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Im Dreieck des Drachen - Roman

Im Dreieck des Drachen - Roman

James Rollins

 

Verlag Blanvalet, 2012

ISBN 9783641085025 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

I

VORHER

8.14 Uhr, Pacific Standard Time
San Francisco, Kalifornien

AM TAG DER Sonnenfinsternis verließ Doreen McCloud eilig das Starbucks. Sie hatte um zehn Uhr einen Termin auf der anderen Seite der Stadt, und für die U-Bahn-Fahrt zu ihrem Büro nahe am Embarcadero blieb ihr weniger als eine Stunde. Sie zitterte in der morgendlichen Kühle und umklammerte ihren Becher Mocha, als sie zügig zur U-Bahn-Station an der Kreuzung Market and Castro hinüberging.

Stirnrunzelnd schaute sie zum Himmel auf. Noch musste die Sonne, im Augenblick lediglich eine blasse Scheibe, die dichte Nebeldecke auflösen. Die Sonnenfinsternis war für kurz nach vier Uhr am heutigen Nachmittag angesagt – die erste des neuen Jahrtausends. Es wäre zu schade, würde der Nebel die Sicht verwehren. Die Medien hatten ein regelrechtes Trommelfeuer veranstaltet, und so wusste auch sie, dass die ganze Stadt sich bereithielt, das Ereignis zu feiern. Eine so günstige Gelegenheit konnte San Francisco unmöglich ohne das übliche Tamtam verstreichen lassen.

Doreen schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! In San Francisco herrschte sowieso immer der verdammte Nebel, da rechtfertigten ein paar düstere Augenblicke mehr kaum die ganze Hektik. Zudem war es nicht mal eine totale Sonnenfinsternis!

Seufzend schob sie diese flüchtigen Gedanken beiseite und zog sich ihr Tuch fester um den Hals. Sie hatte wahrhaftig andere Sorgen. Wenn sie diese Sache mit der Delta Bank unter Dach und Fach brachte, war ihr eine Partnerschaft in der Kanzlei sicher. Dieser Gedanke munterte sie auf, während sie die Market Street in Richtung U-Bahn-Station überquerte.

Als sie dort ankam, fuhr gerade der nächste Zug ein. Mit zittrigen Fingern steckte sie ihre Karte in den Entwerter, eilte die Treppe zum Bahnsteig hinab und wartete darauf, dass die Bahn stehen blieb. Erleichtert, dass sie den Termin locker schaffen würde, hob sie den Becher an den Mund.

Ein Stoß gegen den Ellbogen riss ihn ihr von den Lippen. Er flog ihr aus den Händen, und heißer brauner Kaffee spritzte heraus. Nach Luft schnappend fuhr sie herum.

Eine ältere Frau in schlecht zueinander passenden Lumpen und löcheriger Decke starrte sie von unten her an, ihre Augen wirkten irgendwie abwesend. Doreen musste plötzlich an ihre Mutter denken, wie sie im Bett gelegen hatte: der Gestank nach Urin und Medikamenten, die eingefallenen Züge, dazu der gleiche leere Blick. Alzheimer.

Sie wich zurück und klemmte ihre Handtasche unter den Arm. Aber die Obdachlose stellte anscheinend keine unmittelbare Bedrohung dar. Doreen erwartete die übliche Frage nach etwas Kleingeld.

Stattdessen starrte die Frau sie weiterhin mit diesen leeren Augen an.

Doreen wich noch einen Schritt zurück. In ihren Ärger und ihre Furcht mischte sich ein Gefühl des Mitleids. Die anderen Pendler wandten sich langsam ab. Typisch Großstadt. Nur nicht zu genau hinsehen. Sie versuchte, es ihnen nachzutun, doch es gelang ihr nicht. Vielleicht war’s die Erinnerung an ihre Mutter, die längst im Grab lag, oder eine Art Mitgefühl. »Kann ich Ihnen helfen?«, hörte sie sich fragen.

