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Dünne Haut - Kriminalroman

Franz Kabelka

 

Verlag Haymon, 2012

ISBN 9783709975046 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

1 REDEN WIR HALT


Sein Versuch, den flaumigen Wall aus Kissen und Federbett zu überwinden, um den Schalter der Nachtkästchenlampe ertasten zu können, scheitert schon im Ansatz. Was ist es, das ihn ins Weiche zurückdrückt, getränkt mit einem angenehmen Geruch, Moschus vermutlich, der wohlig aus dem Träumeland herüberwabert, aus tiefster Bettwärme? Etwas in seinem Schädel ist noch krampfhaft darum bemüht, die idyllische kleine Insel festzuhalten, auf der der Kaiman sich in der Sonne aalt, ein Eiland voll exotischer Pflanzen und Tiere, mit fallenden Kokosnüssen als einziger Gefahrenquelle für das gewaltige Reptil. Bis der Mensch kommt. Der Jäger, der sich von hinten anpirscht, immer von hinten, um das Tier am Schwanz zu packen und nicht mehr loszulassen, bis es sich im Zoo wiederfindet, lebendig und tot zugleich. Kaiman oder Jäger? Aber spiegelt nicht ohnehin eine jede Traumgestalt nur dich und deinen Seelenzustand wider? Wer hat das gesagt? Egal – aufwachen, Hagen, heraus aus deiner Taucherglocke! Er wartet auf dich, der seichte Steppensee der Realität, durch den es wie ein Reiher zu staksen gilt auf der Suche nach den Würmern, die das Überleben garantieren …

Etwas nestelt an ihm herum. Dieses unangenehme Gefühl hatte er zuletzt vor zwei Jahren, als er nach seiner Schulteroperation aus der Narkose erwachte. Es irritiert ihn, dass sich seine rechte Hand nicht bewegen lässt. Dass sie nicht wie gewöhnlich unter dem Polster ruht, um im Schlaf Kinn und Wange zu stützen, sondern hochgezurrt ist in eine unnatürliche Stellung. Ersatzweise versucht er, seine Linke einzusetzen. Die Reaktion ist ein harter Griff und eine Schlinge ums Handgelenk. Eine leicht duftende Schlinge. Dünn und doch reißfest, wie ein Damenstrumpf.

Auf ihm die Silhouette einer weiblichen Gestalt. Ihr Gewicht drückt ihm den Brustkorb zusammen. Jetzt ist auch sein zweiter Arm am Bettgestell fixiert. Und als die Augen sich langsam an die Schattenwelt zu gewöhnen beginnen, geht mit einem Schlag das Licht an.

Ein Licht, das jeden Zweifel über seinen Zustand beseitigt. Ob er schon wach ist oder noch träumt.

Sie hockt auf ihm wie ein Ringer auf dem Besiegten, mit einem orangen Ding in ihrer Hand.

Schwer zu sagen, wie sie an sein Stanley rangekommen ist. Vielleicht hat sie es bei ihrem Besuch in der offenen Schublade gesehen und einfach mitgehen lassen. Den Cutter mit der versenkbaren Klinge, den er immer dabeihat, wenn er verreist. Ein Leatherman wäre zweifellos standesgemäßer.

Die Situation hat etwas furchtbar Triviales an sich. Die kurze Klinge blitzt und funkelt nicht gefährlich im Mondlicht, wie die klassische Waffe in einem Thriller es zu tun pflegt, sobald es ans Eingemachte geht. Die mausgrauen Jalousien geben dem Mond ja gar keine Chance, die Szene dramatisch zu beleuchten, und ein gerade mal fünfzehn Zentimeter langer Kartonschneider ist auch nicht die klassische Waffe. Kurios, denkt Hagen, wie einfachste Dinge es manchmal schaffen, dem Leben wenn schon keinen Sinn, so doch eine gewisse Struktur zu geben, Anknüpfungspunkte: In seinem letzten großen Fall hat ein Kartonklebeband eine wichtige Rolle gespielt, um Mund und Hals eines alten Obdachlosen gewickelt. Selbstmord oder Mord, so lautete damals die Frage. Im Prinzip riecht es hier, mit seinem Stanley in ihrer Rechten, nach derselben traurigen Alternative.

Mit dem feinen Unterschied, dass die Variante Mord diesmal ihn, den Chefinspektor a. D., höchstpersönlich betreffen würde.

Außer Dienst. Es ist ihm nicht leicht gefallen in den vergangenen Wochen, dieses a. D. hinter seinem Amtstitel zu akzeptieren. Dass man es angesichts seiner jetzigen Zwangslage auch als Ade, als endgültige Verabschiedung lesen könnte, daran hat er bisher nicht gedacht.

Sie ist von seinem gefesselten Körper heruntergerutscht und steht vor ihm, wie er es von ihr kennt: sexy, lässig. Nur ihr Blick passt nicht dazu. Der passt besser zum Schneidewerkzeug in ihrer Hand.

„So“, sagt sie und betrachtet ihr Werk.

