war, was sie sich gewünscht hatte; das bereitete ihr oft Kummer, und um diese Leere in ihrem Herzen auszufüllen, widmete sie sich den Kindern mit besonders leidenschaftlicher Fürsorge. Ihr Mann hingegen verhielt sich kühl zu ihnen, und Anna fiel es schwer, sich an seine Gleichgültigkeit gegenüber dem zu gewöhnen, was den Mittelpunkt ihres äußeren und inneren Lebens darstellte. Alles mußte sie allein durchstehen: Krankheiten, Zweifel an den Stärken und Schwächen der Kinder, Entscheidungen in bezug auf ärztliche Behandlung und Erziehung, Kinderfrauen und Gouvernanten. Sie erteilte den Kindern selbst Unterricht, da sie es für notwendig hielt, sich möglichst viel mit ihnen abzugeben, um sie besser zu verstehen. Entweder schwieg der Fürst zu Annas Reden über die Erfolge, Charaktere und Krankheiten der Kinder, oder er lächelte gezwungen und gab seine gewohnt sanften und höflichen Sätze zur Antwort, zum Beispiel wie froh er sei, daß ihr Sohn so gut lerne, daß der kleine Juscha bedauerlicherweise von Geburt schwächer sei als die anderen oder daß Manja in ihrem neuen Pelzmäntelchen wirklich niedlich aussehe. Diese achtjährige Manja war der Liebling des Fürsten: Sie war sehr hübsch und sprach fließend Französisch mit einer echt Pariser Aussprache, die sie von ihrer Gouvernante übernommenen hatte und die ihn amüsierte.
Sein Leben hatte sich in nichts verändert: Er kümmerte sich weiter um die Gutswirtschaft, ging auf die Jagd und schrieb seine Aufsätze. Doch Anna sah, daß er alles lust- und antriebslos tat. Er langweilte sich, langweilte sich unerträglich. Das Familienleben war ihm eine Last. Sosehr sich Anna auch bemühte, Zerstreuungen für ihren Mann zu finden, und darauf achtete, mit ihm zusammen Nachbarn zu besuchen oder in die Stadt, zu Wahlen, zu Semstwo-Versammlun gen10 und dergleichen zu fahren – all das hielt nicht lange vor. Zudem nahmen die Kinder sie stark in Anspruch. Immerzu mit ihnen beschäftigt – bald hieß es das eine füttern, bald das zweite umhertragen, bald dem dritten Unterricht erteilen -, fand Anna zwischen ihren häuslichen Obliegenheiten häufig keine Zeit, einfach einen Spaziergang oder eine Ausfahrt mit ihrem Mann zu machen.
In einer solchen Situation und Gefühlslage pflegt man mit einer notwendig scheinenden Veränderung der Lebensumstände zu reagieren. Der Fürst begann davon zu sprechen, daß er seine über diverse Periodika verstreuten Beiträge gern als Buch herausbringen würde. Für eine Drucklegung sei seine Anwesenheit in der Stadt erforderlich, deshalb schlage er Anna vor, ein paar Monate in Moskau zu verbringen. Sie stimmte sofort zu, sah sie darin doch die einzige Möglichkeit für ihn, Zerstreuung zu finden. In letzter Zeit bemerkte sie, daß er häufig die Gesellschaft junger Frauen suchte, in der er sichtlich auflebte. Er legte neuerdings besondere Sorgfalt auf sein Äußeres und zeigte sich beunruhigt, weil sein ehedem prächtiges Lockenhaar zunehmend ergraute und sich lichtete. Sie bekam Angst, daß in ihrem äußerlich wohlgeordneten Heim etwas durcheinandergeraten könnte, und so beschloß sie, energisch für seine Bewahrung zu kämpfen, damit der familiäre Zusammenhalt, vor allem der Kinder wegen, keinen Schaden nahm.
Die Abfahrt nach Moskau wurde für Ende Oktober angesetzt. Der Fürst sagte, er wolle vorher noch in einem abgelegenen Revier auf die Jagd gehen und sich dann an sein Buch machen.
Am ersten September versammelte sich auf dem Hof des fürstlichen Hauses eine kleine, aber illustre Jagdgesellschaft. Die Kinder erfreuten sich bei der Verabschiedung des Vaters an den Pferden und besonders an den Hunden. Manja suchte Notschka, einer schönen schlanken englischen Windhündin, ein Stück Zucker ins Maul zu stecken. Der scheckige, marmorbraune Drakon riß an der Koppel und winselte vor Ungeduld. Die weiße Milka lief frei herum und wartete auf den Fürsten.
