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Die vierte Zeugin - Historischer Roman

Tanja Kinkel, Oliver Pötzsch, Martina André, Peter Prange, Titus Müller, Lena Falkenhagen, Caren Benedikt, Ulf Schiewe, Marlene Klaus, Katrin Burseg, Heike Koschyk, Alf Leue

 

Verlag Aufbau Verlag, 2012

ISBN 9783841205292 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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8,99 EUR


 

PROLOG


Geneigter Leser, teuerste Leserin, willkommen in Köln! Nur zu, treten Sie näher, betreten Sie Colonia Agrippina. Wir sind eine freie Reichsstadt, und jeder ist willkommen, vor allem, wenn er Handel zu uns bringt. Nun ja, nicht jeder. Ketzer sehen wir hier nicht so gerne. Vor ein paar Jahren hat unser Erzbischof Herrmann von Wied die Schriften Luthers öffentlich verbrennen lassen, aber das muss man verstehen. Mit dem Weiterbau des Doms will es einfach nichts werden, seit die Spenden und der Erlös aus dem Ablassgeschäft zurückgehen. Betrachten Sie doch das traurige Ergebnis: ein Südturm, der einem verfaulten Zahnstummel gleicht, mit einem Holzkran, der seit Jahren, ach was, Jahrzehnten vor sich hin modert; und ein Querhaus, das gibt es überhaupt nicht. Dagegen muss man etwas unternehmen, sonst ist unser Bestreben, den größten und schönsten Dom im Reich zu erbauen, bald endgültig zum Scheitern verurteilt.

Am heutigen Sonntag allerdings wird Seine Exzellenz der Erzbischof nicht über die Übel der Ketzerei predigen. Dass er überhaupt spricht, ist ungewöhnlich; an vielen Sonntagen lässt er sich vertreten, von seinem Koadjutor Adolf von Schaumburg. Das ist ein Mann mit Zukunft, heißt es bei uns in Köln, ein kluger, feiner Herr, der es noch selbst zum Bischof bringen könnte. Nun schaut er für gewöhnlich ernst drein, aber gar so viele Falten wie heute, die hat er sonst nicht auf der Stirn. Und sehen Sie, wie er zum Dom schreitet? Mit hängenden Schultern, als wäre er ein armer Sünder vor der Kirchbuße und nicht der engste Vertraute des Erzbischofs, dem er auch heute wieder bei der Predigt beistehen wird. Was sich dahinter wohl verbirgt, das möchten unsere klatschfreudigeren Mitbürger gerne wissen und beschließen, sich doch zur Sonntagsmesse sehen zu lassen. Womöglich liegt ihm der Tod des Tuchhändlers Imhoff im Magen, ist doch die Imhöffin sein Beichtkind und gewiss untröstlich. Auch wenn böse Zungen meinen, was sie am meisten vermissen werde, seien die rauschenden Feste, die ihr Gemahl zu veranstalten pflegte. Ganz in Brüsseler Spitze und Seide hat er sie immer gekleidet, der Andreas Imhoff, und wie gut hat sie es getragen! Eine Schönheit, unbestritten, unsere Agnes Imhoff, und so mancher Kölner hat den verstorbenen Andreas um sie beneidet. Und eine liebenswerte Gastgeberin war sie auch. Jeder ist gerne zu ihren Festen gegangen. Nicht, dass jeder eingeladen war. Ein Auge auf reiche Gäste hat Andreas Imhoff schon gehabt, oder wenigstens auf solche, die seinem Geschäft nützen konnten.