Ihre Stimme könnte nüchterner nicht klingen. Wie in einer James-Bond-Szene, wo der Agent X den Agenten Y geschäftsmännisch neutral auffordert, der eigenen Liquidation mannhaft ins Auge zu sehen. Was Y üblicherweise auch tut. Spione haben das offenbar verinnerlicht, zumindest im Film. Wenn das Spiel aus ist, gibt es nichts zu jammern, wird nicht um Gnade gewinselt. Gegebenenfalls vollführt man noch eine Pirouette, trifft mit dem gestreckten Bein punktgenau den Revolver, die Waffe wechselt im Flug den Besitzer, und nun ist X der Gelackmeierte, schaut seinerseits in die kleine runde Öffnung. Keine Zeit für Schockzustände. Wenn die Kugel einem das Hirn beim Hinterkopf hinaustreibt, ist wenig Gefühl im Spiel. Auch nicht beim Kinopublikum. Das Gesetz der Spionage ist ein Naturgesetz, und jeder Beteiligte kennt und akzeptiert es: Wer schneller abdrückt, hat recht. Überleben als einziges Kriterium. Aber das fällt dem Guten im Film natürlich wesentlich leichter als in der profanen Wirklichkeit. Zumal der Agent im Film nicht ans Bett gefesselt ist, wortwörtlich.

„Setz dich auf“, sagt sie.

„Witzig“, sagt er, „wie denn?“

Die Strümpfe schnüren ihm das Blut ab. Er merkt, dass es um seinen Kreislauf nicht zum Besten bestellt ist. Ein leichter Schwindel hat ihn erfasst, und er kämpft dagegen an. Nein, das wäre nicht angebracht, so knapp vor dem Abgang noch zu kollabieren.

Die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht vermag ihn nicht zu beruhigen. Es drückt ziemlich unmissverständlich aus, dass er sich wegen seines zu niedrigen Blutdrucks keine Sorgen mehr machen muss, wie auch wegen sonst nichts mehr. Sie haben viel geredet miteinander in den letzten Tagen. Da lernt man, die Kommentare im Gesicht des anderen zu lesen.

„Na schön. Dann tu halt, was du tun musst.“

Wieder dieses Lächeln.

„Nein, mein Freund. So schnell sind wir nicht fertig miteinander. Ein wenig wirst du dich schon noch gedulden müssen.“

Sein Blick fällt auf die Hausschuhe neben dem Bett. Die beiden Filzpantoffel stehen wieder einmal verkehrt nebeneinander, aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Allenfalls wird sich später ein ermittelnder Kollege darüber den Kopf zerbrechen. Ob die ungewöhnliche Stellung der Pantoffeln womöglich etwas über den Tathergang aussage, oder ob es sich gar um eine letzte verschlüsselte Botschaft des Opfers handle.

Schwachsinn!, denkt er. Wie schwer es mir fällt, meine Situation als dramatisch anzunehmen, obwohl sie es zweifellos ist. Ist das vielleicht dieselbe Art von Sehnsucht wie bei meinem Bruder, ein dunkler Drang nach drüben? Erwarte ich mir so etwas wie die Erlösung von der Banalität alles Irdischen? Aber wird es denn danach wirklich weniger banal? Die Worte des Vaters auf der Intensivstation kommen ihm in den Sinn, an ihn gerichtet in einem der seltenen intimen Augenblicke, die er mit seinem Erzeuger teilte:

„I säg dr eppas, des hon i sus no niamand gset: I glob nix vo dem Käs, Tone, gär nix vo dem, was do no ko söll. A koan Gott und o a koan Tüfel.“

Das hatte der Alte ihm noch mitgeben wollen, dass er an nichts von all dem glaube, was nach dem Tod kommen solle, weder an Gott noch an den Teufel, und seine tief liegenden Augen hatten darum gebeten, diese Worte für sich zu behalten. Ein Wunsch, den Hagen natürlich erfüllte. Allerdings, wenn er ehrlich ist, arg beschäftigt hat er sich mit Vaters Einsichten zwischenzeitlich auch nicht. Dass sie ihm gerade jetzt wieder einfallen müssen …

„Also schön. Dann reden wir halt. Wenn es dir hilft.“

Es ist nicht das erste Mal, dass er diesen Spruch verwendet. Vor allem gegenüber Lisa hat er damit geglänzt. Zumeist, wenn sie ihn darum bat, endlich ihr komisches Verhältnis zu klären. Er ist nie ein großer Redner gewesen. Außer bei Verhören, aber das ist ein anderer Kanal. Ein öffentlich-rechtlicher gewissermaßen, kein peinlich privater. Mehr noch als das Reden ist das Reden-Lassen ein Teil seiner Arbeit. Es gibt nur wenige Verbrecher, die im Verlauf von tagelangen Verhören nicht zu dem Punkt gelangen, wo sie sich mitteilen wollen. Müssen! Und wenn es nur ein Polizist ist, der ihnen zuhört. Hauptsache, irgendeiner beschäftigt sich mit ihrem vertrackten Innenleben.

„Wenn es dir hilft!“, äfft sie ihn nach. „Hat schon viel gelernt von den Ärzten hier, unser Amateurpsychiater! Aber wer sagt dir, dass ich mit dir reden will?“

„Was willst du dann?“

Sie sieht durch ihn hindurch, als ob er nicht im Raum wäre. Er hat noch keinen Menschen kennengelernt, der das besser beherrscht hätte als sie. Es ist nicht jener Blick ins Leere, der einem mitunter beim Nachdenken hilft; nein, es ist die kalte Verneinung des Gegenübers. Ein Leugnen seiner Existenz. Oder zumindest seiner Existenzberechtigung.

„Abwarten“, sagt sie und nimmt auf seiner...