Endlich trat er aus dem Haus, verabschiedete sich von Anna und den Kindern, schwang sich auf seinen Kabardiner11, sagte, er werde frühestens in drei Tagen zurück sein, und ritt rasch davon.
Es ging über die Felder zu einem entlegenen Gut von Bekannten, und Anna wußte, daß unter den Jägern eine abseits lebende Nachbarin sein würde, eine Dame, die in letzter Zeit mit dem Fürsten heftig kokettierte. Über diese Dame gab es viel Gerede, auch hieß es, er sei vor seiner Heirat in sie verliebt gewesen. Das alles beunruhigte Anna sehr, sie hätte ihren Mann gern begleitet, stillte aber noch den kleinen Juscha. Das wahre, ernste Leben verlangte sein Recht, und Anna verscheuchte die quälenden Gedanken, um sich wieder auf die von Sorgen, Rastlosigkeit und Liebe erfüllte Kinderwelt zu konzentrieren.
Sobald sie ihren Mann verabschiedet hatte, rief sie die Kinder zum Unterricht. Manja und ihr älterer Bruder, der hübsche Pawlik, waren im Garten. Sie brachten mit Eicheln gefüllte Körbe und berichteten aufgeregt, daß sie in einer Baumhöhle junge Eichhörnchen entdeckt hätten. Doch als sie ihre Mutter ansahen, waren sie betroffen von deren trauriger Miene und legten artig ihre Bücher und Hefte bereit. Der Unterricht dauerte eine Stunde, und noch bevor Anna das Korrigieren der Hefte beendet hatte, kam die Gehilfin der Kinderfrau angelaufen und holte sie zum Stillen des Kleinen ins Kinderzimmer.
Allein geblieben, begannen die Kinder um den Tisch herumzulaufen. Der Weg zum Kinderzimmer führte Anna an dem großen Spiegel im Salon vorbei, und sie warf einen Blick hinein.«O Gott, wie sehe ich aus! Diese weite alte Bluse, das Haar zerzaust! Ich muß an meine Kleidung denken und etwas Schönes aus Moskau bestellen! Gestern hat mein Mann so abfällig davon gesprochen, daß ich mein Äußeres völlig vernachlässige und sehr ‹heruntergekommen› sei. Wozu soll ich mich hier herausputzen? Das ist lästig, und die Zeit habe ich auch nicht dafür. Doch offenbar ist es nötig!»überlegte sie seufzend.
Aus dem Kinderzimmer drang bereits das ungeduldige Geschrei des Säuglings. Anna legte einen Schritt zu und knöpfte noch im Gehen ihre Bluse auf.«Aber, aber, mein Würmchen, wer wird denn so schreien... Ich bin ja schon da», sagte sie, als die Kinderfrau ihr Juschka übergab. Er verstummte, und bald ließen sich ungeduldige Saug- und hastige Schlucklaute vernehmen. Anna ließ ihren matten Blick durch das Kinderzimmer schweifen, diesen vertrauten, ruhigen Zufluchtsort, wo alle ihre Kinder aufgewachsen waren, wo sie so viel Freude und Sorge erlebt hatte, wo sie, das Kind im Arm, nachts gesessen und oft ihre Tränen weggewischt hatte, wenn sie daran dachte, wie unerwartet gleichgültig ihr Mann sich den Kindern gegenüber verhielt.
Sie erinnerte sich auch der Nächte, in denen sie nach stundenlangem Auf-und-ab-Gehen, um das kranke Kind zu beruhigen, zerschlagen ins Schlafzimmer gekommen war, wo ihr Mann sie, ohne ihre Müdigkeit und Kümmernis zu bemerken, in seine Arme geschlossen und leidenschaftlich, ja mit animalischer Begierde die Erwiderung seiner Gefühle verlangt hatte, und wie sie, körperlich und moralisch erschöpft und verletzt durch seine Gleichgültigkeit, sich lautlos weinend seinem Willen unterwarf, aus Furcht, die Liebe des Mannes zu verlieren, dem sie ihr Leben anvertraut hatte.
«Sollte denn nur darin unsere weibliche Berufung bestehen», dachte Anna,«vom körperlichen Dienst für den Säugling zum körperlichen Dienst für den Mann überzugehen? Und das abwechselnd – immerfort! Wo bleibt denn mein Leben? Wo bleibe ich? Ich, die einmal nach Höherem gestrebt hat, dem Dienst an Gott und den Idealen? Müde und zerquält, verlösche ich. Ein...