Der sehnige Kerl mit den aschblonden Haaren zum Beispiel, der jetzt gerade auf den Dom zueilt, der war eingeladen. Ein englischer Kaufmann, Richard Charman geheißen; niemand hat sich gewundert, dass er bei den Imhoffs gerne gesehen war, bei seinem Geld. An der Messe teilgenommen hat er dagegen noch nie, und es wundert, ihn heute hier zu sehen. Ob die Engländer noch als richtige Christen zählen, ist eine knifflige Frage, seit ihr fetter König Henry es sich in den Kopf gesetzt hat, sich selbst zum Oberhaupt seiner Kirche zu ernennen, obwohl er doch den Luther hasste wie die Pest. Aber nun herrscht ja seine älteste Tochter Maria, die eine ordentliche Katholikin ist, und vielleicht will Meister Charman sich schon einmal auf ein gut katholisches Leben einstimmen, ehe er auf seine Insel zurückkehrt. Nach der sauren Miene zu schließen, die er gerade zieht, stimmt ihn die Aussicht darauf nicht eben glücklich. Nehmt Euch zusammen, Gevatter! Wenn Seine Exzellenz predigt, gibt man sich als Zuhörer beeindruckt, will man hier in Köln weiterhin reüssieren. Der Mann, auf den Ihr gerade zueilt, wird Euch genau das Gleiche raten. Helmbert Bellendorf ist Anwalt, und er weiß, wie wichtig es ist, sich mit der Kirche gut zu stellen.

Er ist außerdem endlich einmal jemand, der freudig beschwingt durch die Gegend stolziert, statt schmerzlich die Augen zu verdrehen, und das heißt bei ihm gewiss, dass er einen neuen Fall am Haken hat. Einen fetten, einträglichen, denn für weniger ist er nicht zu haben, unser Meister Bellendorf. Schaut ihn an, geneigte Leserin, teurer Leser. Das ist spanische Seide, die er trägt, und sein Siegelring ist wuchtig genug, um auf drei Finger einer weniger zupackenden Hand zu passen. Ein solcher Mann übernimmt keine Fälle, bei denen er sich nicht einen klaren Sieg verspricht.

Gespannt ist man bei unseren Kölnern schon sehr, denn die Gerüchteküche hat seit dem Tod des Imhoffers nicht aufgehört zu brodeln, und jeder will wissen, welche Leichen denn noch in den so gut bestückten Kellern verborgen sind. Schließlich strömen sie nicht alle zu unserem immer noch nicht fertig gebauten Dom, um von den Leiden Christi zu hören. Abgesehen vielleicht von solchen treuen Seelen wie die kleine Magd Stingin, die bei den Imhoffs im Dienst war und jeden Tag mit den Knien den Kirchboden glattwetzt, seit ihr Herr gestorben ist. Dabei hat sie nie den Eindruck gemacht, sehr an ihm zu hängen. Wenn man sie ihre Herrschaft rühmen hörte, dann war es immer Agnes’ Name, den sie im Mund führte, und sie kam aus dem Loben und Preisen der Imhöffin gar nicht mehr heraus. Nur seit dem Tod des Andreas ist sie mit Stummheit geschlagen, wenn sie nicht gerade betet und den süßen Herrn Jesus um Gnade bittet. Aber Stingin ist eben eine Magd, und niemand achtet auf sie.

Die Gevatterin dagegen, die jetzt die Kirche betritt, weiß, wie man Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dabei ist sie bloß mit einem Hutmacher verheiratet, die Gerlin Metzeler, nicht mit einem reichen Tuchhändler wie Andreas Imhoff. Aber so, wie sie die Treppe zum Dom hinaufschreitet, könnte sie eine Königin sein, hochgewachsen, elegant und unbekümmert darum, wessen Blicke auf ihr ruhen. Sie taucht beileibe nicht jeden Sonntag zur Messe auf, ganz wie ihr verstorbener Vater, ein unmöglicher Mensch mit einem heidnischen Namen aus dem fernen Norden, aber heute ist sie hier. Vielleicht, um ihrer Cousine zur Seite zu stehen, der Witwe Imhoff? Dabei sollen die beiden nicht immer ein Herz und eine Seele gewesen sein. Einige unserer Bürger beschwören, dass der verstorbene Andreas zuerst um Gerlin warb, ehe er sich für Agnes entschied, aber das ist nun schon Jahre her. Sie hat dann den Hannes Metzeler genommen, die blonde Gerlin, und ihm drei Söhne geschenkt, so dass sie wohl mit ihrem Schicksal zufrieden ist, auch wenn ihr Gatte häufiger die Schenken heimsucht, als es für sein Geschäft gut sein kann. Heute Morgen scheint er nüchtern zu sein, aber er geht einen halben Schritt hinter seiner Gattin und kneift die Augen zusammen im hellen Licht der Septembersonne. Es war wohl wieder eine lange Nacht gestern. Gerlin achtet nicht auf ihn. Stattdessen schaut sie sich um, als warte sie auf jemanden, und tatsächlich, da kommt sie: Agnes Imhoff, in dunklen Witwenkleidern, wie es sich geziemt, mit ihrer kleinen Tochter an der Seite.

