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Die Brückenbauer - Roman

Jan Guillou

 

Verlag Heyne, 2012

ISBN 9783641096649 , 800 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

 

1 – Das Wikingerschiff

Die Männer blieben auf dem Meer. So war das Leben. Das war früher geschehen, und es würde wieder geschehen, denn dies war das Los der Küstenbewohner, auf Osterøya und anderen Inseln und an anderen Fjorden.

Somit waren die Jungen Lauritz, Oscar und Sverre vaterlos geworden und auch die kleinen Mädchen Turid, Kathrine und Solveig.

Was dort draußen passiert war, wusste keiner, und für gewöhnlich erfuhr man es auch nie. Der Sturm war zwar schwer gewesen, wie das bei späten Februarstürmen manchmal der Fall war, aber Lauritz und Sverre waren fähige Segler, größer und stärker als die meisten und auf See groß geworden. Von ihnen sagte man halb im Scherz, dass sie zweifellos von den Wikingern abstammten. Ihr Vater war ebenso gewesen.

Man konnte es nur vermuten. Das Eis dürfte zu dieser Jahreszeit nicht die Ursache gewesen sein. Auch nicht, dass sie auf Grund gelaufen oder vom Kurs abgekommen und an einer Felswand zerschellt waren, dafür waren sie zu routinierte Seeleute, die die Fjorde und die Seewege aufs offene Meer wie ihre eigenen schwieligen Handflächen kannten. Vielleicht hatten sie Mastbruch erlitten, oder sie hatten unerwartetes Glück beim Fischfang gehabt, und die Ladung war zu schwer geworden und hatte sich verschoben, als sie dem Sturm zu entkommen versuchten. Aber Vermutungen brachten einen auch nicht weiter.

Der Pastor kam nach einer Woche aus Hosanger he­r­über, als er sicher sein konnte, dass keine Hoffnung mehr bestand und dass die Verantwortung für die beiden Witwen von den Ehemännern an die Kirche übergegangen war. Er traf mit dem Dampfschiff in Tyssebotn ein und fragte sich von dort aus durch.

Frøynes Gård lag im Windschatten eines steinigen Hügels unweit des Dampfschiffanlegers. Auf dem Hof gab es zwei Wohnhäuser, was sehr ungewöhnlich war, einen Stall, zwei Scheunen und alte Vorratsspeicher, die zum Schutz vor Raubtieren auf hohen Pfosten standen. Alles war gut in Schuss und zeugte eher von bescheidenem Wohlstand als von der Armut, die sonst auf den Inseln verbreitet war. Die Brüder Eriksen waren fleißige, gottesfürchtige Männer gewesen und hatten gut für ihre Familien gesorgt. Sie hatten sogar ihr eigenes Fischerboot gebaut mit einem Laderaum, der doppelt so viel Platz für den Fang bot wie üblich.

Der Geistliche suchte die beiden Witwen, die bereits Trauerkleider trugen, in dem etwas größeren der beiden Wohnhäuser auf, in dem Lauritz’ Ehefrau Maren Kristine mit ihren drei Jungen wohnte. Die Jungen in ihren Sonntagskleidern saßen mit rot geränderten Augen auf einer der Wandbänke in der Stube und neben ihnen die drei kleinen Mädchen, Sverre Eriksens und Aagots Töchter, in schwarzen Kleidchen. Der Pfarrer vermutete, dass es schwarz eingefärbte Sommerkleider waren. Die sechs Kinder boten einen herzerweichenden Anblick.

Die beiden Witwen saßen aufrecht und starr da, als sie dem Geistlichen zuhörten. Sie waren beherrscht, vergossen keine Tränen. Es war deutlich, dass ihnen ihre Würde wichtig war.

Worte des Trostes fand der Pastor keine, was hätte er auch sagen sollen? Er hielt sich ans Praktische. In Fällen, in denen keine Toten zu begraben waren, fand ein Gedenkgottesdienst statt, in dem am Schluss die Seelen der Verstorbenen gesegnet wurden. Man einigte sich auf den Tag.

Anschließend kam die schwierigere Frage, wie die Fa­milien ohne das Einkommen aus dem Fischfang zurechtkommen würden. Die beiden Witwen waren jung, Anfang dreißig, wenn überhaupt so alt, und insbesondere Maren Kristine war eine auffällige Schönheit, rothaarig, sommersprossig und mit großen blauen Augen. Außerdem besaß sie einen nicht unbescheidenen Hof. Es würde ihr sicher nicht schwerfallen, einen neuen Mann zu finden. Das Gleiche galt für ihre Schwägerin.

Dieses anzusprechen wäre in diesem Moment äußerst unpassend gewesen, weshalb der Geistliche sich nach den in allernächster Zeit zu bewältigenden Aufgaben erkundigte. Zu essen gab es genug auf dem Hof: Schafe, Schweine und Hühner, außerdem vier Milchkühe. Da jetzt weniger Münder satt werden mussten, würden die Witwen Käse zum Verkauf herstellen können. Sie gaben an, auch Stoffe weben und färben zu können.

Wären die drei vaterlosen Mädchen älter gewesen, hätte man sie als Mägde in herrschaftliche Familien in Bergen geschickt. Aber das kam nicht infrage, da die Älteste gerade erst neun Jahre alt war.

Bei den Knaben verhielt es sich anders, obwohl auch sie erst zwölf, elf und zehn Jahre alt waren. Sie konnten sich als Lehrlinge in Bergen verdingen, wo alles, was mit Seefahrt und Fischfang zu tun hatte, produziert, gebaut und repariert wurde.