Als die alte Frau sich rührte, entdeckte Doreen inmitten der Lumpen einen halb verhungerten Terrierwelpen. Das spindeldürre Geschöpf drückte sich dicht an die Füße seines Frauchens.

Die Obdachlose bemerkte ihren Blick. »Brownie weiß Bescheid«, sagte sie mit heiserer, vom Alter und vom Leben auf der Straße rau gewordener Stimme. »Er weiß Bescheid, ja, ja.«

Doreen nickte scheinbar verständnisvoll. Man sollte Verrückte am besten nicht provozieren, das hatte sie bei ihrer Mutter gelernt. »Ganz bestimmt.«

»Er sagt mir Dinge, weißt du.«

Erneut nickte sie, kam sich allerdings dabei auf einmal albern vor. Hinter ihr öffneten sich zischend die Türen des Zugs. Wenn sie ihn nicht verpassen wollte, musste sie sich beeilen.

Sie wollte sich schon abwenden, als ein welker Arm unter der löcherigen Decke hervorgeschossen kam; knochige Finger umklammerten ihr Handgelenk. Instinktiv riss Doreen ihren Arm weg. Zu ihrer Überraschung hielt die alte Frau sie weiterhin fest und schlurfte noch näher heran. »Brownie ist ein guter Hund«, sagte sie sabbernd. »Er weiß Bescheid. Er ist ein guter Hund.«

Doreen riss sich von der Frau los. »Ich … ich muss los.« Die Alte wehrte sich nicht. Ihr Arm verschwand in ihrer Decke.

Doreen wich in die offene Tür des Zugs zurück, den Blick nach wie vor auf die alte Frau geheftet, die sich jetzt offenbar wieder in ihre Lumpen und ihre qualvollen Träume zurückzog. Sie entdeckte, dass der Welpe ihren Blick erwiderte. Als sich die Zugtüren schlossen, hörte sie die Obdachlose murmeln: »Brownie. Er weiß Bescheid. Er weiß, dass wir alle heute sterben müssen.«

13.55 Uhr, PST (11.55 Uhr Ortszeit)
Aleuten, Alaska

Am Morgen der Sonnenfinsternis arbeitete sich Jimmy Pomautuk geübt und vorsichtig den vereisten Hang hinauf. Sein Hund Nanook trabte ihm ein paar Schritt voraus. Der große Malamute kannte den Weg gut, doch hielt er, stets der getreue Gefährte, nach wie vor ein wachsames Auge auf seinen Herrn gerichtet.

Hinter dem alten Hund führte Jimmy drei englische Touristen – zwei Männer und eine Frau – auf den Gipfel des Glacial Point oberhalb von Fox Island. Die Aussicht von dort oben war unglaublich. Seine Inuit-Vorfahren waren dorthin gekommen, um den großen Orca anzubeten, hölzerne Totems zu errichten und Opfersteine über die steilen Felsen ins Meer zu werfen. Sein Urgroßvater war der Erste gewesen, der ihn zu diesem heiligen Ort mitgenommen hatte. Fast dreißig Jahre war das jetzt her. Damals war er noch ein Knabe gewesen.

Heutzutage war der Ort auf den meisten Karten verzeichnet, und die Schlauchboote der verschiedenen Kreuzfahrtlinien luden ihre menschliche Fracht an den Kais des zauberhaften Port Royson ab.

Neben dem malerischen Hafen galten die Felsen von Glacial Point als die andere Hauptattraktion der Insel. An einem klaren Tag wie heute konnte man die gesamte Inselkette der Aleuten überblicken, wie sie sich in einem unendlichen Bogen in die Ferne erstreckte. Dieser Anblick war Jimmys Vorfahren unbezahlbar gewesen; die moderne Welt hatte dafür jedoch vierzig Dollar pro Kopf in der Nebensaison und sechzig Dollar während der warmen Monate zu entrichten.