Einen Nachfolger für das Geschäft ihres Gemahls hat sie noch nicht gefunden, die Imhöffin, und sie hat auch keinen Bruder, Schwager oder Vater, der sie zur Messe geleiten könnte. Sie kommt alleine. Manche Leute fragen sich, wie lange das so bleiben wird: Eine reiche Witwe, schön und von angenehmer Wesensart, noch jung genug, um weitere Kinder zu bekommen – nach so einer Partie leckt sich doch jeder die Finger. Aber es gibt auch andere Gerüchte. Gerüchte, die besagen, dass es mit den Geschäften des Tuchhändlers Imhoff zum Schluss gar nicht so gut stand. Eine arme Witwe mit einem kleinen Gör, das zu jung ist, um verheiratet zu werden, und einem nur auf der Tasche liegt, ist natürlich eine ganz andere Angelegenheit. Zwar soll ihr der verstorbene Andreas vor seinem Tod sein gesamtes Hab und Gut überschrieben haben, doch wenn davon nichts mehr vorhanden ist, nützt es niemandem, nicht wahr? Ein Mann will schließlich wissen, wo er steht, und so gibt es niemanden, der sie anspricht, um ihr sein Geleit anzutragen.

Manche Augen richten sich auf den Engländer, der so häufig bei Imhoffs ein- und ausging. So verbunden war er dem Ehepaar, dass er ihnen Geld geliehen haben soll, und nicht nur kleine Summen. Springt Richard Charman der Witwe Imhoff zur Seite, begrüßt er sie zumindest, wie es einem alten Gastfreund gebührt? Das tut er nicht. Stattdessen wendet er sich ab.

Oh, teurer Leser, mir scheint, wir müssen das Schlimmste annehmen. Richard Charman will sein Geld zurückhaben und hält es offenbar nicht für möglich, auf friedliche Weise zu seinem Recht zu kommen. Meister Charman, da seht Ihr, wohin es führt, wenn man sein Vermögen für weltliche Dinge ausgibt. Hättet Ihr die gleiche Summe für den Bau des Doms gespendet, dann hätten wir alle etwas davon gehabt, und unsere Nachkommen noch dazu. Meint Ihr wirklich, dass die schöne Agnes es Euch wiedergeben kann? Immerhin war es ihr Gemahl, der Schulden machte. Wie es bei Euch Engländern zugeht, mag der Himmel wissen, aber hierzulande darf man treue Gattinnen eigentlich nicht für das belangen, was ihre Männer ausgegeben haben. Doch das weiß Helmbert Bellendorf nur zu gut, keiner besser als er, und wenn er trotzdem so siegesgewiss in die Gegend schaut, nun, dann muss es noch andere Umstände geben, die unseren Kölnern noch nicht bekannt sind.

Die Imhöffin grüßt ihre Cousine Gerlin Metzeler und betritt mit ihr den Dom. Ungeachtet des Anlasses kann niemand leugnen, dass es sich bei den beiden um den schönsten Anblick von Köln handelt. Wäre er nicht auf eine Art zu Tode gekommen, die uns allen Rätsel aufgegeben hat, würde ich sagen, dass jeder Mann gerne in den Schuhen des verstorbenen Andreas gesteckt hätte. So eine Wahl zu haben, wer wünschte sich das nicht?

Bis auf Seine erzbischöflichen Gnaden, versteht sich. Bischöfe anderen Ortes mögen es mit ihrem...