Diese Möglichkeit hatten die Witwen bereits in Erwägung gezogen. Maren Kristines Bruder Hans Tufte arbeitete als Seiler bei Cambell Andersen in Nordnes. Sie hatte ihm bereits geschrieben. Er war zweiter Werkmeister in der Seilerei, besaß also einen gewissen Einfluss, und so Gott wollte, würden sie bald drei Münder weniger zu stopfen haben. Vielleicht würden die Jungen mit der Zeit sogar etwas dazuverdienen.

Der Geistliche betrachtete die drei Jungen, die mit gesenkten Köpfen auf der Wandbank saßen, ohne ein Wort zu sagen oder zu erkennen zu geben, was sie darüber dachten, als Arbeiter in die Stadt ziehen zu müssen. Mit Sicherheit nicht das, was sich die drei Fischersöhne für ihre Zukunft gewünscht hatten. Aber die Not kannte nun mal kein Gebot.

Sehr viel mehr gab es für den Geistlichen nicht zu sagen. Er deutete an, dass er mit einer wohltätigen Gesellschaft in Bergen Kontakt aufnehmen wolle, aber versprechen könne er natürlich nichts. Mit Trauer im Herzen aß er von ihrem frisch gebackenen Brot, wissend, dass es schlimmer war, abzulehnen, als es den sechs Kindern buchstäblich wegzuessen. Die Fischer am Osterfjord nahmen es mit der Moral und der Würde sehr ernst.

Als er sich zum Dampfschiffanleger begab, um jemanden zu dingen, der ihn nach Hosanger segeln konnte, verspürte er sowohl Erleichterung darüber, die schwere Pflicht hinter sich gebracht zu haben, als auch ein schlechtes Gewissen, weil er solch eine Erleichterung empfand. Es hätte viel schlimmer sein können. Doch die schwere Zeit der Trauer und Armut stand den Witwen noch bevor.

Sie mussten, so schrieb es der Brauch vor, mindestens ein Trauerjahr warten, ehe sie überhaupt daran denken konnten, sich einen neuen Mann zu nehmen, aus Not eher als aus Lust.

*

Jon Tygesen war Maschinist des Dampfschiffes Ole Bull , seit es im Frühjahr 1883 in Dienst gestellt worden war. Inzwischen brauchte er nur noch einen kurzen Blick über die Reling zu werfen, um zu wissen, wo auf der Strecke mit den vierzehn Landungsbrücken, die nördlich von Bergen angelaufen wurden, er sich befand. Er war die Aussicht inzwischen leid und fand die Ausländer, die nur zum Vergnügen mit dem Dampfschiff fuhren, ganz und gar unbegreiflich. An der heutigen Fahrt nahmen vier Ausflügler teil, zwei Männer und zwei Frauen, wenn er es richtig mitbekommen hatte, aus England. Draußen auf dem Fjord saßen sie in ihren Ledersesseln im Erste-Klasse-Salon, aber sobald der Dampfer anlegte, kamen sie in dicken Mänteln mit Pelzkragen an Deck, deuteten auf die Gipfel und gestikulierten lebhaft. Die Frauen stießen immer wieder verzückte Rufe aus. Seltsame Leute waren das.

In Tyssebotn war er selbst an Deck gekommen, um frische Luft zu schnappen. Es war sonnig, aber kühl, in der Nacht war oben auf dem Høgefjell viel Schnee gefallen, obwohl es bereits Anfang Mai war.

Unten auf dem Kai fielen ihm drei kleine Jungen auf. Sie trugen handgestrickte Pullover in ungewöhnlich blauen Farbtönen. Aber mehr noch als die Jungen zog ihre schwarz gekleidete Mutter die Blicke auf sich. Sie war eine ansehnliche Frau, selbst in Trauerkleidung. Gefasst verabschiedete sie sich von ihren Söhnen. Sie gab ihnen die Hand, die Jungen machten einen Diener, woraufhin sie sich zum Gehen wandte. Sie ging ein paar Schritte, besann sich dann aber, lief zurück, kniete sich hin und umarmte alle drei kurz und fest. Dann stand sie abrupt auf und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.

Jon Tygesen wusste, wer die drei Jungen waren. Er hatte von dem Fischerboot Soløya gehört, das mit Mann und Maus untergegangen war. Die armen Teufel, dachte er. Jetzt müssen sie in die Stadt und sich dort abrackern. Es ist kalt, und sie können sich natürlich nur einen Decksplatz leisten. In diesem Augenblick kam der Kapitän und stellte ihm eine Frage, und er verlor die Jungen aus den Augen.

Sie waren an Eikangervåg vorbei und hatten ein gutes Stück der Strecke hinter sich, als er die drei Jungen die hintere Leiter in den Maschinenraum klettern sah. Er stand weiter vorn und schaufelte Kohle hinter dem großen Dampfkessel, wo sie ihn nicht sehen konnten. Er stützte sich auf die Schaufel und betrachtete sie. Wahrscheinlich wollten sie sich einfach nur aufwärmen. Sie waren die einzigen Deckspassagiere, alle anderen hatten die fünfundzwanzig Öre Zuschlag bezahlt, um unter Deck gehen zu dürfen. An Deck war es ungeheuer kalt.

Das verstieß natürlich gegen die Regeln. Den Passagieren war es strengstens untersagt, sich im Maschinenraum aufzuhalten. Er würde sie rauswerfen müssen. Er beschloss jedoch, als Akt der Nächstenliebe sozusagen, noch etwas damit zu warten, damit sie sich zumindest halbwegs aufwärmen konnten. Als er sie so insgeheim beobachtete, schien es ihm, als seien sie gar nicht wegen der Wärme gekommen, sondern wegen des Dampfkessels und der Maschine. Sie gestikulierten lebhaft und mit eifrigen Gesichtern. Jon Tygesen trieb es...