»Wie weit ist das denn noch, verdammte Scheiße?«, fragte eine Stimme hinter ihm. »Ich friere mir hier noch den Arsch ab!«

Jimmy wandte sich um. Er hatte die drei darauf aufmerksam gemacht, dass es immer kälter werden würde, je weiter sie sich dem Gipfel näherten. Die Gruppe war mit gleichartigen Overalls, Handschuhen und Stiefeln von Eddie Bauer ausgestattet. Kein einziger Faden ihrer teuren Kleidung zeigte auch nur eine Gebrauchsspur. Hinten am Parka der Frau baumelte sogar noch ein Preisschild.

Jimmy zeigte mit dem Arm in die Richtung, in die sein Hund gerade verschwunden war. »Gleich über die nächste Anhöhe. Fünf Minuten. Dort gibt’s eine Hütte zum Aufwärmen.«

Der Mann, der sich beklagt hatte, schaute knurrend auf seine Uhr.

Jimmy verdrehte die Augen und setzte seinen Marsch den Hügel hinauf fort. Wenn er nicht auf sein Trinkgeld als Führer verzichten wollte, sollte er besser der Versuchung widerstehen, die ganze Bande über die Felsen zu werfen. Ein Opfer an die Meeresgötter seiner Vorfahren. Also trabte er wie stets einfach weiter und erreichte schließlich den Gipfel.

Hinter sich hörte er die drei nach Luft schnappen. Die meisten Leute reagierten bei diesem Anblick so. Jimmy drehte sich um und wollte seine übliche Ansprache über die Bedeutung dieses Orts vom Stapel lassen, erkannte dann aber, dass seine Begleiter überhaupt nicht auf die grandiose Aussicht achteten, sondern damit beschäftigt waren, hastig jeden Quadratzentimeter bloßliegender Haut vor den milden Winden zu schützen.

»Ist das kalt!«, meinte der zweite Mann. »Hoffentlich zerspringt die Linse meiner Kamera nicht. Ich fände es absolut scheiße, wenn ich den ganzen verdammten Weg hier raufgewandert wäre und könnte nicht mal was vorzeigen.«

Jimmy ballte die Hände zu Fäusten. Er zwang sich, gleichmütig zu sprechen. »Die Hütte liegt zwischen der Gruppe schwarzer Kiefern da drüben. Warum gehen Sie nicht hin? Wir müssen noch ein bisschen auf die Sonnenfinsternis warten.«

»Gott sei Dank«, sagte die Frau. Sie lehnte sich an den Mann, der sich als Erster beklagt hatte. »Beeilen wir uns, Reggie.«

Jetzt bildete Jimmy das Schlusslicht. Die drei Engländer rannten auf das dürre Gestrüpp aus Kiefern zu, das geschützt in einer Senke lag. Nanook gesellte sich zu ihm und stieß mit der Nase gegen seine Hand – eine Aufforderung, ihn hinter dem Ohr zu kraulen.

»Guter Junge, Nanook«, murmelte Jimmy. Sein Blick fiel auf die Rauchspur im blauen Himmel. Wenigstens hatte sein Sohn seine Pflichten erfüllt und heute Morgen die Kohlen aufgelegt, bevor er zum Festland abgefahren war, um dort die Sonnenfinsternis mit Freunden zu feiern.

Einen äußerst merkwürdigen Augenblick lang überrollte Jimmy eine Woge der Melancholie beim Gedanken an seinen einzigen Sohn. Diese plötzliche Stimmung war ihm unerklärlich, und er schüttelte den Kopf. Das lag an diesem Ort. Irgendwer schien hier stets gegenwärtig zu sein. Vielleicht die Götter meiner Vorväter, dachte er nur halb im Scherz.

Jimmy ging weiter auf die wärmende Schutzhütte zu. Auf einmal wollte er der Kälte ebenso sehr entkommen wie die Touristen. Sein Blick folgte der...